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"Sie sagen ja jetzt..." - Teil 4
"Kaum hat man was, haben es alle"
Von Ulla Lessmann

Irgendwas hat man ja immer. Und kaum hat man was, haben es alle und es ist eine Volkskrankheit. Nichts hat man mal für sich alleine und ist dann was Besonderes.

Kaum wache ich mal auf, und es piekst so komisch in der Seite, steht es schon in der Apothekerseite, dass mindestens 3 Millionen Deutsche mit höchster Dunkelziffer dieses komische Pieksen in der Seite haben und nicht darüber sprechen, weil sie vor sich hin leiden und niemand sie ernst nimmt, und auch die Ärzte sich nie die Zeit nehmen, ausführlich über dieses komische Pieksen in der Seite zu sprechen und den ganzen Menschen einzubeziehen, und 3 Millionen mit höchster Dunkelziffer ein riesiger volkswirtschaftlicher Schaden sind, weil sie ständig krank geschrieben werden mit diesem Pieksen, und dabei gibt es höchst wirksame alternative Heilungsmethoden, wenn die Symptome ernst genommen würden.

Und dann gehe ich mit meinem Pieksen erstmal nicht zum Arzt, weil die ja sowieso keine Zeit haben und man sie nicht dauernd mit seinen 10 EUR belästigen soll und Fachärzte für dieses Pieksen gibt es noch gar nicht, obwohl sich, wie meine Apothekerzeitung sagt, einige inzwischen darauf spezialisieren, die findet man aber nicht, und man soll auch nicht gleich zum Facharzt rennen, sondern immer erst zum Hausarzt, der aber keine Zeit hat und nicht spezialisiert ist, und dann erzähle ich das meiner Cousine, und die sagt natürlich prompt, dass jeder heutzutage diess Pieksen hat, und sie hat das schon seit zwanzig Jahren, aber sie spricht nicht darüber, weil man sich nicht immer so aufspielen soll mit seinen Wehwehchen, und kaum gucke ich mal Fernsehen, haben sie ein Special über das morgendliche Pieksen in der Seite, dass das völlig unterschätzt wird und ein riesiges verschwiegenes Problem ist und erst seit einigen Jahren in seiner Bedeutung erkannt wird, und dass die Bundesregierung sich weigert, endlich effektive Programme zur Bekämpfung des Pieksens aufzulegen.

Ulla Lessmann
Ulla Lessmann
Foto: www.nrw-autoren-im-netz.de


Gestern war`s wieder weg, und heute morgen hatte ich dieses merkwürdige Drücken im linken Fuss und dachte, so, jetzt hat es dich erwischt, jetzt hast du eine seltene Krankheit, die überhaupt noch nicht erforscht ist und keine Volkskrankheit und ohne Dunkelziffer und volkswirtschaftlichen Schaden, und kein Schwein wird dieses Drücken ernst nehmen, und dann kannst du sehen, wo du bleibst, und dann erzähle ich es doch meiner Nachbarin, weil man ja nicht alleine bleiben soll mit seinen Sorgen und sich mitteilen muß, und da sagt sie, dass ihre Schwägerin seit zwölf Jahren mit diesem Drücken im linken Fuß aufwacht, und kein Arzt kann ihr helfen, und sie rennt von Pontius zu Pilatus und sie nimmt es jetzt so hin, dass das eine ganz unentdeckte und unerforschte Krankheit ist und sie hat immer was zu erzählen, und es hat niemand sonst.

Nun habe ich das auch und wir haben verabredet, dass sie beim nächsten Adventskaffee mal ihre Schwägerin einlädt, damit wir uns über dieses Drücken austauschen können, aber ich fürchte, bis dahin ist es wieder vorbei, denn immer, wenn ich mal was wirklich Interessantes habe, ist es entweder gleich wieder vorbei, bevor man sich richtig drin einrichten kann oder es hat sowieso jeder.

Ulla Lessman wurde 1952 in Bremerhaven geboren, lebt seit 1964 in Köln, ist Journalistin, Diplom-Volkswirtin und Schriftstellerin. Sie war langjährige Chefredakteurin des "Sozialdemokrat Magazin" und des "Vorwärts" in Bonn, ist seit 1995 freie Autorin für Zeitschriften und Hörfunk und hat mehr als 100 literarische Veröffentlichungen in Printmedien, Hörfunk und Internet ("Hier schreit nur einer", Gerichtsreportagen, www.internet-editionen.de) geschrieben. Zahlreiche Preise, unter anderem den Sonderpreis des "Emma"-Journalistinnenpreises für Glossen und den Förderpreis für satirische Literatur der Stadt Herne. Ulla Lessmann ist Mitglied im VS.


Online-Flyer Nr. 31  vom 14.02.2006



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