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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Arbeit und Soziales
Die Täter sind noch unter uns
Das Hartz-IV-Tribunal
Von Hans-Dieter Hey

Ein Tribunal in Frankfurt vom Januar diesen Jahres darf auf keinen Fall in der Versenkung verschwinden: Eine öffentliche „Gerichtsverhandlung“ gegen diejenigen, die in Politik und Wirtschaft das sozialpolitische Verbrechen „Hartz-IV“ zu verantworten hatten und nach wie vor haben – mit weitreichenden negativen Folgen für die demokratische Gesellschaft. Doch die Täter sind noch nicht bestraft, sondern wollen sogar im nächsten Jahr wiedergewählt werden. Ein Ausschnitt aus dem Film "Hartz-IV-Tribunal" kann am Endes des Artikels herunter geladen werden.

In den Punkten der Anklage schuldig

Das Tribunal befand vor allem die politischen Haupttäter schuldig, dazu zählen Josef Fischer stellvertretend für die Grünen, Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Wolfgang Clement, Olaf Scholz und Peer Steinbrück für die SPD. Gerhard Schröder wurde vom neoliberalen Vorkämpfer und Bundespräsidenten Horst Köhler noch als „herausragende Gestalt der Reformpolitik“ bezeichnet. Und was gelegentlich vergessen wird: Zu den Haupttätern zählte auch die CDU, weil sie nicht nur dem Gesetz zugestimmt, sondern über den Vermittlungsausschuss noch Verschärfungen gegen Erwerbslose durchgesetzt hatte. Das tut sie übrigens bis heute durch Kanzlerin Angela Merkel. Vor allem war auch Roland Koch als Geburtshelfer von Hartz-IV auf die Anklagebank. Mit seinem Modell in Hessen wolle er beweisen, dass „die Gesellschaft auch ohne das Soziale machbar“ sei, so die Junge Welt am 27.


Quelle: DGB

Neben weiteren zahlreichen Tätern wie Peter Hartz und Florian Gerster standen auch Wissenschaftler des neoliberalen Mainstreams auf der Anklagebank wie zum Beispiel Bert Rürup, Meinhard Miegel oder Hans-Werner Sinn, nach deren Auffassung der Hartz-IV-Regelsatz noch um 50 Prozent hätte gesenkt werden müssen. Ebenso sassen auf der Anklagebank Mittäter, die in den Arbeitslosen-Verwaltungen die Hartz-IV-Gesetze durchgesetzt haben und weiter durchsetzen sowie Wohlfahrtsverbände und Kirchen, die vor allem von Hungerlöhnen und Ein-Euro-Jobbern profitieren. Im Sinne der Anklage des Tribunals galten sie alle als schuldig.

Falls Sie es schon vergessen haben sollten: Ziel von Hartz IV war und ist nicht nur ein gigantisches Lohnkürzungs- und Existenzminimierungsprogramm, dass ein Gutachter des Tribunals, Prof. Michael Wolf von der Fachhochschule Koblenz, als „Hungerpeitsche zur Arbeit“ bezeichnet hatte. Es war vor allem ein massiver Angriff auf unsere Demokratie mit bisher irreparablen Schäden. Denn Politik wird seit Jahren nicht durch den Willen des Souveräns und seine gewählten Vertreter bestimmt, sondern durch eine inzwischen unbeherrschbare Wirtschafts- und Finanzklasse. Im Sinne des Tribunals käme gewissermaßen strafverschärfend hinzu, dass die Politik diese Entwicklungen gekannt haben musste und somit billigend in Kauf genommen hatte. Genau deshalb wurde die politische Vorarbeit auf Kommissionen, an Institute wie z.B. der Bertelsmann-Stiftung, sogenannten Sachverständige, Beiräte oder Beauftragte übertragen, um sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen.
 
Demokratie entmachtet

Der ehemalige Bundesbank-Präsident Hans Tietmeyer hatte bereits auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos 1996 vor dieser Abhängigkeit gewarnt: „Die meisten Politiker sind sich immer noch nicht darüber im klaren, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden.“ Und am 18.09.2000 durfte der ehemalige Sprecher der Deutschen Bank, Rolf E. Breuer, in der als renommiert geltenden Zeitschrift „Die Zeit“ zufrieden schreiben: „Wenn man so will, haben die Finanzmärkte quasi als ‚fünfte Gewalt’ neben den Medien eine wichtige Wächterrolle übernommen. Wenn die Politik im 21. Jahrhundert in diesem Sinn im Schlepptau der Finanzmärkte stünde, wäre dies vielleicht so schlecht nicht.“ Heute wird diese Diktatur des Kapitals an den desaströsen materiellen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise für die Meisten spürbar. Die zahlreichen Verstöße gegen Grundrechte und das Völkerrecht ebenso. Bisher allerdings bleibt das folgenlos für die politisch Verantwortlichen.


„Ethikprofessor" Hengstbach
Quelle: „Hartz-IV-Tribunal"
Rolf E. Breuer ließ auch gleich einen weiteren Schuldigen erkennen: die Medien. Die Mainstream-Medien von ARD bis ZDF – von den „Privaten“ ganz zu schweigen – hätten das gesamte Verarmungs- und Entdemokratisierungssystem Tag für Tag als sogenannte „Sachzwänge“ in die Köpfe der Menschen getrieben. Diese Glaubenssätze und Denkmuster sind bis heute in den Köpfen vieler offenbar unauslöschbar vorhanden. Die Globalisierungsgegnerin und Schriftstellerin Arundhati Roy brachte es schon auf dem 4. Weltsozialforum 2004 in Mumbai auf den Punkt: „Es ist wichtig zu verstehen, dass Medienkonzerne nicht lediglich das neoliberale Projekt unterstützen. Sie sind das neoliberale Projekt.“ Ähnlich sieht dies auch der Wirtschaftsethiker Prof. em. Friedhelm Hengstbach, der als Sachverständiger zum Tribunal geladen war: „Die politische Klasse hat sich nicht nur die wirtschaftliche und mediale Propaganda zueigen gemacht, sie hat auch vorsätzlich oder zumindest fahrlässig mir ihren sozial- und arbeitsmarktpolitischen Gesetzen einer  Deformation der Solidarität zugestimmt.“ Die Agenda-Parteien stünden „am Rande oder jenseits der Verfassung".

Mit Generalstreik wieder zur Demokratie?

Als strafverschärfend könnte noch ergänzt werden, dass die Angeklagten offenbar bis heute weder geständig noch einsichtig sind. Ungeachtet der Realität verkünden sowohl die SPD als auch die CDU durch Bundeskanzlerin Angela Merkel erneut den Unsinn von der Vollbeschäftigung. Dieser Mythos ist offenbar in unserer Gesellschaft nicht auszurotten. Also noch mal zum Mitschreiben für alle, die es immer noch nicht begreifen wollen: In einer kapitalistisch bestimmten Gesellschaft kann es nur soviel Beschäftigung geben, wie unter Rentabilitäts- bzw. Profitgesichtspunkten der Unternehmen notwendig ist. Vollbeschäftigung ist in der gegenwärtigen Lage eben nur bei voller Lohnenthaltung möglich (Lesen Sie dazu auch unseren Artikel „Brot und Tittytainment für den Rest“ von Jens Berger). Die „Hungerpeitsche“ wird weiter politisch benutzt werden.

So gut dieses Tribunal durch Angela Beier vom DGB Hessen-Thüringen, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Hessen und das Netzwerk Hessischer Erwerbsloseninitiativen auch durchgeführt und wissenschaftlich begleitet wurde, war es dennoch „nur“ ein Forum für die Betroffenen, sich im brav institutionalisierten Rahmen zu artikulieren. Es ist ein bisschen wie im Karneval, wo Frustrierte folgenlos ihre Kritik an den Verhältnissen äußern dürfen. Doch solange es nicht gelingt, die dringend notwendige demokratische und soziale Erneuerung – und dies sei auch an die Adresse der Gewerkschaften gerichtet – als massenhaften Protest oder Generalstreiks auf die Straße zu tragen, wird es weitergehen, wie bisher. Die Verschlechterungen bei Hartz-IV ab 2009 werden Zeugnis dafür ablegen. (HDH)

Filmproduktion: DGB Hessen-Thüringen
Buch / Regie: Angelika Beier, Kristian Fröhlich, Karola Stötzel, Kamera: Adam Zalesski, Kristian Fröhlich, Schnitt: Kristian Fröhlich
Länge: 47 min. Der Film kann zum Preis von 10 Euro plus 2 Euro Versandkosten bei artstuff bestellt werden.


Hier können Sie einen achtminütigen Ausschnitt aus dem
Film "Hartz-IV-Tribunal! Film ansehen und herunter laden:
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Online-Flyer Nr. 177  vom 17.12.2008



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