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Literatur
Die Weinachtsgeschichte für 2008
„Liebe schenken!“
Von Christian Heinrici

Jedes Jahr bin ich eigentlich froh, wenn Weihnachten wieder vorbei ist – also vor allen Dingen die Vorweihnachtszeit. Irgendwie ist der Dezember der schrecklichste Monat im Jahr, es ist kalt, und wenn’s nicht kalt ist, dann ist es nass. Es ist dunkel und wird immer dunkler: wenigstens bis zur der Nacht, „in der das Licht geboren wird“. Die Straßen sind auch dunkel, bis auf die, die von leuchtenden Engeln, Sternen und Kometen, unendlichen Lichterketten und überdimensionierten Weihnachtbäumen erhellt werden: die Einkaufstraßen.

Weihnachtlich beleuchteter Konsumtempel kadewe Foto: daggerbloggtweiter
Weihnachtliche Lichter-Romantik in Berlin | Foto: daggerbloggtweiter

Und durch eben eine solche ging ich gerade, nicht weil es mir an Licht in der dunklen Jahreszeit fehlte, sondern, weil ich – wie immer – noch am 23. Dezember die letzten Weihnachtsgeschenke besorgen musste. Das ist wohl auch der Moment, an dem sich die Adventszeit quasi kurz vor dem Orgasmus befindet: Menschen mit bleichen Gesichtern aber roten, tropfenden Nasen hetzen durch die Straßen, rempeln und raunzen sich an und bahnen sich schwerbepackt mit großen Kartons voller Computer-Spielkonsolen, riesiger Parfüm-Flakons und Plastikweihnachtsbäumen eine Schneise durch die Menge ihrer „lieben Nächsten“. So auch ich.

Santa Claus Weihnachtsmann Coca-Cola Reklame 50er
Der Brausekonzern prägt seit Jahrzehnten
das Bild des „Weihnachtsmannes“
Nichts besonderes eigentlich, ich sag es ja, alles so wie jedes Jahr. Aber dann sah ich ihn: den Weihnachtsmann. Er stand, wie frisch einer Coca-Cola-Reklame entschlüpft vor einem großen Konsumtempel, hatte eine schwere Glocke in der Hand und rief in wunderbarem Neuhochdeutsch: „Ho, ho, ho! Ist Weihnachtszeit – und das heißt: Liebe schenken!“ – geschickt das Adventsmotto des besagten Kaufhauses aufgreifend.


Ich wollte schon weitergehen, als die Szene in Bewegung geriet: „Wollt ihr endlich abhauen?!“, rief der Weihnachtsmann gerade wütend. Oh, dachte ich mir, das sind aber ganz andere Töne... Drei Jugendliche standen um ihn herum: „Ho, ho, ho“, rief der eine ironisch. „Schenkst du mir auch ein bisschen Liebe?!“, der andere und machte ein paar obszöne Gesten dazu. Und der dritte schoss kleine Papierkügelchen durch ein Blasrohr auf den verärgerten Mann im Nikolauskostüm. Das war entschieden zu viel, fand ich auch, nahm meinen ganzen Weihnachtsfrust zusammen und trat dem mit dem Blasrohr kräftig in den Hintern. „Verpisst euch!“, zischte ich böse – und als ob ich eine Neuauflage von Knecht Ruprecht wäre: es wirkte.

„Arschlöcher...!“, grummelte der Weihnachtsmann halb hinter ihnen her und halb erklärend zu mir. Ich hob, wohl gleichzeitig belustigt und erleichtert eine Augenbraue, grinste verschmitzt und steckte mir eine Zigarette an.

der Weihnachtsmann auf Hartz-IV Foto: Christian Heinrici
So sah der „Weihnachtsmann“ nicht aus,       
aber auf der Straße landet man leicht
Foto: Christian Heinrici
„Glotz mich nicht so blöd an! Ich stehe nicht freiwillig hier – ich bin auf Hartz-IV!“, sagte der Weihnachtsmann, als handele es sich dabei um irgendein Methadon- oder Drogenersatzprogramm. Und gleich danach: „Gibst du mir auch eine Kippe?“ Ich schluckte und entschied das „Glotz mich nicht so blöd an!“ nicht persönlich zu nehmen und die Kippe als ein Gesprächsangebot.

„Ich rauche eigentlich gar nicht“, sagte er schon ein wenig sanfter und rückte seinen verrutschten ausgestopften Bauch zurecht, „das kann ich mir nicht leisten...“
„Hm...“, machte ich und fragte: „Ist das ein Ein-Euro-Job?“
„Klar,“, sagte er „angeblich ne soziale Sache, Brauchtumspflege oder so... Ich hab gleich sowieso Pause, alle drei Stunden ne Viertelstunde, dann kann ich was essen und so...“ Er deutete auf die Betonpfeiler vor dem Geschäft – ich stellte meine Geschenktüten ab, wir setzten uns.

„Ich heiße Klaus“, sagte er. Na, wie sonst, dachte ich: „Christian, angenehm!“
„Eigentlich hab ich meine Lehre bei der Post gemacht...“, erzählte er: „Aber dann kam die Privatisierung, Stellenstreichungen, und ich musste dran glauben... Und ich frage dich, wo kriegst du denn noch anders eine Stelle her als gelernter Briefträger?!“
„Keine Ahnung...“
„Ich habs sogar mit Prospekte austragen versucht. Aber, weißt du, ständig macht keiner auf, und wenn du Werbung durch die Sprechanlage rufst, wirst du blöd angemacht. Und dann haben sie die Rumänen genommen, die waren einfach schneller... und billiger!“

„Dann wollte ich mich eigentlich umbringen...“ erklärte Klaus und zog den falschen Rauschebart ab, damit er besser rauchen konnte:
„Aber kurz danach hab ich dann erfahren, dass meine Freundin schwanger war... Dann bin ich natürlich erstmal leben geblieben. Jenny kam dann kurz nach Weihnachten, am 26. Ein richtiger Weihnachtsengel, aber die beiden haben sich nicht verstanden, also Melanie und Jenny. Melanie hatte so ihre Probleme nach der Schwangerschaft, also psychisch, weißt du?“ der Weihnachtsmann nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette: „Sie kam damit nicht klar, und ein Jahr später hat sie mich verlassen, wegen nem anderen. Ich habs bis heute nicht richtig verstanden...“

„Mist!“, sagte ich aufmunternd.
„Ich stand dann erst mal alleine da, also mit Jenny“, erzählte Klaus weiter: „Als sie klein war, haben sie mich noch in Ruhe gelassen, die vom Amt. Ich hab dann ein paar Gelegenheitsjobs gemacht, Möbel schleppen, Gebäude entkernen, manchmal sogar Messebau. Aber jetzt, wo Jenny zur Schule geht... da bin ich dran, bis nachmittags muss ich arbeiten, jetzt in der Weihnachtszeit sogar ein paar Mal ganztags... Das ist schon Scheiße, sag ich dir! Und denk nicht, dass das mit der Übermittagsbetreuung irgendwie klappt. Zwei Tage die Woche ist Jenny bei einer Freundin, einen Tag holt Oma sie ab, und abends sind wir meistens beide kaputt...“

Im Hintergrund tönte „I’m dreaming of a white Christmas“ aus den Lautsprechern des Konsumtempels. „Was macht ihr denn Weihnachten?“ fragte ich, vielleicht durch die Musik inspiriert.
„Am zweiten Feiertag gehen wir zur Oma, da gibt’s dann auch Geschenke. Am liebsten würd' ich auf den ganzen Scheiß verzichten...“, sagte "der Weihnachtsmann“: „Aber das geht ja nun mal nicht... Jenny wünscht sich ein Pony, bei dem man die Haare kämmen kann. Na, die Mädels eben... Vielleicht gehen wir auch ins Kino, so wie letztes Jahr. Ich weiß nicht, ich muss noch ein paar Kröten zusammenkratzen, und vielleicht lass ich mal eine Rate für den Fernseher sausen...“

„Hm“, und jetzt nahm ich einen tiefen Zug an der Zigarette: „Ihr könntet natürlich auch mal wieder wegfahren...“, sagte ich und biss mir gleichzeitig auf die Zunge. Das werden sie sich wohl nicht leisten können und versuchte die Situation zu retten: „Weißt du, vielleicht ist euer Werbeslogan Liebe schenken doch gar nicht so falsch...“ Ich erinnerte mich an Weihnachten früher zu Hause, das Vorlesen der Weihnachtsgeschichte. An den Inhalt kann ich mich gar nicht mehr erinnern, aber wie es für uns alle war, beim Kerzenschein zusammen zu sitzen.

„Ich muss jetzt langsam... noch ein paar Sachen besorgen...“, sagte ich mit einem Seufzer, schaute etwas hastig auf die Uhr und klopfte dem Weihnachtsmann auf die Schulter: „Danke, Klaus, und vielleicht bis nächstes Jahr...!“

Dann war ich auch schon wieder in dem Gewühl der Einkaufsstraße verschwunden. Ich hörte noch jemanden hinter mir herrufen und beschleunigte meinen Schritt. Ich hatte die Taschen mit den Geschenken an dem Betonpfeiler stehen gelassen – aber die Umtauschquittungen waren mit drin. Frohe Weihnachten, dachte ich mir.

Das Startbild von „Space Potato“ zeigt, dass wohl auch der Weihnachtsmann den Gürtel enger schnallen muss... (CH)

Online-Flyer Nr. 178  vom 24.12.2008



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