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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Wir werden alles selber machen müssen (2)
„Zeit des Zorns“
Von Jutta Ditfurth

"Der Kapitalismus ist schon im Normalzustand eine Katastrophe für Mensch und Natur. Es gibt ihn nicht ohne Profit und nicht ohne Ausbeutung“, hieß es - gestützt auf  Karl Marx - in unserer Rezension von Jutta Ditfurths Streitschrift “Zeit des Zorns“ (s. NRhZ Nr. 199). Inzwischen sind wir weit über den Normalzustand hinaus. Jammern hilft da aber nicht. Es gibt viel zu tun. Was und wie? Einige Antworten gibt Jutta Ditfurth im letzten Kapitel mit der Überschrift “Wir werden alles selber machen müssen“, mit dessen Veröffentlichung wir hier beginnen. Sie will den Zorn, den die Krise auslöst, zu neuen Bündnissen nützen. - Die Redaktion

Herbert Marcuse: „Ein ›Naturrecht‹ auf 
Widerstand“
Quelle: www.marcuse.org
Unter dem Druck der Krise soll sich der legitime Anspruch aller Lohnabhängigen auf gesündere Arbeitsplätze in giftigem Rauch auflösen. Wer um seinen Arbeitsplatz fürchtet, lässt sich vieles bieten. Bilder des 19. Jahrhunderts kehren zurück in die heutige soziale Realität. Marx beschrieb die Lage des Arbeiters so: »Alle Sinnesorgane werden gleichmäßig verletzt durch die künstlich gesteigerte Temperatur, die mit Abfällen des Rohmaterials geschwängerte Atmosphäre, den betäubenden Lärm usw., abgesehen von der Lebensgefahr unter dicht gehäufter Maschinerie, die mit der Regelmäßigkeit der Jahreszeiten ihre industriellen Schlachtbulletins produziert. […] Die Ökonomisierung der gesellschaftlichen Produktionsmittel, erst im Fabriksystem treibhausmäßig gereift, wird in der Hand des Kapitals zugleich zum systematischen Raub an den Lebensbedingungen des Arbeiters während der Arbeit, an Raum, Luft, Licht, und an persönlichen Schutzmitteln wider lebensgefährliche oder gesundheitswidrige Umstände des Produktionsprozesses, von Vorrichtungen zur Bequemlichkeit des Arbeiters gar nicht zu sprechen.«(300)
 
Und die vor Jahren so verwirklichbar erscheinende Forderung nach Arbeitszeitverkürzung? Die Hoffnung der abhängig Arbeitenden, dass sie endlich vom ungeheuren Zuwachs an Produktivität für ihre freie Zeit profitieren? Wurde auf unbestimmt verschoben. Eine Weltwirtschaftskrise hat mächtig viele Vorteile für das Kapital, jedenfalls für den Teil, der die Krise überstehen wird.
 
Wie wird man mit den Menschen umgehen, die ihren Abstieg in Hunger und Diskriminierung nicht ertragen? Viele werden ausrasten. Sich in den Alkohol flüchten. Auf irgendwelche Sachbearbeiter in Behörden draufhauen. Sich selbst zerstören. Staat und Justiz werden darauf mit Repression und Wegschließen antworten, am besten gleich für immer, in Heime, Psychiatrien und Knäste. Nicht umsonst breitet sich heute in der Heimerziehung die schwarze Pädagogik von gestern wieder aus, und die aus der NS-Zeit stammende Sicherheitsverwahrung bis ans Lebensende ist die Antwort einer inhumanen Gesellschaft. Die soziale Ordnung einer permanent mit Repressionen drohenden Gesellschaft ist eine Gefängnisordnung.
 
In Deutschland muss man auch mit einem weiteren Rechtsruck rechnen. Den misst man nicht, wie fälschlicherweise oft getan, allein am Anteil faschistischer und rechtsextremer Parteien, sondern am Abdriften der bürgerlichen Parteien nach rechts. Sofern es nicht bald wieder eine starke Linke gibt (hilfreich und angenehm wäre zusätzlich ein aufgeklärtes, an der sozialen Frage interessiertes Bürgertum), bleibt die Gefahr groß, dass sich rechtsextreme und faschistische Kräfte ausbreiten. Das müssen nicht unbedingt allein Schläger mit stahlkappenbewehrten Stiefeln sein. Es gibt sie auch in der österreichischen oder italienischen Variante, sonnenbankgebräunt und im Maßanzug oder, etwas blasser meist, als deutsche Rechtsintellektuelle.
 

Fritz Bauer: „Gegen den Unrechtsstaat“  
Quelle: www.fritz-bauer-institut.de
Also, was tun? In Deutschland hat radikaldemokratischer und linker Widerstand keine besonders erfolgreiche Tradition. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dem wir es verdanken, dass es die Auschwitz-Prozesse (1963–1965) gegeben hat, hat kurz vor seinem Tod im Juli 1968 darauf hingewiesen, dass ein ureigenes Widerstandsrecht des Menschen existiert, das sich gegen den Staat und die Obrigkeit richtet. Mit den Notstandsgesetzen war im Mai 1968 das Grundgesetz zum 17. Mal geändert worden, gegen die neue Notstandsverfassung hatten Linke und Radikaldemokraten zehn Jahre lang protestiert, eine der Ersten hieß 1960 Ulrike Meinhof. Scheinbar um ihnen entgegenzukommen, ist in den Artikel 20 des Grundgesetzes ein vierter Absatz aufgenommen worden: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.«
 
Bauer schloss sich ausdrücklich den Kritikern an, die diesen Passus eine »Perversion des Widerstandsrechts« nannten. Bauer: »Das Recht zum Ungehorsam und das Recht zum Widerstand […] sind historisch überlieferte Institutionen, deren Inhalt nicht beliebig umfunktionalisiert werden kann.« Die Notstandsgesetzgebung aber erfasse nicht nur den »Staatsstreich von oben, sondern auch den durch revolutionäre Kräfte aus dem nichtstaatlichen Bereich unternommenen Putsch von unten. Dieses ist mit dem Begriff eines Widerstandsrechts, wie er sich durch Jahrhunderte und Jahrtausende gebildet hat, schlechthin unvereinbar.« Fritz Bauer weiter: »Das Widerstandsrecht – wenn das Wort überhaupt einen Sinn haben soll – kann sich nur gegen den ungerechten Staat, den Unrechtsstaat, die Tyrannis, richten; nie hat das Wort einen anderen Sinn besessen. Der Staat selbst braucht kein Widerstandsrecht. Seine Beamten, seine Offiziere und Soldaten haben Machtmittel genug.«(301)
 
Für Bauer war der Kontrast zwischen Deutschland und Frankreich augenfällig: »Frankreich hatte seine Revolution. Es bekannte sich zu den Menschenrechten. Hierzu wurde sofort das Recht auf résistance gezählt. Anders in Deutschland. Die deutschen Philosophen machten im Kielwasser des autoritären Staates dem Widerstandsrecht der Jahrtausende den Garaus.« Bauer zitierte Kant, der dem Untertan kein bisschen Widerstand erlaubt, was auch immer der Staat verbricht, um den Menschen unglücklich zu machen. »Die Worte Kants, denen ganz ähnliche Hegels, auch […] Treitschkes und vieler anderer entsprechen, sind das Spiegelbild der sozialen Realität in Deutschland.«(302)
 
Um diese fatale Tradition in der Bundesrepublik zu durchbrechen, mussten nach 1945 Karl Marx, Friedrich Engels und Rosa Luxemburg wiederentdeckt werden, musste die Frankfurter Schule mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer nach der Befreiung vom NS-Faschismus aus dem Exil zurückkehren und einer der ihren, Herbert Marcuse(303), auf die junge westdeutsche Linke einwirken. Ein emigrierter deutscher Jude, vor seinen deutschen Mördern geflohen, dessen Bücher 30 Jahre nach seiner Flucht gelesen wurden und der das Recht auf »résistance« nach Deutschland zurückbrachte. So zerstört hat sich Deutschland in der Nazizeit, und über die Spuren stolpern wir noch immer.
 
Marcuse sprach von »politischen Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen […], die nicht toleriert werden sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören. Diese Art von Toleranz stärkt die Tyrannei der Mehrheit.«(304) Und: »Ich glaube, dass es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ›Naturrecht‹ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben […] Es gibt keinen anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte.«(305) Fritz Bauer kommentierte diese Passage: »Das ist ganz in Übereinstimmung mit dem, was Gemeingut der Rechtsgeschichte ist.«(306) (PK)
 
Anmerkungen
 
(300) Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band (1867), MEW, Band 23, Berlin (DDR): Dietz Verlag 1988 (17. Aufl.), S. 448/449
(301) Fritz Bauer: »Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart«, Vortrag in der Vortragsreihe der Humanistischen Union »Evolution oder Revolution?« in der Münchener Universität am 21.6.1968, letzter veröffentlichter Text des hessischen Generalstaatsanwalts und Vorstandsmitglieds der Humanistischen Union, in: vorgänge Nr. 8–9/1968, S. 286–292
(302) Ebd.
(303) Herbert Marcuse kam im Juli 1967 auf Einladung des SDS für die viertägige Vorlesung »Das Ende der Utopie« nach Westberlin. Kurz zuvor war der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden. Vgl. Herbert Marcuse: Das Ende der Utopie. Herbert Marcuse diskutiert mit Studenten und Professoren Westberlins an der Freien Universität Berlin über die Möglichkeiten und Chancen einer politischen Opposition in den Metropolen in Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt, Berlin: Verlag v. Maikowski 1967
Marcuse war damals Professor an der University of California, San Diego, in La Jolla/Kalifornien und bis dahin in Deutschland weitgehend unbekannt. Er stammte aus einer großbürgerlichen jüdischen Berliner Familie, wurde 1918 Mitglied eines revolutionären Soldatenrats in Berlin-Reinickendorf, aus dem er austrat, »als man anfing, die früheren Offiziere ohne weiteres hineinzuwählen. Dann habe ich die Niederlage der Revolution in Berlin erlebt, teils war es Verrat, teils Niederschlagung.« 1933 gründete Marcuse gemeinsam mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Noch im selben Jahr floh er in die Schweiz, 1934 in die USA. Erst etwa 30 Jahre nach seiner Flucht wurden seine Bücher in Deutschland gelesen. Vgl. Jutta Ditfurth: Rudi und Ulrike. Geschichte einer Freundschaft, München: Droemer 2008, Kapitel 2, 6 und 10
(304) Herbert Marcuse: »Repressive Toleranz«, in: Robert Paul Wolff/Barrington Moore/Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz (dt. Erstausgabe: 1966, US-Originalausgabe 1964), Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1970, S. 94 (305) Ebd., S. 127 f.(306) Fritz Bauer, ebd.
 
Jutta Ditfurth "Zeit des Zorns - Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft". Droemer Verlag München 2009, 267 Seiten, 16,95 €, ISBN 978-3-426-27504-7.

Jutta Ditfurth, Jahrgang 1951, ist Soziologin, Publizistin und aktiv in der außerparlamentarischen Linken. Sie war Mitbegründerin der Grünen, von 1984 bis 1988 deren Bundesvorsitzende. 1991 trat sie aus wegen deren Marsch nach rechts aus der Partei aus. Dazu ihr Buch “Das waren die Grünen. Abschied von einer Hoffnung“, Econ, München 2000. Lesenswert auch ihr aktuelles Interview in der Monatszeitschrift konkret 6/09.
 
Lesungstermine, soweit bekannt:
 
Mo. 7.9.2009, 19:30 Uhr FRANKFURT/M., Lesung & Diskussion über »Zeit 
des Zorns«, Club Voltaire, Kleine Hochstr. 5, Eintritt: 9 Euro/
ermässigt: 6 Euro/Hartz IV: 1 Euro.
Mi. 7.10.2009, Uhrzeit?, STUTTGART. Anlässlich des 75. Geburtstags 
von Ulrike Meinhof: Lesung & Diskussion zu »Ulrike Meinhof. Die 
Biografie«,Theaterhaus Stuttgart, Siemensstr. 11, 70469 Stuttgart
Mo. 26.10.2009 GIESSEN, Lesung & Diskussion über »Zeit des Zorns. 
Ort: Altes Schloss, Netanya-Saal. Veranstalterin: Die 
Frauenbeauftragte, Magistrat der Stadt Gießen. MitveranstalterInnen: 
ASTA und die Frauenbeauftragte der Justus-Liebig-Universität. 
Eintritt: 10 Euro/ 5 Euro
Do. 19.11.2009, 10:00-16:00 Uhr, Frankfurt/Main, GEW-Seminar zu »ZEIT 
DES ZORNS«. Veranstaltungsort vermutlich: GEW Landesverband Hessen, 
Zimmerweg 12, 60325 Frankfurt am Main, Telefon: 069 / 97 12 93 - 0, 
Fax: 069 / 97 12 93 93. Vorherige Anmeldung notwendig: anmeldung@lea-
bildung.de. Kostenbeitrag für GEW-Mitglieder/Nichtmitglieder. Weitere 
infos: www.lea-bildung.de.
Sa. 28.11.2009, 15:00 Uhr, NÜRNBERG, Lesung & Diskussion über »Zeit 
des Zorns, Linke Literaturmesse Nürnberg,
Di. 8.12.2009, BREMERHAVEN, Lesung und Diskussion über »ZEIT DES 
ZORNS. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft«

Lesungstermine werden laufend ergänzt, siehe: www.jutta-ditfurth.de

Online-Flyer Nr. 203  vom 24.06.2009



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