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Arbeit und Soziales
Sanktionsmoratorium wirbt weiter für sich
Aussetzen der Drangsalierungen
Von Hans-Dieter Hey

Dass Guido Westerwelles geistige Parallelwelt auf neoliberale Heilssprüche begrenzt scheint, wird in kritischen Kreisen allenthalben diskutiert. In seinem letzten zynischen Auswurf forderte er mehr Überwachung, härtere Bestrafungen und mehr Sanktionen gegen Erwerbslose. Er folgt damit offenbar Wolfgang Clement, der diese im Jahr 2005 amtlicherseits als „Parasiten“ bezeichnet und sich damit bedenklich dem faschistoiden Sprachduktus genähert hatte. Erwerbslose fühlen sich seit Jahren durch Hartz-IV verfolgt und gedemütigt und halten mit einem Sanktionsmoratorium dagegen.



Quelle: Sanktionsmoratorium

Entgleisung als Politik


Der erzliberale Guido Westerwelle, selbsternannte Freiheitsstatue fürs Kapital, forderte in der Saarbrücker Zeitung vom 4.9. Korrekturen in der Sozialpolitik: „Es gibt kein Recht auf staatlich bezahlte Faulheit“. Das passt zum skandalösen Wahlplakat der FDP „Arbeit muss sich wieder lohnen“ in Zeiten von 5 Euro Stundenlöhnen und Ein-Euro-Jobs. Seit Einführung von Hartz IV durch die rot-grüne Regierung folgt Westerwelle damit einer bekannten Methode zur Vorbereitung weiterer Sanktionen und Lohnkürzungen, die er mit Angela Merkel fortzusetzen gedenkt. Offenbar passt ihm zur Geißelung Erwerbsloser schon ein Mehr an Staat, dessen Ausweitung er sonst immer ablehnt.

Eine Verbündete findet Westerwelle in Angela Merkel, die bereits auf Kuschelkurs mit der FDP ist: „Wir brauchen nach der Bundestagswahl stabile Verhältnisse”, meinte sie zu Westerwelles Auftritt. Das traut sie einer im Siechtum befindlichen SPD wohl nicht zu. DGB-Chef Michael Sommer konterte sofort: „Die neoliberalen Ideen in der Union kämen sofort wieder auf den Tisch, wenn sie mit Herrn Westerwelle und Herrn Niebel regieren würde.“ Offenbar fehlt Westerwelle die soziale Verantwortung. Der Liberale Burkhard Hirsch meinte zu solchen Entwicklungen einmal: "Eine liberale Gesellschaft ohne soziale Verantwortung ist mörderisch".

Die Verfolgung Erwerbsloser wird also weiter gehen und zunehmen, wenn es nach einer schwarz-gelber Regierung gehen sollte. Erwerbslose wird es nach den Bundestagswahlen deutlich mehr geben. Jetzt wurde bekannt, dass Angela Merkel mit der Wirtschaft eine Regelung getroffen habe, mit Kündigungen bis nach den Wahlen zu warten. Die neu ins soziale Aus Entsorgten werden die nächsten Opfer politischen Verfolgungswahns werden, denn sie sind die Sündenböcke für die desaströse Politik. Ulrich Brand hat das schon vor der Einführung von Hartz IV, am 11. Oktober 2004, in der Frankfurter Rundschau ausgedrückt: „Da die Eliten genau wissen, dass sie mit der Verfolgung neoliberaler Politiken immer mehr Menschen ausschließen und damit die Legitimation verlieren, greifen sie auf repressive Instrumente zurück".


Alte „Traditionen" reloaded...
Plakat: arbeiterfotografie.com

Sanktionen: Strafen ohne Gerichtsverhandlung

Sanktionen sind Strafen ohne Gerichtsverhandlung, die als „sozialrechtliche Maßnahme“ schöngeredet werden. Kein Richter verhängt sie, sondern sie werden mit dem politischen Spardiktat zudem häufig von völlig unzureichend Qualifizierten oder autoritätsangepassten Strebern verhängt, denen ein menschliches Schicksal am Allerwertesten vorbei geht. Zu weiterer Entmündigung, Demütigung und Entrechtung werden als Reaktivierung kaiserlicher „Sozialpolitik“ des 18. Jahrhunderts zunehmend Lebensmittelgutscheine ausgestellt oder die Armenspeisung durch „Tafeln“ empfohlen.

Im Jahr 2008 wurden bundesweit 789.000 Sanktionen verhängt. Die Folgen sind inzwischen für viele verheerend. Widersprüche gegen Hartz-IV-Bescheide haben keine aufschiebende Wirkung, das heißt Menschen müssen selbst nach positivem Gerichtsbeschluss bis zur letzten Entscheidung unter den Sanktionen leiden. Bis zu 65 Prozent der Verfahren vor den Sozialgerichten wurden von Erwerbslosen gewonnen. Trotzdem riskieren sie, nichts mehr zum Leben zu erhalten oder ihre Wohnung zu verlieren. Verhängte Sanktionen werden selbst dann fortgesetzt, wenn Erwerbslose den Forderungen der ARGEn nachkommen. Und selbst wenn Erwerbslose sich in bestimmten Fragen zurecht weigern, werden Sanktionen verhängt – bis hin zur Streichung des gesamte Regelsatzes. Während es für Geldverdiener eine Pfändungsgrenze gibt, kann der Hartz-IV-Regelsatz bis auf „0“ heruntergekürzt werden. Das für sich ist schon ein Skandal!


...und Widerstand heute
Foto: A. Bersch
Sanktionen sollen deshalb auch alle Erwerbsabhängigen einschüchtern und entmutigen, um diese in deutlich verschlechterte Arbeitsbedingungen zu pressen. Damit werden nicht nur die sozialen Standards ausgehöhlt, sondern es findet ein Unterbietungswettbewerb statt, um Tariffreiheit und Arbeitsbedingungen zu untergraben, für die Menschen 150 Jahre gekämpft haben.

Erwerbslosen bleibt nur der politische Widerstand – oft mit dem Mut der Verzweifelung. Sie fordern beispielsweise ein Moratorium gegen die Hartz-Drangsalierungen, das vor einem Monat ins Leben gerufen wurde und auf zahlreiche hochrangige Initiatoren und Unterstützer traf, unter ihnen Günter Grass und Günter Wallraff, viele Wissenschaftler, Juristen, Gewerkschaftler, Kirchenleute, Wohlfahrtsverbände, auch die KEAs aus Köln – mit einigen Bauchschmerzen, weil nach ihnen Sanktionen sofort ganz abgeschafft gehörten – und die Neue Rheinische Zeitung. Unter anderem auch Claudia Roth, deren bündnisgrüne Partei das Hartz-IV-Desaster mit angerichtet hatte.

Gefordert wurde als erste Maßnahme die Aussetzung der Sanktionen: "Die fragwürdige Sanktionspraxis gegen Erwerbslose muss sofort gestoppt werden! Hartz-IV-Sanktionen bedeuten die Kürzung des Lebensnotwendigen. Sie sind unangemessen und entsprechen nicht unserer demokratischen Gesellschaftsform. Um faire Lösungen zu schaffen, ist die Anwendung des § 31 SGB II auszusetzen."

Verurteilung von Sanktionen auch in Köln

Einen ähnlichen Vorstoß nahm bereits der Erwerbslosenausschuss vom ver.di-Bezirk in Köln mit einem Beschluss aus dem Jahr 2007. Dort hieß es: „Das Arbeitslosengeld II (ALG II) soll das soziokulturelle Existenzminimum für Erwerbslose gewährleisten. Der Bezirksvorstand ver.di Köln lehnt Kürzungen des ALG II durch Sanktionen unter das zum Lebensunterhalt Unerlässliche ab. Es ist die Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft, die Menschenwürde umfassend zu schützen und zumindest das Existenzminimum für jede/jeden zu gewährleisten. Die Möglichkeit, die Leistung – trotz Bedürftigkeit – unter das zum Lebensunterhalt Unerlässliche zu kürzen, wird den Erfordernissen der Menschenwürde nicht gerecht.“ Der Beschluss wurde am 19. Juni 2008 vom Bezirksvorstand getragen, verstaubte aber danach offenbar auf höheren gewerkschaftlichen Ebenen.

Sicher kann darüber diskutiert werden, ob die Forderung nach einer generellen Abschaffung der unwürdigen Bestrafungen, zum Beispiel durch eine Petition, zu dieser Zeit sinnvoll ist. Aber Forderungen sind eine Seite, die politische Durchsetzbarkeit eine andere. In einem Leserbrief reagierte Prof. Dr. Stephan Lessenich – Mitinitiator des Moratoriums – nicht ganz zu Unrecht auf einen kritischen Artikel von Edith Bartelmus-Scholich in „scharf links“ vom 1. September: „Aber dieses Ziel per Petition zu einem Zeitpunkt verfolgen zu wollen, zu dem sich soeben ein breites gesellschaftlich-politisches Bündnis zusammengefunden hat, das für eine Aussetzung der Anwendung des Sanktionsregimes streitet, an deren Ende auch die endgültige Abschaffung desselben stehen kann – in der Tat: stehen kann –, ist für meine Begriffe politisch unklug und, angesichts des eingangs benannten Aufwandes, den das Bündnis dorthin gebracht hat, wo es jetzt steht bzw. bisher stand, äußerst bedauerlich.“ Denn innerhalb von zwei Wochen wurde das Moratorium von über 8.000 Unterstützern unterzeichnet.
 
Lessenich weiter: „Im Interesse einer starken gesellschaftlichen Linken, die endlich zu realen politischen Veränderungen führt, plädiere ich für eine Bündelung der Kräfte im Sinne des Sanktionsmoratoriums. Wenn die demokratische Linke sich auf diesem Wege selbst stark macht, dann wird sie auch Fortschritte in der Sozialpolitik und auf anderen Feldern erreichen können, von denen heute noch gar nicht die Rede ist – eine ganz andere Arbeitspolitik eingeschlossen. Ich finde, diese Option sollte nicht gleich wieder in Frage gestellt werden, wo sie gerade mal am Horizont auftaucht.“

Mehr Widerstand gefordert

Es scheint daher eher die weitere Bündelung und Stärkung der Kräfte für das Moratorium notwendig, um das bisher Erreichte zu verteidigen mit der Option, auch weitergehende Veränderungen zu bewirken. Durch die Bundestagswahl am 27. September wäre allerdings eine aktuelle Chance gegeben. Ein Wahlkreuz an der richtigen Stelle könnte den Drangsalierten – und übrigens auch allen Beschäftigten – die Rettung durch einen politischen finalen Rettungsschuss gegen Hartz IV bieten. Voraussetzung wäre, dass alle verstünden, worum es geht.

Man darf nämlich nicht glauben, dass die Waffenkammer des Neoliberalismus, die gegen die Menschen in Stellung gebracht wurde, schon am Ende ist. Der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek warnte am 17. August 2009 in 3Sat und forderte zum Handeln auf: "Wir dürfen nicht einfach im dem Zug der Geschichte mitfahren. Wir müssen die Notbremse ziehen, bevor wir an die Wand fahren. Das müssen wir uns bewusst machen: Es hängt alles von uns ab. Wenn wir die historische Entwicklung einfach so weiter laufen lassen, dann wird es in einer noch nie da gewesenen sozialen und ökologischen Katastrophe enden. Wir müssen endlich handeln, ohne darauf zu hoffen, dass ein 'großer Anderer' oder die Geschichte auf unserer Seite ist. Niemand ist auf unserer Seite." Es wäre noch zu ergänzen: Außer wir selbst. (HDH)

Weitere Infos:



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Online-Flyer Nr. 214  vom 09.09.2009



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