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Globales
Streik gegen Tabak-Heuschrecke in der Türkei
Kämpfen bis zum Letzten
Von Ingrid Jost

Seit Mitte Dezember 2009 streiken 12.000 Beschäftigte des staatlichen türkischen Tabak-Monopolisten Tekel gegen betriebsbedingte Entlassungen als Folge von Privatisierungsorgien. Landesweit sollten bis Ende Januar 40 Lagerhäuser geschlossen werden. Dabei wurden geltende Gesetze und Abkommen der internationalen Arbeitersorganisation ILO missachtet. Die Beschäftigten wurden kaum aufgeklärt und vor vollendete Tatsachen gestellt.




Heuschreckenplage im türkischen Tabak

Mittelbarer Auslöser für den Streik war der Verkauf des türkischen Staatskonzerns für Rauch- und alkoholische Genusswaren, der für 1,72 Milliarden US-Dollar an die British American Tobacco (BAT) verkauft wurde – eine Privatisierung mit kurzfristigen staatlichen Gewinnen, aber langfristigen bitteren Folgen für die Beschäftigten. Eine Arbeiterin aus der Tabakfabrik aus Izmir zornig: “Sie haben uns alle Zuschläge gestrichen und damit den Lohn von 1.800 TL auf 1.200 TL reduziert.“ Wer glaubt, dass es bei den Kürzungen bei Tekel bliebe, sieht sich getäuscht. Die „Heuschrecken“ fallen nicht nur wegen der ohnehin geringen Lohnkosten in der Türkei und damit hoher Gewinnerwartungen in das Land ein, sondern auf diese ohnehin niedrigen Löhne wird noch Druck ausgeübt.

Ob es wie bisher dabei bleibt, dass Frauen und Männer in Abhängigkeit von Ausbildung und Betriebszugehörigkeit gleich viel verdienen, bleibt abzuwarten. Doch die längste Betriebszugehörigkeit schützt nicht vor der Kündigung, klagt eine junge Frau, die gerade ihr Psychologie-Studium beendet hat. Ihr Vater arbeitet bei Tekel seit sie denken kann, hat ihr Studium unterstützt und steht nach über 20 Jahren harter Arbeit vor dem Nichts. Wie die anderen 12.000 Tekel-Beschäftigten, deren Kündigungen bald rechtkräftig werden. Sie fordern mindestens eine Abfindung als „Schutzschirm“, damit sie nicht ungebremst ins Bodenlose fallen. Dafür sind sie bereit, bis zum Letzten zu kämpfen.


„Ölmek var - dönmek yok" –  "Wir können sterben, aber nicht zurückkehren"
Alle Fotos: Nick Brauns

Berthold Brecht in der Türkei


Viele aus dem Land – durch deutsche Gewerkschafter unterstützt – haben sich solidarisch dem Streik angeschlossen, der nun bereits über 30 Tage dauert. 8.000 bis 10.000 Menschen versammelten sich vor dem Dachverband TÜRK-IS zum gemeinsamen dreitägigen Sitzstreik. Trotz der Tortur, bei Eiseskälte auf kleinen Höckerchen Tage und Nächte zu verbringen zu müssen, will man den leidenschaftlichen Widerstand nicht aufgeben. Nicht immer waren die Streiks folgenlos. Bei der letzten Großdemonstration von 60.000 bis 80.000 Menschen wurden gegen die Demonstranten Polizeiknüppel, Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt. Selbst konservative Abgeordnete waren erschüttert und solidarisierten sich mit den Streikenden. Trotz der angespannten Situation hielt sich die Polizei Dienstag vergangener Woche in Ankara zurück.

Der Streik hat vor allem deshalb eine neue Qualität, weil Kurden und Türken gemeinsam auf die Barrikaden gehen. Offenbar haben sie nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame entdeckt, das ihre existenziellen Lebensinteressen gefährdet. Die Mutter eines Mitglieds der Gewerkschaft TKP, die sich eigentlich nur mit anderen Frauen in einer Koranschule trifft, unterstützte die Streikenden und kochte mit sieben weiteren Frauen. Andere sammelten Decken, damit die Streikenden nicht froren. Es wurden sogar

Zitiert Berholt Brecht: Ingrid Jost
Text ersetzen. Text ersetzen. 1.000 Decken gespendet. In bitterer Kälte machten sie sich – je drei unter einer Decke – Mut und skandierten „Ohne Brot und Arbeit keinen Frieden“ oder „Keiner oder alle. Alles oder nichts“. Zitate von Bertold Brecht wurden zitiert und ins Türkische übersetzt. Laut war plötzlich „Gewehre oder Ketten“ zu vernehmen. Der Ruf nach einem Generalstreik wurde immer deutlicher formuliert. Er kommt vor allem von den linksorientierten Gewerkschaftsverbänden KESK und DISK, während sich die Leitung des Dachverbandes Türk is zurückhaltend verhielt. Für eine Lösung des Konflikts wurde der türkischen Regierung ein Ultimatum bis zum Dienstag gestellt.   

Bis dahin sollte es auch am vergangenen Samstag unter dem Motto „Demonstration für Brot, Frieden, Freiheit, Demokratie und Recht“ so weiter gehen, wurde aber vom Gouverneur Kemal Önal per Anordnung auf Sonntag verschoben. Man hoffte, einen Teil der Streikenden über das Wochenende wieder los zu werden. Immer wieder hört man in Ankara: „Ölmek var - dönmek yok" ("Wir können sterben, aber nicht zurückkehren"). Sogar in den türkischen Medien wird – teilweise sogar ausführlich – darüber berichtet.  Die sechs Gewerkschaftsdachverbände in der Türkei, TÜRK-IS, HAK-IS, DISK, KAMU-SEN, MEMUR-SEN und KESK, hatten der Regierung bis Dienstag, den 26. Januar um 17 Uhr, ein Ultimatum gestellt. Sollte die Regierung den Streikenden bis dahin nicht entgegen kommen, soll zum Generalstreik aufgerufen werden. Auffällig ist indessen die hohe Kampfbereitschaft der türkischen Beschäftigten für ihre Lebensinteressen, die man derzeit bei der Paralyse der Gemüter in Deutschland offenbar völlig vergessen kann. (HDH)
                       

Online-Flyer Nr. 234  vom 27.01.2010



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