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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Arbeit und Soziales
Neuer Regelsatz verstößt vielfach gegen BuVerfGer-Urteil vom 9. Februar
Kleinrechnerei als Großbetrug - Teil 1
Von Holdger Platta

Als vergangene Woche allmählich der Betrag des neuen Regelsatzes in der Öffentlichkeit durchzusickern begann – gerade mal 5 Euro mehr gegenüber dem alten Regelsatz, numehr 364,- Euro statt bislang 359,- Euro -, mochte es zunächst keiner glauben. Er mußte es es auch nicht. Denn der neue Regelsatz ist eindeutig falsch und gleich mehrfach verfassungswidrig berechnet worden. Er geht unmittelbar auf den alten Regelsatz zurück. Und genau dieses hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar des Jahres ohne jede Einschränkung untersagt. Doch der Reihe nach:


Cartoons: Kostas Koufogiorgos
 
Ein ganzes Stück weiter konnte man da schon kommen, wenn man tags darauf auf die Website des Leyen-Ministeriums ging und dort plötzlich zu lesen hatte – unter dem Stichwort „Referenzgruppe“ nämlich (anhand dieses Bevölkerungsteils sollte der neue Regelsatz errechnet werden): zur Ermittlung des neuen Regelsatzes – sprich: des „Existenzminimums“! – seien lediglich alle Haushalte rausgerechnet worden, die – so wörtlich – nicht „ausschließlich“ ihren Lebensunterhalt aus „staatlichen Transferleistungen“ bestreiten. Wie bitte? - Das heißt doch: zu einem (unbekannt großen) Teil haben die Errechner des neuen Regelsatzes auch Haushalte berücksichtigt, die bereits ihrerseits auf staatliche Gelder angewiesen sind, um überleben zu können. Damit aber haben die Ermittler der neuen „Grundsicherung“ gleich gegen zwei Gebote aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Februar dieses Jahres verstoßen: erstens gegen das sogenannte „Zirkelschlußverbot“ und zweitens gegen die Auflage, daß die Einkommenssituation der Referenzgruppe eindeutig über Sozialhilfeniveau zu liegen habe.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de

Im Absatz 168 des Urteils vom 9. Februar 2010 heißt es dazu: „…die Wahl des untersten Bevölkerungsquintils (= des untersten Bevölkerungsfünftels, HP) beruhte auf der sachgerechten Erwägung, die Referenzgruppe der Bezieher von geringen Einkommen möglichst breit zu fassen, um statistisch zuverlässige Daten zu verwenden. Darüber hinaus vermeidet die erfolgte Herausnahme von Sozialhilfeempfängern Zirkelschlüsse, die entstünden, wenn man das Verbrauchsverhalten von Hilfeempfängern selbst zur Grundlage der Bedarfsermittlung machen würde.“

Verstoß gegen das Verbot "Zirkelschlußverfahren"
 
Und eindeutiger noch das damit ausgesprochene Zirkelschlußverbot im folgenden Absatz 169 aus dem genannten Urteil: „Der Gesetzgeber konnte nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung vertretbar davon ausgehen, dass die bei der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 zugrunde gelegte Referenzgruppe statistisch zuverlässig über der Sozialhilfeschwelle lag…“
 
Dieses also ganz unzweideutig die Doppelvorgabe des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar: Ermittlung eines neuen Regelsatzes – genauer: des neu festzulegenden Existenzminimums – nur auf derartige Weise, daß die Einkommenssituation einer Referenzgruppe zugrundegelegt wird, die auf keinerlei staatliche Zusatzunterstützung aus irgendeinem der verschiedenen „Sozialtöpfe“ angewiesen ist. In der Bevölkerungsgruppe, auf die man sich zur Ermittlung des neuen Regelsatzes stützt, darf keine einzige BezieherInnen und kein einziger Bezieher von staatlichen Transferleistungen vorhanden sein. Und bitte kein Mißverständnis: mit „Hilfeempfänger“ und „über der Sozialhilfeschwelle“ hatte das Bundesverfassungsgericht sämtliche BezieherInnen von sogenannten „Transferleistungen“ gemeint – nicht nur „Sozialhilfeempfänger“ nach dem Sozialgesetzbuch XII, nein, selbstverständlich auch ALG-II-BezieherInnen nach dem Sozialgesetzbuch II oder - zum Beispiel - Wohngeldberechtigte nach dem Wohngeldgesetz (WoGG).
 
Zur Fragwürdigkeit sogenannter „Referenzgruppen“
 
Nun möchte ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich nicht diskutieren, daß ich selber es für einen ganz verqueren Gedankengang halte, das sogenannte „Existenzminimum“ dadurch eruieren zu wollen, daß man nach Bevölkerungsgruppen Ausschau hält, die ‚irgendwo’ unten in der Einkommenshierarchie angesiedelt sind und es trotzdem ‚irgendwie’ hinbekommen, ihre existenzsichernden Bedürfnisse zu befriedigen. Leider, das Bundesverfassungsgericht hat das so beschlossen, und es hat damit den Weg zu einem Ermittlungsverfahren freigemacht, das viel eher zu Menschen führt, die gerade nicht auf der Höhe des Existenzminimums leben können. Pointiert ausgedrückt: man schaut auf den Küchentisch der Armen, um festzustellen, was ausreichende Ernährung ist; man sucht in „Zilles Milljöh“ die Miethöhle hinter dem vierten Hinterhof auf, um herauszufinden, was menschenwürdiges Wohnen ist. Gleichwohl bleibt eindeutig genug, was, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zufolge, unter „Existenzminimum“ zu verstehen ist, und an dieser Stelle soll deswegen auch gleich aufgeräumt werden mit einer überaus populären Legende.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de

 
Was versteht das Bundesverfassungsgericht unter „Existenzminimum“?
Gemeinhin wurde und wird in den öffentlichen Diskussionen lediglich zweierlei unter „Existenzminimum“ verstanden – einmal die Sicherung der „physischen Existenz“ und zum anderen die berühmt-berüchtigte „soziokulturelle Teilhabe“. Falsch, wie ein Blick in das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zeigt! Noch eine dritte Bestimmungsgröße gehört nach höchstrichterlicher Ansicht zum „Existenzminimum“ hinzu. Doch zitieren wir der Reihe nach, und zwar auf der Basis der Aussagen in Absatz 135 des Hartz-IV-Urteils. Demnach zählen zum „Existenzminimum“
 
• die erwähnte Sicherung der „physischen Existenz“, die Möglichkeit also für die Betreffenden, die Kosten für „Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit“ aufbringen zu können,
• das erwähnte „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ (nebenbei: auch letzteres – die politische Teilhabemöglichkeit von TransferbezieherInnen fällt bei den öffentlichen Diskussionen über das „Existenzminimum“ zumeist unter den Tisch, was man durchaus bemerkenswert finden kann, denn schließlich handelt es sich bei der politischen Teilhabemöglichkeit nicht zuletzt um ein Grundrecht der Menschen in der Bundesrepublik!) sowie schließlich drittens
• die „Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“ (hat darüber schon einmal jemand nachgedacht, im Zusammenhang von Hartz-IV, was das konkret zu bedeuten hat, wenn es zum Beispiel um Aufrechterhaltung der Kontakte zu Verwandten und Freunden geht, zu Menschen, die einem nahestehen, aber weit weg wohnen inzwischen, nicht in derselben Stadt also, wie man es selber tut – sagen wir: Kassel -, sondern beispielsweise in München oder Berlin? War jemals im alten Regelsatz auch nur ein einigermaßen angemessener Betrag für solche Reisekosten miteingerechnet worden, oder ist das nunmehr beim neuen Regelsatz der Fall? Bei einem Gesamtbetrag für Verkehrskosten pro Monat in der Höhe von 19,20 Euro – der Anfangsbetrag beim alten Regelsatz vom Januar 2005, ein Betrag, der für die meisten ALG-II-BezieherInnen nichtmal die Monatskosten für den Nahverkehr abdeckt?)
 
Das Verfassungsgerichtsgebot „Einzelfallabsicherung“

Kaum weniger wichtig als diese dreifache Definition des „Existenzminimums“ durch das Bundesverfassungsgericht am 9. Februar des Jahres war und ist in diesem Zusammenhang aber noch ein weiterer Punkt: die Verpflichtung des Gesetzgebers durch das höchste Gericht darauf, dieses „Existenzminimum“ für jede Bürgerin und jeden Bürger in der Bundesrepublik sicherzustellen, nicht nur pauschal oder im Durchschnitt. So heißt es im Absatz 137 des Gerichtsurteils, daß dieser „gesamtexistenznotwendige Bedarf“ für „jeden individuellen Grundrechtsträger“ zu sichern sei. Egal, wo eine(r) lebt – ob in der Großstadt mit „fußläufig“ erreichbaren fünf Supermärkten gleich um die Ecke oder auf dem Land, wo erst viele Kilometer mit dem Bus zurückzulegen sind, um die eigenen Einkäufe tätigen zu können -, jede und jeder hat Anspruch auf Gewährleistung seines jeweiligen Existenzminimums.
 
Wie gesagt: ob Benennung einer pauschal definierten „Referenzgruppe“ ohne qualitative Überprüfung der jeweiligen konkreten Lebenssituation im Einzelfall der sachangemessene Weg ist, Existenz oder Nichtexistenz des Existenzminimums innerhalb einer ganzen Bevölkerungsgruppe verifizieren zu können, das ist für mich mit mehr als nur einem Fragezeichen versehen. Was aber in unserem Zusammenhang hier das Entscheidende ist: nichtmal die beiden Minimalforderungen des obersten deutschen Gerichts sind bei der Kleinrechnerei des neuen Regelsatzes eingehalten worden: einschränkungslos jedes Zirkelschlußverfahren zu vermeiden und auf keinen Fall irgendwelche BezieherInnen von Transferleistungen in die Ermittlung des neuen Regelsatzes miteinzubeziehen. Was auf der Website des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales dazu nachzulesen ist und demzufolge offenkundig die angewandte Rechenmethode zur Ermittlung des neuen Regelsatzes war, das ist nichts anderes und nichts weniger als ein Doppelverstoß gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts!
 
Der Auftrag der Bundesverfassungsgerichts, die Inflation zu berücksichtigen
Und damit zu einem weiteren – wahrlich nicht weniger bedeutungsvollen – Punkt, zu der Tatsache nämlich, daß die Ermittlung des neuen Regelsatzes auch gegen eine dritte Auflage der Karlsruher Richter verstoßen hat: gegen die Verpflichtung nämlich, beim Errechnen des neuen Regelsatzes einschränkungslos die Geldentwertungsrate mitzuberücksichtigen, und zwar – so das Gerichtsurteil wörtlich – „zeitnah“. Ich spreche hier von Absatz 140 des Bundesverfassungsgerichts-Urteils:
 
„Das … Ergebnis (= Höhe des Regelsatzes HP) ist zudem fortwährend zu
überprüfen und weiter zu entwickeln, weil ein elementarer Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht (vgl. BverfGK 5,237 <241>). Der Gesetzgeber hat daher Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchssteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht.“
 
Um dem Argument irgendwelcher Schlaumeier gleich an dieser Stelle entgegenzutreten, dem Mißverständnis nämlich, hier habe das Bundesverfassungsgericht doch „nur“ von einer Anpassungsklausel für die Zukunft gesprochen, die Neufestsetzung des Regelsatzes im Jahre 2010 sei aber von dieser Verfassungspflicht noch ausgenommen. Also: bei der Ermittlung des neuen Regelsatzes dürfe durchaus noch auf völlig veraltetes Zahlenmaterial zurückgegriffen werden, auf Preisindices, die womöglich schon seit Jahren der Realität nicht mehr entsprechen. Ein Irrtum: erstens stellt die Neufestlegung des Regelsatzes jetzt aus der Zeitperspektive dieses Urteils vom 9. Februar bereits eben diese Zukunft dar. Zweitens läßt das logische Stimmigkeitsgebot, dem noch jedes Gesetzeswerk unterworfen ist, eine derartige Trickserei nicht zu, man könnte auch drastischer formulieren, Willkür nach dem Motto „mal so – mal so“. Drittens hätte diese Ausnahme von der Regel, wie sie vom Bundesverfassungsgericht dem Gesetzesgeber im Februar dieses Jahres auferlegt worden ist, ausdrücklich in den Urteilstext mit aufgenommen werden müssen. Und viertens: der zitierte Passus aus dem Bundesverfassungsgerichts-Urteil vom 9. Februar enthält ja selber bereits die entsprechenden Gegenbelege: „zu jeder Zeit“, so heißt es da, habe der Gesetzgeber diese Anpassung ans aktuelle Preisniveau zu realisieren, und er habe dieses durch entsprechende „Vorkehrungen“ sicherzustellen, zu zeitlich vorausgehenden Maßnahmen also, die eine solche Regelsatzaufbesserung jederzeit ermöglichen würden. Mit einem Wort: selbstverständlich war die Bundesregierung auch jetzt bereits verpflichtet, dieser Auflage des Bundesverfassungsgerichts zu folgen. Ebenso deutlich ist aber: der Gesetzgeber ist mit dem neuen Regelsatzentwurf genau diesem Korrekturgebot, das ihm am 9. Februar des Jahres auferlegt worden ist, nicht gefolgt. Ein weiterer Verstoß gegen die Auflagen des Bundesverfassungsgerichtes mithin. Und mehr noch: eine nur noch zynisch zu nennende Verkehrung dieses Korrekturgebotes ins Gegenteil, denn das Bundessozialministerium hat gegenüber dem 1. Januar 2005 den Regelsatz nicht nur nicht an die mittlerweile eingetretene Inflationsentwicklung angepaßt (und übrigens auch an die Erhöhung der Verbrauchssteuern im Jahre 2007 nicht), das Bundessozialministerium hat sogar den Regelsatz aus dem Jahre 2005 drastisch zusammengestrichen und gekürzt. (PK)


Online-Flyer Nr. 270  vom 06.10.2010



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