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Literatur
Auszug aus dem Roman "Hellers allmähliche Heimkehr" – Teil I
Neonazis und die Polizei
Von Wolfgang Bittner

Nach 25 Jahren kehrt Martin Heller als Chefredakteur der Lokalzeitung in die norddeutsche Kleinstadt zurück, in der er aufgewachsen ist. Schon bald gewöhnt er sich ein, alte Freundschaften leben wieder auf, er findet eine neue Liebe. Doch neben der vermeintlichen Normalität zeichnet sich eine andere Wirklichkeit ab: Ein dichter Filz aus Korruption, Beziehungen und Abhängigkeiten versteckt sich hinter gutbürgerlicher Fassade, eine rechtsradikale Kameradschaft hat erstaunliche Macht und wird gedeckt, der Herausgeber und Eigentümer der Zeitung und andere Größen der Stadt sind in die Machenschaften verstrickt. Martin Heller geht gegen den Filz vor, auch wenn das ein hohes Risiko für ihn und sein direktes Umfeld bedeutet. Ein spannender Roman über Vetternwirtschaft und Intrigen, über Mut und Scheitern, über Liebe und Freundschaft und über den ganz normalen politischen Wahnsinn in unserem Land.
 
Das Essen schmeckte und er ließ sich Zeit, las noch ein paar Minuten im Stadt-magazin, das neben dem Salfeldener Tagblatt auslag. Seine Lektüre wurde durch einen Anruf von Petersen unterbrochen, der mitteilte, dass in der Nacht die Fensterscheiben der Praxis von Agnes Sommer in der Brunnenstraße eingeworfen worden seien. „Ich kümmere mich darum“, sagte Heller. „Wir sprechen dann in der Fünfzehnuhr-Konferenz darüber.“
 
Als er bezahlte, informierte er Patrick von dem Anschlag, und da sich der mittägliche Ansturm gelegt hatte, konnten sie doch noch kurz miteinander sprechen. Patrick entrüstete sich über das Verhalten der Polizei. Als er Anzeige wegen der Hakenkreuz-Schmierereien an seiner Hauswand gestellt hatte, sei man der Meinung gewesen, es habe sich um einen „Dummejungenstreich“ gehandelt. „Die Polizisten sympathisieren mit den Neonazis“, schimpfte er. „Wir werden hier terrorisiert, aber keiner unternimmt etwas. Kostas, der Wirt vom ‚Kalimera‘ ist ebenfalls betroffen. Bei ihm stand vor einigen Wochen ‚Ausländer-Sau‘ an der Wand. Und Markus Hoffmann, dem Herausgeber vom Stadtmagazin, haben sie einen Totenkopf an die Tür geschmiert und einen Eimer Dreck in den Eingang gekippt.“ Man merkte ihm an, dass er furchtbar wütend war. Heller empfahl ihm dringend, sich nicht zu einer Dummheit hinreißen zu lassen, die er hinterher bereuen würde.
 
Als erstes rief er Kalweit an und trug ihm auf, ein Foto von den zerbrochenen Fensterscheiben zu machen. Dann ging er zur Praxis der Psychologin in der Brunnenstraße, einer ruhigen Straße am Rande der Altstadt. Agnes Sommer kam gerade aus der Tür und wollte die eingeworfenen Fenster mit Folie abdichten. An der Wand stand „Rote Zecke" und „Ab ins KZ!", darunter groß in Runenschrift „SS".
 
„Der Glaser hat erst morgen Zeit für mich!“, rief sie ihm entgegen.
 
„Warten Sie bitte noch zehn Minuten“, bat er sie. „Mein Fotograf kommt gleich und macht ein Foto.“ Sie lud ihn auf einen Kaffee in ihre Wohnung ein, deren Fenster nach hinten hinaus gingen und von dem Anschlag verschont geblieben waren.
 
Auch sie hatte Anzeige gegen Unbekannt wegen Sachbeschädigung und Beleidigung erstattet, und ein Polizeibeamter war gekommen, um ein Protokoll aufzunehmen. „Er hat sich nicht viel Mühe gegeben“, berichtete sie. „Als er ging, meinte er, es habe sich wohl um Vandalismus jugendlicher Randalierer gehandelt. Dass bereits vorher Schmierereien an der Wand waren und ich bedroht worden bin, interessierte ihn gar nicht.“ Sie war aufgebracht und beunruhigt, nahm das alles aber äußerlich sehr gefasst.
 
Sie trug das Haar heute hochgesteckt und einen Hausanzug aus dunkelblauem Samtstoff, der ihre schlanke Figur vorteilhaft zur Geltung brachte. Heller überlegte, ob ihr das bewusst war. Offensichtlich nicht, denn sie bewegte sich ohne jede Affektiertheit. Heute erschien sie ihm hübsch und mädchenhaft, wieder ein wenig zu dünnhäutig, denn ihre geröteten Wangen verrieten eine starke innere Erregung.
 
Heller sah sich um und war angenehm überrascht. Das geräumige Wohnzimmer, in das sie ihn führte, war dominiert von einer Bücherwand, vor der ein Ohrensessel stand. Eine Sitzecke mit bequemen Polstermöbeln, ein wunderschöner Perserteppich und einige Gemälde von Klimt und Chagall zeugten von Stilgefühl. Hier konnte man sich wohlfühlen, es war gemütlich.
„Schade, dass wir uns unter diesen unangenehmen Umständen wiedersehen“, begann er, und auf einmal spürte er wieder diese unerklärliche Unsicherheit, wie schon bei ihrer ersten Begegnung. Merkwürdig. Er kam nicht dazu, sich darüber weitere Gedanken zu machen, denn sie lud ihn ein, sich zu setzen und schenkte aus einer Wärmekanne Kaffee ein. „Ich muss mich entschuldigen“, erwiderte sie. „Ich war bei unseren letzten Begegnungen etwas unhöflich – konnte ja nicht ahnen, dass Sie diesen verkorksten Provinzialismus tatsächlich aufmischen würden.“
 
„Danke“, sagte Heller und nahm einen Schluck Kaffee. „Ich kann Zuspruch gebrauchen, mehr davon bitte demnächst. Jetzt drängt die Zeit, also berichten Sie mal, was sich abgespielt hat.“
„Ich habe es erst heute Morgen bemerkt“, begann die Psychologin. „Mein Schlafzimmer geht nach hinten hinaus, so dass ich den Krach nicht gehört habe, insofern auch nicht sagen kann, wann es genau passiert ist, gesehen habe ich schon gar nichts. Aber für mich ist eindeutig, wer dahinter steckt.“
 
„Nämlich?“
 
„Die SS-Runen sind ein Zeichen dafür, dass es diese Kameradschaft ist, die sich regelmäßig in der ‚Krone‘ trifft. Anführer ist ein Justus Ritter – Sie können ihn sich im Stadtmagazin auf dem Foto von Markus Hoffman ansehen, das er auf der Maikundgebung gemacht hat. Inoffiziell nennen sie sich Standarte Salfelden, offiziell sind sie als Soldaten-Sportverein im Vereinsregister eingetragen. Ihre Gemeinnützigkeit ist sogar anerkannt worden, so dass sie Spendenbescheinigungen ausstellen können, zum Beispiel für die Firma Berkemeier. Ihre Mitglieder rekrutieren sie zum Teil aus einer Jugendgruppe Zugvogel, die der Vater des Anführers, ein Oberstudienrat namens Ritter vor einigen Jahren gegründet hat. Er ist auch einer der Hintermänner dieser braunen Truppe, hält sich natürlich bedeckt und macht sich beliebt, indem er zum Beispiel kostenlosen Nachhilfeunterricht gibt. Das alles ist hier mehr oder weniger bekannt.“
 
„Ich habe schon davon gehört“, sagte Heller. Er machte sich Notizen und rief dann bei der Polizei an, während Kalweit, der inzwischen eingetroffen war, die Fassade fotografierte. Man werde der Angelegenheit nachgehen, wurde ihm versichert. Aber man solle aus einer Mücke keinen Elefanten machen. Ebenso wenig solle man den Anschlag bagatellisieren, hielt er dem Beamten entgegen. Die Schmierereien wiesen doch eindeutig darauf hin, dass es in Salfelden eine Gruppierung mit neonazistischem Hintergrund gebe, die zu Militanz neige. Der Anschlag wie auch die wiederholten Einschüchterungsversuche und die Schmierereien am Haus der Psychologin, am Irish Pub, Kalimera und an dem Redaktionsgebäude des Stadtmagazins seien seines Erachtens sehr ernst zu nehmen. Wer dem nicht energisch nachgehe und die Schuldigen ausfindig mache, müsse sich nicht wundern, wenn es zu Schlimmerem komme.
 
Er solle die Sache nicht dramatisieren, sagte der Beamte, man versuche das Möglichste.
 
„Was heißt ‚dramatisieren‘!“ Heller vermochte sich nicht mehr zu beherrschen. „Ich habe den Eindruck, dass Sie die Angelegenheit nicht ernst nehmen“, fuhr er den Polizisten an. „Es geht hier nicht nur um Sachbeschädigung und Beleidigung, sondern dazu noch um Volksverhetzung und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Das scheint Ihnen und Ihren Kollegen nicht klar zu sein.“ Er legte auf.
 
Agnes Sommer, die das Gespräch mitverfolgt hatte, bedankte sich. „Kommen Sie doch morgen Abend um acht ins Irish Pub“, lud sie ihn ein. „Unsere Friedensgruppe trifft sich und wir wollen über die jüngsten Vorfälle beraten.“
 
„Ich komme“, versprach er und verabschiedete sich. Auf dem Weg in die Redaktion ging er beim Restaurant „Kalimera“ vorbei und sprach mit dem Wirt. Kostas, der bereits vor Wochen Anzeige erstattet hatte, bestätigte den Eindruck, dass die Polizei untätig bleibe. „Sie tun nichts“, rief er aufgebracht. „Vorgestern habe ich die Wand reinigen lassen, heute sind schon wieder Hakenkreuze neben der Tür.“ Er war besorgt und wirkte eingeschüchtert. (PK)
 
 
Aus "Hellers allmähliche Heimkehr" von Wolfgang Bittner, 2012 im VAT Verlag André Thiele, Mainz, 244 Seiten, gebunden, 19.90 EUR, ISBN 978-3-940884-93-0
Teil II, III und IV erscheinen in den nächsten NRhZ-Ausgaben
 
Wolfgang Bittner, geboren 1941 in Gleiwitz, aufgewachsen in Ostfriesland, ist promovierter Jurist; er arbeite in verschiedenen Berufen, u.a. als Rechtsanwalt und Verwaltungsbeamter. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und er erhielt mehrere Preise. Von 1996 bis 1998 wurde Bittner in den Rundfunkrat des WDR berufen. Er übernahm Lehrtätigkeiten im In- und Ausland, darunter mehrere Gastprofessuren in Polen. Er ist Mitglied im PEN und im Verband deutscher Schriftsteller, dessen Bundesvorstand er von 1997 bis 2001 angehörte. Bittner ist freier Mitarbeiter für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften und er hat mehr als 60 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlicht, darunter die Romane „Schattenriss oder Die Kur in Bad Schönenborn“, „Der Aufsteiger“ und „Flucht nach Kanada“ sowie das Sachbuch „Beruf: Schriftsteller“. Im Sommer 2010 erhielt Wolfgang Bittner den Kölner Karls-Preis der NRhZ. Siehe: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=15256 – Weitere Informationen unter www.wolfgangbittner.de
 


Online-Flyer Nr. 379  vom 07.11.2012

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