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Kultur und Wissen
Psychologische Anmerkungen zum Gefühl der Einsamkeit
Einsam unter Freunden
Von Rudolf Hänsel

In sozialen Netzwerken wie Facebook und Co. sammeln junge Leute heute Freunde wie früher Bilder von Film- oder Fußballstars. Trotzdem fühlen sich viele inmitten unzähliger Kontakte isoliert. Schmerzliche Einsamkeitsgefühle haben auch ältere Menschen, weil sie im Alter oft ohne Familie dastehen. Niemand scheint immun zu sein gegen dieses Gefühl. Bereits vor Jahren prognostizierten Psychologen eine Epidemie der Einsamkeit, die sich in unserer Gesellschaft ausbreiten würde. Wie kommt ein Mensch zu der Auffassung, von anderen Menschen getrennt und abgeschieden zu sein – unabhängig davon, ob ein solcher Mangel an sozialen Kontakten objektiv vorhanden ist oder nicht? Bei der Jugend sind es andere Gründe als bei Menschen in hohem Alter. Kennt man die Auslöser für dieses Gefühl, findet man durch eigene Aktivität und/oder professionelle Hilfe wieder heraus aus diesem vermeintlichen Gefängnis der Einsamkeit und zurück in die Geborgenheit der menschlichen Gemeinschaft. 

Einsamkeit – ein zeitgenössisches Phänomen

Einsamkeit ist ein Gefühl, das Alt und Jung nicht nur zur Weihnachtszeit einholt. Es ist Ausdruck unserer Zeit. Beliebtheit und Allgemeinverständlichkeit des Edeka-Weihnachtswerbespots (1) bestätigen das. Einsamkeit schleicht sich von Zeit zu Zeit in jedes Leben. Niemand ist davor gefeit. Manchmal befällt es einen nur kurz und flüchtig, doch mitunter erdrückt es einen geradezu, beschwört gar Krankheiten herauf oder erstickt den Lebensmut. Sich einsam fühlende Menschen berichten, dass sie sich alleine und verloren fühlen – auch unter Freunden – oder abgelehnt und ungeliebt bzw. nicht liebenswert oder auch abgeschlagen, innerlich leer, emotionslos und traurig. Studien zeigen, dass junge Menschen und Menschen ab 80 Jahre sich besonders einsam fühlen und Junge dies als quälender empfinden als Ältere. Dabei haben Alleinsein und Einsamkeit zunächst einmal nichts miteinander zu tun.

Ob das Alleinsein als Einsamkeit empfunden wird, hängt davon ab, ob die Situation freiwillig gesucht oder von außen auferlegt wurde. Ein Alleinsein, für das man sich selbst aus freien Stücken entschieden hat, wird oft als befreiend, wohltuend und kreativ erlebt. Einsamkeit hingegen ist ein Gefühl, von den Mitmenschen nicht beachtet, nicht anerkannt und nicht gebraucht zu werden. In der Psychologie unterscheidet man zwei Arten von Einsamkeit. Bei der sozialen Einsamkeit liegt ein Mangel an sozialer Integrität vor bzw. ein Mangel an sozialen Beziehungen, an Unterstützung durch Freunde, Nachbarn oder Kollegen. Bei der emotionalen Einsamkeit werden feste Vertrauenspersonen vermisst, z.B. ein Partner, mit dem man sich eng verbunden fühlt.

Psychische und physische Krankheit als mögliche Folge

Wieso kann Einsamkeit zu seelischem Leid und körperlicher Krankheit führen? Weil der Mensch ein soziales Wesen ist und ohne die Beziehung zu den Mitmenschen nicht existieren kann. Schwach und hilflos kommt er auf die Welt und ist sowohl physisch wie psychisch ganz auf die Pflege und Anerkennung seiner Beziehungspersonen angewiesen (Bindungstheorie). Der Mensch braucht die echte emotionale Bindung zur Mutter, zum Vater, zu den Geschwistern oder anderen Beziehungspersonen in der Gemeinschaft zum Überleben. Ohne die körperliche und emotionale Zuwendung seiner Artgenossen ginge er zugrunde. Einsamkeit ist demnach ein „sozialer Schmerz“ (John Cacioppo).

Das Gefühl einsam zu sein, ist ein wichtiges Warnsignal, das nicht übergangen werden sollte. Es fordert dazu auf, wieder Anschluss zu suchen, aktiv zu werden. Wenn man auf dieses Warnsignal nicht reagiert, kann das Einsamkeitsgefühl chronisch werden. Und dies hat nicht nur schädliche Einflüsse auf die Psyche, sondern auch auf den Körper. Der US-amerikanische Psychologe John Cacioppo analysierte 148 Studien mit Daten von 30.000 Probanden und fand heraus, dass Menschen mit sozialem Rückhalt länger leben würden als jene mit weniger stabilen Beziehungen und dass Einsamkeit für die Gesundheit etwa ebenso schädlich sein würde wie Rauchen, Übergewicht oder Bewegungsmangel. Zudem würden dauerhaft Einsame häufig unter Erschöpfung oder Entzündungen, Kopfschmerzen oder Kreislaufstörungen leiden. Auch seien sie anfällig für Infektionskrankheiten und litten unter Schlafstörungen.

Außerdem seien einsame Menschen gefährdet, sich mit Alkohol oder fett- und zuckerreicher Kost ein Wohlgefühl zu verschaffen und an einer Depression zu erkranken (...). (2) Nach Auffassung des Gehirnforschers Manfred Spitzer ist die Depression eine Volkskrankheit. Vier bis fünf Millionen Deutsche würden jährlich daran erkranken. „Wer depressiv ist, schreibt Spitzer, „der ist nicht einfach nur ‚traurig verstimmt’, ‚down’ oder ‚schlecht drauf’. Vielmehr bestehen zugleich Ängste, Interesse-, Lust- und Appetitlosigkeit (oder manchmal gesteigerter Appetit), ein geringes Selbstwertgefühl, Schlappheit und Müdigkeit (zuweilen auch gesteigerte Unruhe und manchmal beides zugleich), schlechter Schlaf (oder zu viel Schlaf) sowie in vielen Fällen eine Reihe körperlicher Symptome (Herzklopfen, Schwindel, Verdauungsbeschwerden) einschließlich Schmerzen.“ (3)

Noch deutlicher ist der Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Demenz. Längsschnittstudien kommen nach Spitzer zu folgendem Ergebnis: „Eine geringe soziale Teilhabe erhöht das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, um 41 Prozent; wenig Sozialkontakt erhöht dieses Risiko um 57 Prozent und Einsamkeit um 58 Prozent. Die Größe des sozialen Netzwerks oder das Ausmaß der Unzufriedenheit mit den Sozialkontakten hingegen hatte keinen Einfluss.“ Und eine Metaanalyse aus den USA kommt zu dem Schluss: „Wer einsam ist, stirbt mit hoher Wahrscheinlichkeit früher. Oder umgekehrt: Nichts ist gesünder im Sinne der Verlängerung des eigenen Lebens als die aktive Teilnahme an der Gemeinschaft mit anderen Menschen.“ (4) Und das gilt auch schon für die heranwachsende Jugend. Wie in der Buch-Rezension „Die (un)heimlichen  Erzieher aus dem Cyberspace“ (5) bereits dargelegt, fühlen sich viele junge Menschen trotz unzähliger „Freunde“ aus sozialen Netzwerken einsam und depressiv. Was sind mögliche Ursachen?

Einsamkeit kann verschiedene Ursachen haben

Für Gehirnforscher Spitzer sind gerade diese sozialen Netzwerke wie Facebook und Co. bzw. unser digitalisiertes Leben überhaupt Verursacher für Einsamkeits- und Depressionsgefühle bei Jugendlichen. Diese sind im Gegensatz zu älteren Menschen besonders gefährdet, weil ihre Körper und vor allem ihre Gehirne noch nicht ausgereift sind. Sie benötigen hierfür bestimmte Bedingungen, Erfahrungen und sinnliche Erlebnisse, die ihnen durch die digitalen Medien geraubt werden („Facebook – statt face to face“). Zudem können junge Menschen noch nicht selbst beurteilen, was ihnen gut tut und was nicht. (6) Jugendliche Einsamkeit kann aber auch ähnliche Ursachen haben wie bei Erwachsenen.

So zeigt sich das Gefühl der Einsamkeit vor allem, wenn sich etwas im Leben grundsätzlich verändert – z.B. wenn Menschen erstmals für längere Zeit das Elternhaus verlassen, den Wohnort wechseln, den Liebes- oder Lebenspartner verlieren und ihren Ausbildungs- oder Arbeitsplatz wechseln bzw. aufgeben. In früheren Jahrhunderten war die Einbindung des Einzelnen in die Gemeinschaft eine Selbstverständlichkeit (Standesorganisationen, Zünfte etc.). Im Zuge der Industrialisierung hat sich dieser Automatismus vor allem in westlichen Industriegesellschaften teilweise aufgelöst hin zu einem Prozess zunehmender Individualisierung. Dieses fehlende Eingebunden-sein in soziale Strukturen macht Jung und Alt zu schaffen. Viele Kinder und Jugendliche leiden unter der Trennung ihrer Eltern und der generellen Infrage-Stellung und Auflösung der Familie. Und die älteren Menschen?

Immer mehr stehen im Alter ohne Familie da, das heißt ohne körperliche Pflege und gefühlsmäßige Betreuung. Wer sich nicht rechtzeitig um eine Senioren-WG bemüht („Hauptsache, nicht allein sein!“), landet heute oft in einem Pflegeheim. Doch Alten-Pflegeheime sind kein Ersatz für die Pflege innerhalb der Familie, wie es früher der Fall war. Der Bedarf an ausgebildeten Pflegerinnen und Pflegern ist riesengroß und die Versorgung der alten Menschen in vielen Heimen deshalb entsprechend mangelhaft bis unwürdig. Ein großer Schmerz ist deshalb das Gefühl der Einsamkeit. Kürzlich begrüßte mich meine 92jährige Mutter, die ich täglich im nahegelegenen Senioren(da)heim besuche und die dort mit vielen anderen Heiminsassen zusammenlebt, mit den Worten: „Ich bin so froh, dass Du wieder da bist. Wenn du nicht da bist, bin ich niemand mehr.“

Eigene Aktivität und professionelle Hilfe als Wege aus der Einsamkeit

Menschen im hohen Alter schaffen es oft nicht aus eigenem Antrieb, ihrem Einsamkeitsgefühl zu entkommen. Sie brauchen unser Mitgefühl, unsere Wertschätzung und unsere Unterstützung. Der ethische Stand einer Gesellschaft lässt sich m.E. auch am würdigen Umgang mit der älteren Generation ablesen. Für jüngere Erwachsene und die Jugend gilt aber, das Warnsignal der Einsamkeit nicht zu übergehen und dringend aktiv zu werden. Wer einsam ist, schämt sich häufig – vor der Partnerin bzw. dem Partner, den Kindern, Eltern, Geschwistern, Nachbarn oder vor Freunden. In den Augen vieler scheint tatsächlich der Einsame in der Gesellschaft versagt zu haben. Dabei haben Menschen, die in der Einsamkeit feststecken, nichts falsch gemacht. Es gibt keinen Grund sich zu schämen. Niemand von uns ist immun gegen das Gefühl, isoliert zu sein.

Entscheidend ist, den Mut zu finden, mit einem vertrauten Menschen über das Einsamkeitsgefühl zu sprechen und mit ihm zusammen einen Weg heraus aus diesem vermeintlichen Gefängnis der Einsamkeit zu finden. Gelingt das nicht, sucht man um professionelle Unterstützung bei einer anerkannten psychologischen Beratungsstelle oder bei einem Therapeuten nach. Wie auch immer: Der sich einsam fühlende jüngere oder ältere Mensch braucht die Beachtung, die Wertschätzung, den persönlichen Kontakt bzw. eine echte mitmenschliche Beziehung zu einer Partnerin oder einem Partner, zu seiner Familie, zu Freunden, Nachbarn oder Kolleginnen und Kollegen. Und jeder von uns, dem es gelingt, am Schicksal des Mitmenschen Anteil zu nehmen und zu helfen, weiß, dass das eigene Leben dadurch bereichert wird. (PK)

 

(1) http://www.welt.de/149573617.

(2) http://www.tagesspiegel.de/wissen/psychologie-einsamkeit-macht-menschen-krank/7080868.html.

(3) Spitzer, M. (2015) Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. München, S. 303.

(4) A.a.O., S. 324f.

(5) NRhZ Online-Flyer Nr. 538 vom 25.11.15.

(6) Spitzer, M. A.a.O., S. 318.

 

Dr. Rudolf Hänsel ist Erziehungswissenschaftler und Diplom-Psychologe. Sie erreichen ihn unter www.psychologische-menschenkenntnis.de.

 



Online-Flyer Nr. 542  vom 23.12.2015



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