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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Kommentar
Obwohl die Siedler den Frieden fast erledigt haben
Wir können es schaffen!
Von Uri Avnery

IM ZWEITEN WELTKRIEG, als deutsche Bomber Britannien in Angst und Schrecken versetzten, bot ihnen eine kleine Gruppe tapferer Flugzeugführer die Stirn. Ihre Lebenserwartung war in Tagen zu bemessen. Einmal entwarf ein Genie des Propagandaministeriums ein Plakat, auf dem gefragt wurde: „Wer hat Angst vor der deutschen Luftwaffe?“ Als es in einem der Königlichen Militärflugplätze aufgehängt worden war, schrieb eine unbekannte Hand darunter: „Hier unterschreiben!“ Innerhalb von Stunden hatten alle Flugzeugführer unterschrieben. Das waren die Männer, über die Winston Churchill sagte: „Niemals hatten so viele so wenigen so viel zu verdanken!" Wenn heute jemand ein Plakat entwerfen würde, auf dem gefragt würde: „Wer hat Angst vor den Siedlern?“, wäre ich der Erste, der unterschreibt. Ich habe Angst. Nicht für mich. Für den Staat Israel. Für alles, was wir in den letzten 120 Jahren aufgebaut haben.

Zweistaatenlösung: von Siedlern endgültig getötet?

NEUERDINGS sagen immer mehr Menschen in Israel und in der ganzen Welt: Die „Zweistaatenlösung“ ist tot. Finito. Kaputt. Die Siedler haben sie endgültig getötet. Der Frieden ist erledigt. Da können wir nichts machen. Wir können nur in unseren bequemen Sesseln vor dem Fernseher sitzen, tiefe Seufzer ausstoßen, am Glas nippen und uns sagen: „Die Siedlungen sind nicht rückgängig zu machen!“ Wann habe ich das doch zum ersten Mal gehört? Vor etwa 40 Jahren – oder waren es 50 Jahre? – benutzte es der bekannte israelische Historiker Meron Benvenisti zum ersten Mal. Die Siedlungen, verkündete er, hätten zu einer „nicht rückgängig zu machenden“ Situation geführt. Keine Zweistaatenlösung, wie meine Freunde und ich immer wieder forderten. Tut uns leid, nicht rückgängig zu machen. Damals waren es weniger als hunderttausend Siedler im Westjordanland, dem Gazastreifen und sogar einige auf der Sinai-Halbinsel. Jetzt ist der Spruch überall zu hören. Nicht rückgängig zu machen. Die bloße Masse der Siedler hat die Zweistaatenlösung zu einem Luftschloss werden lassen. Es heißt, dass es jetzt etwa 450 Tausend Siedler im Westjordanland und dazu 150 Tausend im besetzten Ostjerusalem sind. Sie könnten nicht ohne Bürgerkrieg, in dem Juden gegen Juden kämpfen würden, beseitigt werden. Hören wir also lieber auf, über die Zweistaatenlösung zu reden. Wir wollen uns etwas anderes überlegen. Eine Einstaatlösung? Ein Apartheidstaat? Gar keine Lösung? Ewiger Konflikt?

Kein Problem, für das es nicht eine Lösung gibt

ICH GLAUBE NICHT, dass es ein zwischenmenschliches Problem gibt, für das es keine Lösung gibt. Ich glaube nicht, dass Verzweiflung eine gute Ratgeberin ist, allerdings kann sie eine bequeme sein. Ich glaube nicht, dass irgendetwas im Leben „nicht rückgängig zu machen ist“. Außer dem Tod. Wenn man mit einem Problem konfrontiert ist, das unlösbar zu sein scheint, muss man es sich genau ansehen, es analysieren und die möglichen Auswege überdenken. Man sagt, der britische Befehlshaber in Nordafrika General Bernard Montgomery habe auf dem Schreibtisch in seinem Hauptquartier eine Fotografie des legendären deutschen Generals Erwin Rommel stehen gehabt. Seinen erstaunten Besuchern erklärte er: „Ich möchte mich jeden Augenblick fragen: Was denkt er gerade?“ Wenn wir versuchen, uns die Siedler vorzustellen, sehen wir eine Masse von 650 Tausend Fanatikern vor uns, deren Anzahl von Tag zu Tag steigt. Wirklich erschreckend. Aber nicht erschreckend wirklich. Die Siedler sind nicht eine einzige Masse. Es gibt verschiedene Arten Siedler. Wenn wir ein Mittel ersinnen wollen, um mit diesem Problem fertig zu werden, müssen wir es zuerst einmal in seine Teile zerlegen. Wir wollen uns die verschiedenen Gruppen eine nach der anderen ansehen.

Siedler der Gruppe 1: Lebensqualitätssiedler

ZUERST EINMAL sind da die „Lebensqualitätssiedler“. Sie gehen ins Westjordanland, finden einen Ort, der von malerischen arabischen Dörfern umgeben ist, und siedeln dort auf Land, das wahrscheinlich einem arabischen Dorfbewohner gehört. Sie sehen aus ihren Fenstern schöne Minarette, Olivenbäume, hören den Gebetsruf und sind glücklich. Sie haben das Land für nichts oder so gut wie nichts bekommen. Wir wollen sie Gruppe 1 nennen. Da sie keine Fanatiker sind, wird es nicht schwer sein, sie im eigentlichen Israel neu anzusiedeln. Man finde einen schönen Ort für sie, gebe ihnen viel Geld und sie werden ohne viele Umstände umziehen.

Siedler der Gruppe 2: nahe an der Demarkationslinie

DANN GIBT es die „Grenz-Siedlungen“. Dort leben die Siedler in Städten und Dörfern sehr nahe an der Demarkationslinie, der Grenze von vor 1967, die immer noch die legale Grenze des Staates Israel ist. Der Großteil der Siedler lebt dort. Es gibt eine stillschweigende Vereinbarung zwischen Israel und den Palästinensern, dass diese Siedlungen zu dem „Landtausch“ gehören werden, den sich fast jeder, der mit der Zweistaatenlösung zu tun hat, vorstellt. Die Grundlage ist ein Tausch 1 zu 1 gemäß dem Wert. Zum Beispiel könnte Israel im Tausch gegen die „Siedlungsblöcke“ ein Gebiet längs des Gazastreifens abgeben. Die Söhne und Töchter der Familien im Gazastreifen würden die Möglichkeit, dort, in der Nähe ihrer Familien, ihre Häuser zu bauen, begrüßen. Der Gazastreifen ist das am stärksten überfüllte Gebiet der Welt. Wir wollen diese Art Siedler Gruppe 2 nennen. Zu dieser Gruppe gehören viele ultraorthodoxe Siedler, denen der Ort eigentlich ziemlich gleichgültig ist. Sie haben nur, Gottes Gebot gemäß, sehr große Familien. Sie müssen außerdem in volkreichen Gemeinschaften leben, da viele Gebote ihres Glaubensbekenntnisses gemeinsame Institutionen verlangen. Die Ultraorthodoxen (hebräisch: „Charedim“, das bedeutet „die, die vor Gott zittern“) leben in schrecklich überfüllten Städten in Israel: Westjerusalem, Bnei-Brak usw. Sie brauchen mehr Land und die Regierung ist glücklich, ihrem Bedürfnis nachzukommen – aber eben jenseits der Demarkationslinie. Einer dieser Orte ist Modi'in Illit und liegt dem arabischen Dorf Bil'in gegenüber. Dort demonstrieren seit vielen Jahren die Einwohner jeden Freitag gegen den Landraub.

Siedler der Gruppe 3: Von Gott selbst gesandt

ABER SCHLIESSLICH gibt es noch die ideologischen Siedler, die Fanatiker, diejenigen, die von Gott selbst gesandt worden sind. Wir wollen sie Gruppe 3 nennen. Sie bilden das Zentrum des Problems. Diesen harten Kern entfernen ist eine schwierige und gefährliche Aufgabe. Wie schwierig sie ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Vor allem von der öffentlichen Meinung. Solange diese Siedler wissen, dass der Großteil der allgemeinen israelischen Öffentlichkeit sie unterstützt, können sie nur mit brutaler Gewalt entfernt werden. Aber die meisten Soldaten und Polizisten gehören genau zur selben allgemeinen Öffentlichkeit. Diese Schlacht kann nur gewonnen werden, wenn ihr ein Wandel in der öffentlichen Meinung vorangegangen ist. Um diese zu bewirken, ist eine Menge politischer Arbeit notwendig. Internationale Unterstützung kann einen Beitrag leisten. Aber ich glaube nicht, dass internationale Unterstützung – durch die UN, die USA und andere – weiterhilft, wenn nicht die Israelis selbst einen Wandel bewirken. Schließlich wird die Entfernung der Siedler des harten Kerns durch Gewalt wahrscheinlich notwendig werden. Wir wünschen uns das durchaus nicht, aber es ist möglich, dass es unvermeidlich sein wird.

Regierung, öffentlichen Dienst und Medien infiltrieren

DIE SIEDLER der Gruppe 3 sind sich dieser Faktoren vollkommen bewusst, bewusster als ihre Gegner. Seit Jahren bemühen sie sich systematisch darum, die Armee, die Regierung, den öffentlichen Dienst und besonders die Medien zu infiltrieren. Diese Bemühung war höchst erfolgreich, hat allerdings noch nicht endgültig gesiegt. Das Friedenslager muss ihr mit einer entsprechenden Bemühung entgegentreten. Der wichtigste Faktor, der alles andere überschattet, ist der geistige Wettstreit. Die Siedler kämpfen ebenso für ihre Ideologie wie für ihren Lebensstandard. Darin spiegelt sich übrigens ein historisches und weltweites Phänomen: Grenz-Bewohner sind widerstandsfähiger und höher motiviert als Inlandsbewohner. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Preußen. Ursprünglich war es eine deutsche Grenzprovinz mit schlechtem Boden und wenig Kultur. Jahrhunderte lang waren die wohlhabenden Städte im deutschen Kerngebiet das Zentrum der deutschen Kultur. Aber Preußen wurde durch reines Durchsetzungsvermögen und reine Willenskraft zur herrschenden Region Deutschlands. Als das vereinigte (zweite) deutsche Reich gegründet wurde, war Preußen die entscheidende Kraft. Etwas ganz Ähnliches geschah weiter südlich. Die kleine südöstliche Grenzprovinz Österreich errichtete im Herzen Europas ein großes Reich, zu dem viele verschiedene Nationalitäten gehörten.

Im Morast eines verkommenen, verabscheuungswürdigen kleinen Apartheidstaates versinken?

DIESE NOTWENDIGERWEISE kurze Skizze möglicher Lösungen soll einzig und allein zeigen, dass nichts so ist, dass es nicht rückgängig gemacht werden könnte. Schließlich hängt alles von uns ab. Wenn wir Israel so sehr lieben, dass wir für seine bloße Existenz als Staat eintreten, einem Staat, in dem wir leben können und mit dem wir uns identifizieren wollen, dann müssen wir rechtzeitig handeln. Wäre es nicht ein Jammer, wenn alle Bemühungen und Hoffnungen aus 120 Jahren im Morast eines verkommenen, verabscheuungswürdigen kleinen Apartheidstaates versinken würden?


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Online-Flyer Nr. 595  vom 11.01.2017



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