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Literatur
Aus den "Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers" (1)
Die Trutzin
Von Erasmus Schöfer

Da soll eine schwarze Frau einem weißen Mann Platz machen im Bus – und steht nicht auf. Da soll ein Richter ein Gesinnungsurteil fällen – und kann es nicht. Da soll ein Soldat seinem Land absolut loyal dienen – und veröffentlicht doch Dokumente über die staatlich angeordneten Verbrechen. Erasmus Schöfer geht in seinen Erzählungen bekannten und unbekannten Widerstandsgeschichten nach, Widerstand von einzelnen Unzufriedenen, der manchmal Großes bewirken kann. Er präsentiert sie als Kalendergeschichten mit überzeitlicher Wirkung – so ist dieses Buch ein wirkliches Vademekum für alle, die sich in diesem Zeitalter der Selbstoptimierung und Überanpassung unwohl fühlen. Die NRhZ gibt einen Einblick. Hier Nummer 1:


Der Dichter Bertolt Brecht hat einmal gesagt: Wohl dem Land, das keine Helden nötig hat! Das war gesagt in einer Zeit, als in den Ländern Mitteleuropas noch jedes Dorf seinen Heldenfriedhof samt Denkmal hatte, womit den Menschen eingebläut wurde, die auf den Schlachtfeldern Geschlachteten seien einen großartigen Tod gestorben. Es kam niemand, nicht einmal den Frauen, in den Sinn, dass auch Menschen weiblichen Geschlechts Taten vollbringen, die von Kühnheit und Weitsicht zeugen, so dass sie den Titel Heldin und ein DenkMal verdienen. Vielleicht sollten wir so sich auszeichnende Frauen aber eher Hirtin nennen. Oder Menschenfreundin. Oder, da diese Worte eher an Sanftmut und Nachgiebigkeit denken lassen, während ich starke, wagemutige Frauen im Sinn habe, für die das deutsche Lexikon keinen passenden Begriff mitteilen kann, sollten wir für sie vielleicht ein neues Wort bilden? Ein solches wäre etwa: Trotzin. Oder: Trutzin.

Ich denke, dass die Frau, von der ich hier berichten will, mit einem solchen Titel eher einverstanden wäre als wenn ich sie Heldin nennte. Hanna P., die schon durch verschiedene Widerstandstaten Aufsehen erregt hatte, war eben 22 Jahre jung, als sie eines Nachts im kalten Februar 2008, mit nur drei oder vier Helfern, sich auf den Gleisen einer Bahnstrecke in Nordfriesland anketten ließ, um einen Zug an der Weiterfahrt zu hindern, der Militärfahrzeuge der Bundeswehr zu einem Manöver an der polnischen Grenze transportieren sollte. Die herbei zitierte Feuerwehr und das Technische Hilfswerk benötigten vier Stunden, um mit einer Flex ein Stück Schiene herauszutrennen, weil sie nur auf diese Weise Hanna, die Trutzin, aus dem Gleis entfernen konnten. Die Strecke blieb bis zum Morgen acht Uhr gesperrt.

Um halbvier, die Polizei war eben am Tatort eingetroffen und notierte die Personalien der Demonstranten, da wurde schon von andern Helfern die Nachricht ins Netz gestellt, dass sie mit dieser Aktion gegen die kriegerischen Einsätze der Bundeswehr im Ausland protestierten. Hanna P. wurde mit dem Satz zitiert: „Heute heißt so ein Vorgehen Krisenintervention – dabei ist schlicht und einfach Krieg gemeint!“

Dafür wurde sie zu neunzig Tagessätzen verurteilt. Trotzig sagte sie dem Richter: Ich werde nicht zahlen. Ich gehe ins Gefängnis.




Erasmus Schöfer
Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers
Taschenbuch, 144 Seiten, 12 Eoro
Verbrecher Verlag Berlin, 2016


Erasmus Schöfer, am 4. Juni 1931 bei Berlin geboren, lebt in Köln. Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und ist Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums. Seit seiner Promotion über »Die Sprache Heideggers« (1962) veröffentlichte er zahlreiche literarische und publizistische Arbeiten. Für seine hochgelobte Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos« erhielt Erasmus Schöfer im Jahr 2008 den Gustav-Regler-Preis. Zuletzt erschienen: »Diesseits von Gut und Böse. Beiträge fürs Feuilleton« (2011), »Na hörn Sie mal! Sechs ausgewählte Funkstücke« (2012) und »Schriftsteller im Kollektiv. Texte und Briefe zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« (2014).

Online-Flyer Nr. 612  vom 10.05.2017



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