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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Kommentar
Ein schrecklicher Ort, an dem man besser nicht denkt
Geblendet in Gaza
Von Uri Avnery

ICH MUSS ein ganz besonderes Bekenntnis ablegen: Ich mag Gaza. Ja, ich mag diesen entlegenen Winkel von Palästina, den schmalen Streifen auf dem Weg nach Ägypten, in dem zwei Millionen Menschen zusammengepfercht sind und der der Hölle näher ist als dem Himmel. Ich bin in Gedanken dort.

ICH HABE im Gazastreifen ziemlich viel Zeit verbracht. Ein oder zweimal war ich für ein paar Tage mit Rachel dort. Ich freundete mich mit ein paar Leuten an, die ich bewunderte, Leuten wie dem linken Arzt Dr. Haidar Abd-al-Schafi, der das Gesundheitssystem in Gaza aufgebaut hat, und dem ehemaligen Bürgermeister und geborenen Aristokraten Raschad al-Schawa. Als Jasser Arafat nach dem Oslo-Abkommen in sein Land zurückkam, errichtete er sein Büro in Gaza und ich besuchte ihn dort viele Male. Ich brachte Gruppen von Israelis zu ihm. Am ersten Tag, als ich dorthin kam, platzierte er mich auf dem Podium neben sich. Ein Foto von diesem Ereignis sieht heute nach Science-Fiction aus. Ich habe sogar die Hamas-Leute kennen gelernt. Als Jizchak Rabin vor Oslo 415 islamische Aktivisten aus dem Land deportierte, nahm ich an der Errichtung von Protest-Zelten gegenüber seinem Büro teil. Dort lebten wir zusammen: Juden, Christen und Muslime und dort wurde Gush Shalom gegründet. Als die Deportierten ein Jahr später zurückkommen durften, wurde ich zu ihrem öffentlichen Empfang in Gaza eingeladen und es ergab sich, dass ich zu Hunderten von bärtigen Gesichtern sprach. Unter ihnen waren einige, die heute Hamas-Führer sind. Aus all diesen Gründen kann ich die Bewohner des Gazastreifens nicht als gesichtslose graue Menschenmasse ansehen. Ich dachte während der letzten schrecklichen Hitzewelle unaufhörlich an sie, an Menschen, die unter furchtbaren Bedingungen, ohne Strom und Klimaanlage, ohne sauberes Wasser und ohne Medizin für die Kranken dahinvegetieren. Ich dachte an die, die in den während der letzten Kriege schwer beschädigten und seitdem nicht wiederhergestellten Häusern leben. An die Männer und Frauen, Alten, Kinder, Säuglinge und Kleinkinder. Mir blutete das Herz und ich fragte mich: Wer ist daran schuld? Ja, wer ist an den fortgesetzten Gräueln schuld?   

DIE ISRAELIS sagen: „Die Palästinenser sind selbst schuld.“ Tatsache ist: Die palästinensische Führung in Ramallah hat entschieden, die Stromzufuhr nach Gaza von drei auf zwei Stunden am Tag zu drosseln. (Der Strom kommt aus Israel und die Palästinensische Behörde in Ramallah bezahlt dafür.) Das scheint zu stimmen. Der Konflikt zwischen der Palästinensischen Behörde, die von der Fatah geführt wird, und der palästinensischen Führung in Gaza, die von der Hamas bestimmt wird, hat einen hässlichen Höhepunkt erreicht. Der nicht betroffene Zuschauer fragt sich: Wie kann das sein? Schließlich ist das gesamte palästinensische Volk existenziell in Gefahr. Die israelische Regierung tyrannisiert alle Palästinenser, sowohl die im Westjordanland als auch die im Gazastreifen. Sie hält den Gazastreifen in strangulierender Blockade auf dem Land, auf See und in der Luft, und errichtet überall im Westjordanland Siedlungen, um die einheimische Bevölkerung zu vertreiben. Wie können sich die Palästinenser in dieser verzweifelten Situation zum offensichtlichen Entzücken der Besatzungsbehörden gegenseitig bekämpfen? Das ist schrecklich, aber leider nicht beispiellos. Im Gegenteil: In fast allen Befreiungskämpfen geschah etwas Ähnliches. Während des irischen Unabhängigkeitskrieges bekämpften sich die Freiheitskämpfer gegenseitig und schossen sogar aufeinander. Während unseres Kampfes um Staatlichkeit übergab der Hagana-Untergrund Irgun-Kämpfer der britischen Polizei, die sie folterte. Später jagten sie ein Schiff in die Luft, das der Irgun Rekruten und Waffen bringen sollte. Aber diese und viele andere Beispiele rechtfertigen nicht das, was jetzt in Gaza geschieht. Der Kampf zwischen Fatah und Hamas wird auf den Rücken von zwei Millionen Menschen ausgetragen und verurteilt diese zu unmenschlichen Lebensbedingungen. Als alter Freund des palästinensischen Volkes in seinem Befreiungskampf bin ich darüber sehr traurig.

ABER AN DER furchtbaren Blockade Gazas sind noch andere beteiligt. Israel kann den Gazastreifen nur von drei Seiten blockieren. Die vierte Seite ist die ägyptische Grenze. Ägypten hat in der Vergangenheit wegen der palästinensischen Brüder vier große Kriege gegen Israel geführt (in einem wurde ich von einem ägyptischen Maschinengewehrschützen verwundet) und jetzt beteiligt es sich an der inhumanen Blockade des Gazastreifens. Was ist geschehen? Wie ist es geschehen? Jedermann weiß, dass das ägyptische Volk eines der interessantesten Völker auf Erden ist. Ein sehr stolzes Volk. Ein Volk voller Humor, selbst unter den schwierigsten Umständen. Ich habe in Ägypten öfter Sätze wie diesen gehört: „Wir mögen die Palästinenser nicht besonders, aber sie sind unsere Vettern und wir können sie auf keinen Fall im Stich lassen!“ Aber jetzt lassen sie sie nicht nur im Stich, sondern sie kooperieren mit der inhumanen Besetzung. Warum das alles? Weil die Regierenden in Gaza religiöse Fanatiker sind, ebenso wie die Moslembrüder in Ägypten, die die Todfeinde des heutigen Pharaos General Abd-al-Fatah al-Sisi sind. Für diese Feindschaft werden Millionen Menschen in Gaza bestraft. Jetzt geht das Gerücht, die Ägypter würden einlenken, wenn die Bewohner von Gaza einen ägyptischen Handlanger als Regierenden akzeptieren würden. Die israelische Blockade von Gaza hängt vollkommen von der ägyptischen Blockade ab. Das stolze Ägypten, das den Anspruch erhebt, der Führer der gesamten arabischen Welt zu sein, ist zur Magd der israelischen Besetzung geworden. Wer hätte das gedacht?

ABER DIE Hauptverantwortung für die Gräuel in Gaza tragen natürlich wir, Israel. Wir sind die Besatzer – eine neue Art von Besetzung durch Blockade. Die Rechtfertigung liegt auf der Hand: Sie wollen uns vernichten. Das ist die offizielle Doktrin der Hamas. Die Maus stößt entsetzliche Drohungen gegen den Elefanten aus. Stimmt schon, aber … Aber wie alle Religiösen finden sie hundert verschiedene Möglichkeiten, Gott zu betrügen und sich um seine Verbote herumzudrücken. Die Hamas hat erklärt, dass, wenn Mahmood Abbas mit Israel Frieden schließen und dieser Friedensschluss durch eine Volksabstimmung bestätigt würde, sie diesen akzeptieren würde. Dazu gestattet der Islam eine Hudna (einen Waffenstillstand) mit Ungläubigen für unterschiedlich lange Zeit – 10, 50, 100 Jahre. Danach wird man sehen – Allah ist groß. Auf vielerlei heimliche Weise arbeitet Israel mit der Hamas zusammen, besonders gegen die noch extremeren Islamisten im Gazastreifen. Wir könnten leicht einen Modus Vivendi auf gemeinsamer Linie finden.

WARUM müssen also die Menschen in Gaza so schwer leiden? Eigentlich weiß das niemand. Wegen der geistigen Unbeweglichkeit der Besatzung. Weil wir das schon immer so gemacht haben. Hier nenne ich eine geistige Übung: Wie wäre es, wenn wir genau das Gegenteil täten? Was, wenn wir den Menschen im Gazastreifen ankündigen würden: Die Palästinensische Behörde in Ramallah bezahlt jetzt nur für zwei Stunden Stromzufuhr am Tag. Aber da Israel sieht, wie ihr leidet, beschließt es, euch 24 Stunden am Tag kostenlos mit Strom zu versorgen. Welche Wirkung hätte das? Wie würde die Hamas reagieren? In welcher Weise würde das das Gewalt-Niveau und die Kosten für Sicherheit beeinflussen? Auf lange Sicht gibt es viele israelische und internationale Pläne. Eine künstliche Insel im Mittelmeer gegenüber von Gaza. Ein Flughafen auf der Insel. Ein Tiefseehafen. Oder ein faktischer Frieden, auch ohne Friedenserklärung. Dieser, denke ich, wäre das Klügste. Aber Klugheit hat wenig Chancen.

IN DER Zwischenzeit gehen die Gräuel weiter. Zwei Millionen Menschen werden unmenschlich behandelt und leiden. Und die Welt? Leider hat die Welt anderes zu tun. Sie hat keine Augen für Gaza. Besser, man denkt nicht an diesen schrecklichen Ort.


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Online-Flyer Nr. 621  vom 12.07.2017



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