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Kommentar
Wohnen, Dieseln, Verlautbaren
Gipfel der Demokratie
Von Ulrich Gellermann

Da waren sie: Die ersten paar tausend Mieter. Schon früh hatten sie sittsam eine Petition mit mehr als 70.000 Unterschriften am Kanzleramt übergeben. Jetzt füllten sie den Platz am Berliner Hauptbahnhof. Denn nebenan, im Kanzleramt, gab es den Gipfel der Verursacher zum Thema: 14 Verbände der Immobilien- und Baubranche. Zwar durfte zur demokratischen Garnierung auch der Mieterbund teilnehmen, aber ansonsten waren Verbände der Betroffenen ausgesperrt. Die hatten tags zuvor den Alternativen Wohngipfel bestiegen: Vertreter von 300 Gruppen stellten die Experten der alternativen Konferenz: Mieterinitiativen, Gewerkschaften und das Bündnis #Mietenwahnsinn.

Der Initiator des Regierungsgipfels, Bundesbau- und Innenminister Seehofer, war parallel echt beschäftigt: Hatte er doch dafür sorgen müssen, dass der Chef des Verfassungsschutzes seine Miete pünktlich zahlen kann. Maaßen, der rechte Unterstützer rechter Feuchtgebiete, musste dringend ein trockenes, warmes und gut bezahltes Plätzchen als Staatssekretär bekommen. Das hat viel Kraft gekostet: Die SPD musste geärgert werden, ein Schützer der Terrorgruppe NSU brauchte dringend Schutz, und vor allem wollte der präpotente Seehofer der Merkel klar machen, dass er immer Recht hat. Während sich das Wahlvolk draußen vor den Toren die Beine in den Bauch stand, spielte die Große Koalition drinnen Verstecken. Verantwortlich wie üblich: Keiner für nix.

Ganze zweieinhalb Stunden hatte der amtliche Gipfel fürs Wohnen in Deutschland reserviert. Für die vielen Menschen im Land, die unbehaust sind. Die Angst haben, auf der Straße zu landen. Die gerne eine beständige Heimat hätten. Angeblich für die spricht Seehofer vom Baukindergeld. Das die Wohnungsnot nicht löst. Bundesfinanzminister Olaf Scholz redet über „umfassende Mittelbereitstellung“, eine Bürokratiefloskel ohne jeden Inhalt. Und die Justizministerin Barley will nach ihrer misslungenen Mietpreisbremse eine „Weiterentwicklung von Regulierungen" vorstellen. Häh? Es sind auch diese sprachlichen Todgeburten, die den Tod der SPD verursacht haben.

Die fleißigen, ehrlichen und aufrechten Alternativen zu den Sprechmaschinen im Kanzleramt sammelten sich ordentlich auf dem Hinterhof des Berliner Bahnhofs. Dort störten sie niemanden. Auch die Menge des Publikums blieb überschaubar. Ja, wenn sie den Platz gesperrt, gar besetzt hätten. Das hätte der vermeintlichen Demokratie jene Würze geben können, die im Regelverstoß liegt. Denn die Regeln machen jene, die von ihnen profitieren. Denen Sand in die Regeln zu streuen, kann die Sprechmaschinen ins Stottern bringen. Das kann ganz neue Sätze, gar neue Regeln hervorbringen. Statt dessen ließ man auf dem Platz der Dauerkundgebung ein Immobilien-Portal ungestört für sich werben. Der ungestörte Laden gehört der Hellman & Friedman LLC, einer Private-Equity-Gesellschaft. Die sitzt in San Francisco, London und New York. Da schmunzelt man über die deutsche Regierung, da lacht man über deutsche Mieter.

Schon kommt der nächste Gipfel: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer und hochrangige Vertreter der Autoindustrie treffen sich zu einem Diesel-Gipfel. Nicht mal der ADAC, den man notfalls als Vertreter der betrogenen Diesel-Käufer ausgeben könnte, wurde geladen. Geschweige denn die Umweltverbände. Stattdessen darf Regierungssprecher Steffen Seibert ungestraft diesen Satz absondern: "Das Ziel der Bundeskanzlerin ist eine gemeinsame Positionierung der Bundesregierung bis Ende September. Und die Aussage gilt." Irre: Eine Positionierung, die gilt. Welche auch immer. Irgendwann, irgendwo, irgendwie. Diesen Gipfel des Verlautbarens reichte die TAGESSCHAU ohne zu fragen, ohne zu murren ohne einen Funken wirklichen Journalismus an ihre Zuschauer weiter.

Wähler werden in Deutschland gern wie fremde Kinder behandelt: Man redet mit ihnen in einer Sprache, die keiner versteht, man lässt sie schön Demokratie spielen, aber nur, wenn sie sich nicht dreckig machen. Und nach diesem langweiligen Spiel wundert man sich, dass diese Unmündigen nicht mehr mitspielen wollen und nennt es "Politik-Verdrossenheit". Das ist dann der Gipfel der Unverschämtheit.


Erstveröffentlichung am 24. September 2018 bei rationalgalerie.de – Eine Plattform für Nachdenker und Vorläufer

Top-Foto:
Ulrich Gellermann (aus Video-Interview: deutsch.rt.com)


Online-Flyer Nr. 675  vom 26.09.2018



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