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Globales
Vortrag im Haus Migrapolis in Bonn am 14.3.2019
Ist Kritik an der Politik des Staates Israel antisemitisch?
Von Martin Breidert

Ich beginne nicht mit einer Definition von Antisemitismus. Ich beginne auch nicht mit der Bibel, auch wenn ich evangelischer Theologe bin. Warum ich anders vorgehe, werden Sie im Laufe meines Vortrags verstehen. Ich beginne bei mir selbst. Als Student hatte ich Gelegenheit, zwei Jahre nach dem so genannten Sechstagekrieg für einige Wochen in einem Kibbuz in der Nähe des Gazastreifens zu leben. Wir arbeiteten in der Landwirtschaft unter Anleitung eines israelischen Vorarbeiters.

Auf den Feldern des Kibbuz arbeiteten auch Leute aus dem Gazastreifen. Stacheldraht umgab den Kibbuz. Nachts ging eine Patrouille um den Stacheldrahtzaun. Insgesamt aber war es ruhig und relativ friedlich. Wir machten eine Tour durch das Westjordanland, auch dort war es friedlich, noch nichts von israelischen Siedlungen. Wir fuhren mit dem Bus direkt an der libanesischen Grenze entlang. Kein Grenzzaun. Auch dort war es friedlich.

Nach meiner Pensionierung besuchte ich in den letzten sechs Jahren zweimal das Westjordanland, einmal mit einer taz-Reisegruppe, das andere Mal mit der katholischen Friedensbewegung Pax Christi und der internationalen Ärzteorganisation IPPNW. Was ich jetzt sah, war völlig verschieden von dem, was ich als Student erlebte. Militär, wohin man blickt. Siedlungen, wohin das Auge schaut. Die Mauer ist unübersehbar.

Überall Checkpoints mit Soldaten, wo Palästinenser, nicht die Touristen, oft stundenlang in sengender Sonne warten müssen. Die Palästinenser müssen sich durch Gitterkäfige quetschen, die mich an Tigerkäfige in einer Zirkus-Arena erinnerten. Siedler in Zivil, aber stets mit einem Maschinengewehr über der Schulter. Eine Trennung zwischen Militär und Zivilisten ist im besetzten Palästina nicht erkennbar. Eine Mauer, 8 Meter hoch, doppelt so hoch wie die Berliner Mauer.

An der Grenze zum Gazastreifen starben im letzten halben Jahr durch Scharfschützen mehr Menschen als in den 28 Jahren, als die Berliner Mauer die Menschen trennte. Dazu kommen ca. 27.000 Verletzte, die zum Teil bis an ihr Lebensende schwer behindert sein werden. Anders als bei der Berliner Mauer empören sich kaum Menschen bei uns. Unsere Medien rufen nur: Hamas, Hamas, Hamas! Die knapp 2 Millionen Einwohner von Gaza haben nur stundenweise Strom, das Wasser ist fast ungenießbar. Das israelische Militär verwendete in den Gazakriegen mit Uran angereicherte Munition. Medizinische Untersuchungen ergaben, dass durch die von den Israelis verwendete Munition die Zahl der Krebserkrankungen sprunghaft gestiegen ist, ähnlich wie das Unheil, das die US-amerikanischen Soldaten im Irak angerichtet haben. Israel wirbt auf Rüstungsmessen für seine Waffen mit dem Werbesiegel „war proofed“ – im Krieg erprobt.

Die UNO hat erklärt, dass der Gazastreifen im nächsten Jahr nicht mehr bewohnbar ist. Viele nennen den Gazastreifen ein Freiluftgefängnis. Das ist beschönigend. Ich war als Pfarrer mehrfach im Gefängnis – zu Besuchen. Wenn Häftlinge ihre Strafe abgesessen haben, werden sie frei gelassen. Diese Aussicht haben die Menschen in Gaza nicht. Amira Hass, jüdische Journalistin der liberalen israelischen Zeitung Haaretz, nannte unlängst den Gazastreifen ein KZ. Ich muss gestehen, ich war noch nicht im Gazastreifen. Ich hatte es auf verschiedenen Wegen versucht, jedoch vergeblich. Der Gazastreifen ist abgeriegelt.

Im Westjordanland sieht es nur geringfügig besser aus. Die israelische Regierung enteignet immer mehr Land der Palästinenser, und zwar ohne jede Entschädigung. Besonders schlimm ist es in Hebron. Jüdische Siedler haben in der Basarstraße ihre Wohncontainer auf die Flachdächer der Palästinenser gesetzt. Nicht nur das, sie werfen auch all ihren Unrat hinunter auf die Basarstraße, sodass die palästinensische Verwaltung Drahtgitter aufgehängt hat, um Steine und Unrat aufzufangen. Als unsere Reisegruppe in Hebron am Checkpoint stand, wurden wir gefragt, welcher Religion wir angehörten. Ich war schon in vielen Ländern der Erde. Bisher wurde ich bei keiner Kontrolle nach meiner Religion gefragt.

Als wir vom Flughafen Tel Aviv aus die Heimreise antreten wollten, fragte mich eine israelische Beamtin: Yehudi? Bist Du Jude? Wie kam sie auf diese Anspielung? Offenbar wegen meiner ausgeprägten Nase. Ausgerechnet eine israelische Beamtin äußerte sich mir gegenüber rassistisch. (Nebenbei: Ich habe jüdische Vorfahren väterlicher- und mütterlicherseits.)

Ich war Dozent für Sozialethik an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal mit Schwerpunkt Menschenrechte. Was ich jedoch im besetzten Palästina erlebte, war für mich das krasse Gegenteil dessen, was ich den Studierenden zu vermitteln versucht hatte. Immer wieder sagten christliche Palästinenser zu uns: „Wir wollen als Menschen behandelt werden und nicht wie Tiere.“ Damit komme ich zu den Menschenrechten.

I. Menschenrechte und Völkerrecht

1. Menschenrechte


International anerkannte Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit Jahrzehnten die systematischen Menschenrechtsverletzungen, die Israel begeht:

Amnesty International kritisiert die ungleiche Wasserversorgung und die völkerrechtswidrige Administrativhaft - ohne Anklage, ohne Rechtsanwalt, ohne Gerichtsverfahren, beliebig verlängerbar. Unicef prangert die Inhaftierung von Kindern an. Der UN-Menschenrechtsrat, UN OCHA OPT, der UN-Sonderberichterstatter für Palästina, Michael Lynk, Human Rights Watch, sie alle kritisieren Israels Umgang mit den Palästinensern. Sogar das Internationale Komitee vom Roten Kreuz verließ seine diplomatische Verschwiegenheit und kritisierte Israels Verletzungen des humanitären Völkerrechts.

Auch jüdische Menschenrechtsorganisationen in Israel und in der Diaspora prangern diese Verletzungen der Menschenrechte an. Da wirkt der Antisemitismusvorwurf besonders skurril, wenn Nichtjuden ihn gegen Juden äußern. Aber auch dafür gibt es ein Etikett: diese Juden werden als „Verräter“, als „Nestbeschmutzer“ oder als „selbsthassende Juden“ bezeichnet.

Peter Bingel hat in seinem Buch „Kirche, Altes Testament und der Nahostkonflikt“ nachgewiesen, dass die national-religiösen Juden aufgrund ihres Erwählungsglaubens glauben, des Völkerrechts und der Menschenrechte enthoben zu sein. Schon Ben-Gurion hatte gesagt, die UNO seien ein Nichts, hebr. Um Shmum. Das ist umso bemerkenswerter, als der Staat Israel mithilfe der UNO gegründet wurde.

Die FDP-Bundestagsfraktion brachte im Februar einen Antrag ein, der deutsche Vertreter im UN-Sicherheitsrat solle sich nicht an einer übermäßigen Verurteilung Israels beteiligen. Da verwechseln Herr Lindner und seine Fraktion Ursache und Wirkung. Die USA haben Dutzende Male durch ihr Veto eine Verurteilung verhindert. Einige Resolutionen wurden sogar von den USA mitgetragen. Will sich die FDP israelfreundlicher gebärden als die USA?

Weltweit unterstützen ca. 40 jüdische Organisationen sogar die Boykottbewegung BDS: Jewish Voice for Peace (USA), Jews for Justice for Palestinians (UK), European Jews for Just Peace, Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost (DE), die den Göttinger Friedenspreis erhalten hat. Weder die Kirchenvertreter noch die Grünen wollen wahrhaben, dass es mehr als nur das zionistische Judentum gibt. Nicht alle Juden in der Welt fühlen sich durch Netanjahus rechtsradikale Politik repräsentiert. Nicht alle Juden sind Zionisten, nicht alle Antizionisten sind Antisemiten, nicht alle Zionisten sind Juden. Es gibt leider auch evangelikal-christliche Zionisten, vor allem in den USA, die glauben, Israel müsse mit Gewalt die Palästinenser vertreiben, dann werde das Reich Gottes kommen. Das ist meilenweit entfernt von meinem Verständnis des Christentums.

Gemeinsam mit einem Vertreter der großen britisch-jüdischen Organisation Jews for Justice for Palestinians führte ich im November Gespräche mit EU- Abgeordneten in Brüssel. Diese Organisation fühlt sich überhaupt nicht von Netanjahu vertreten, ist aber in Großbritannien mitgliederstark.

2. Völkerrecht

Der Staat Israel verletzt systematisch das Völkerrecht. Israel hat die IV. Genfer Konvention 1951 ratifiziert. Wichtig ist Art. 49: Ein Besatzerstaat darf nicht die eigene Bevölkerung im besetzten Gebiet ansiedeln.

Israel missachtet die einstimmige Resolution 2334 des UN-Sicherheitsrats vom 23.12.2016, die besagt: Die Siedlungen sind nicht Teil des israelischen Staatsgebiets, wie israelische Schulbücher und Landkarten des israelischen Tourismusministerium behaupten.

Ostjerusalem gehört nicht zum israelischen Staatsgebiet. Bereits die UN-Res. 478 (1980) erklärte: Die Annexion von Ostjerusalem ist nach dem Völkerrecht nichtig.

Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom 9.7.2004 erklärt: Der Bau der Mauer, zu 80 % auf palästinensischem Gebiet, widerspricht dem Völkerrecht.

Schon Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats forderte (1967): Israel muss sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen.

Die Res. 194 der UN-Vollversammlung (1948) erklärte, palästinensische Flüchtlinge haben das Recht, in ihre Dörfer zurückzukehren. Oder sie haben Recht auf Wiedergutmachungszahlungen.

Liebe Freunde, Sie merken, ich bin zwar evangelischer Pfarrer, beziehe mich aber nicht auf die Bibel. Das macht auch wenig Sinn, nicht weil ich die Bibel für überflüssig halten würde, sondern weil 98 % der Palästinenser Muslime sind. Vor 10 Jahren haben palästinensische Christinnen und Christen einen Hilfeschrei an die Welt gerichtet, die so genannte Kairos-Palästina- Erklärung „Stunde der Wahrheit“. In fast allen evangelischen Landeskirchen haben die Beauftragten für den christlich-jüdischen Dialog ganz im Sinne Israels geantwortet, obwohl es um Land und nicht um Religion geht. In Jerusalem, im Heiligen Land sind drei Religionen zu Hause. Da hilft es keinen Schritt weiter, mit einem Verweis auf die Bibel Ansprüche auf das Land zu erheben. Gott ist kein Immobilienmakler.

Der 30-jährige Krieg war in Deutschland mindestens so verheerend wie der Zweite Weltkrieg. Damals hatten kluge und weise Köpfe erkannt, wir brauchen gemeinsame Regeln für das Zusammenleben jenseits unserer jeweiligen konfessionellen religiösen Bindung. So entstanden allmählich das Völkerrecht und die Menschenrechte. Dahinter dürfen wir nicht zurückgehen. Nicht erst Trump hat das Völkerrecht geschwächt, Israel begann damit vor 70 Jahren. Es hatte ausdrücklich die UN-Resolution 194 anerkannt, in der an dem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge festgehalten wurde. Das war Bedingung dafür, dass Israel Mitglied in der UNO werden konnte. Aber es hat danach das genaue Gegenteil beschlossen: das Property Absentee Law von 1951, das jedem Juden auf der ganzen Welt das Recht gibt, sich in Israel niederzulassen, aber allen Palästinensern verbietet, in ihre Dörfer zurückzukehren.

Das alles ist der Hintergrund, warum ich mich für die Rechte der Palästinenser einsetze. Wenn man mich deshalb als Antisemiten bezeichnet, nun gut, dann muss ich damit leben. Ich weiß mich dabei in guter Gesellschaft.

II. Wer ist antisemitisch?

Das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles, sozusagen die Inquisitionsbehörde für Antisemitismus, hatte Obama auf die Liste der zehn schlimmsten Antisemiten gesetzt. Warum? Er hatte kein Veto eingelegt gegen die letzte UN-Resolution vom Dezember 2016, die den Siedlungsbau verurteilte.

Die israelische Regierung hat auch die EU als antisemitisch bezeichnet, weil diese die Etikettierung von Produkten aus den Siedlungen fordert, statt ihnen das Label „Made in Israel“ zu erlauben. Man soll keine Nazi-Vergleiche machen, heißt es. Aber genau das tun die Freunde Israels, wenn sie den Aufruf, keine Produkte aus den Siedlungen zu kaufen, mit dem Nazi-Aufruf „Kauft nicht bei Juden!“ gleichsetzen. Die einen nahmen den Juden die ökonomische Existenz, ehe sie ihnen auch die physische Existenz raubten. Die anderen setzen sich für die Menschenrechte der Palästinenser ein. Die einen gebrauchten Gewalt, die anderen handeln völlig gewaltlos. Wer diese beiden Aufrufe gleichsetzt, setzt Gandhi mit Hitler gleich. Ob BDS, In welcher Form auch immer, sinnvoll ist, ist eine ganz andere Frage. Jedenfalls ist BDS nicht antisemitisch, das sagt auch der Antisemitismusexperte Wolfgang Benz.

Die EU gibt ganz viele Fördergelder nach Israel, z. B. Horizon 2020. Ich hatte im November Gelegenheit, in Brüssel mit EU-Abgeordneten aus mehreren Ländern darüber zu sprechen. Der britische Vorsitzende der Labourparty, Jeremy Corbyn, muss um seinen Vorsitz fürchten und damit um die Möglichkeit, Premierminister zu werden, weil die Israel-Lobby ihn des Antisemitismus bezichtigt. Ich sprach in Brüssel darüber mit Abgeordneten von Labour.

Als ich vor zwei Jahren einen Vortrag in Bonn halten sollte, schrieb der frühere grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck an alle Bonner Kommunalpolitiker, ich sei ein Antisemit. Zwei Tage darauf erhielten genau dieselben Bonner Kommunalpolitiker Mails von einem Journalisten von der Jerusalem Post, Benjamin Weinthal, inhaltlich genau abgestimmt. Er steigerte sich noch und schrieb, ich sei ein Hardcore-Antisemit. Er sicherte sich jedoch juristisch ab und schrieb: Kritiker sagen, Martin Breidert ist ein Hardcore-Antisemit. Aber er benennt die Kritiker nicht. Ich kann mit diesem Vorwurf leben. Ich hatte in den letzten sechs Jahren siebenmal jüdische Übernachtungsgäste in meiner Wohnung. Als ich Gideon Levy, Journalisten der liberalen israelischen Zeitung Haaretz von dem Vorwurf seines Kollegen Benjamin Weinthal erzählte, lächelte er mich an und sagte: Nimm es als eine Ehre!

Derselbe Benjamin Weinthal hatte vor drei Jahren meine jüdische Freundin Lillian Rosengarten in zwei Artikeln in der Jerusalem Post übelst verleumdet. Im Alter von drei Jahren war sie mit ihren Eltern aus Nazi-Deutschland in die USA geflohen. Sie war auf einem jüdischen Boot nach Gaza, das die Blockade durchbrechen wollte. Die israelische Marine kaperte das Boot in internationalen Gewässern. Sie wurde ins Gefängnis geworfen und sie, die Jüdin, darf 10 Jahre nicht mehr nach Israel einreisen. Sie schrieb ein Buch mit dem deutschen Titel: „Ein bewegtes Leben. Von den Schatten Nazi- Deutschlands zum jüdischen Boot nach Gaza“.

Lillian Rosengarten war in Frankfurt anwesend, als ein Stolperstein für ihren Großvater gesetzt wurde. Ich begleitete sie auf ihrer Vortragsreise durch Deutschland. Überall sagte sie: „Als ich in Yad Vashem war und sah die Liste von mehr als einer Million jüdischer Kinder, die von den Nazis ermordet wurden, ging mir der Gedanke durch den Kopf: Wären meine Eltern nicht rechtzeitig mit mir von Frankfurt nach New York geflohen, dann stünde mein Name auch auf dieser Liste.“ Weinthal nannte sie in seinen Artikeln dennoch eine Antisemitin und Holocaustleugnerin. Das ist verleumderisch.

Lillian Rosengarten stand nachts um Halbzwölf in der Tür ihres Zimmers in Bad Honnef und sagte zu mir: „Martin, ich muss meine Vortragsreise abbrechen, ich kann nicht mehr.“ Sie telefonierte mit jüdischen Freunden in den USA und setzte dann tapfer ihre Vortragsreise fort. Jüdische Leser der Jerusalem Post schrieben Kommentare im Netz: „Du bist eine Hexe, Du bist eine Hure.“ Andere schrieben gar: Man sollte Dich in ein KZ stecken und Dich in einer Gaskammer umbringen.“ So schreiben Juden über eine Jüdin.

Aber auch Deutsche zeigen mit dem Finger auf Juden und bezichtigen sie des Antisemitismus, so der Göttinger Oberbürgermeister, die Göttinger Universitätspräsidentin und der Göttinger Sparkassendirektor gegenüber der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost (JS). Nirit Sommerfeld, Deutsch-Israelin, sagte dazu bei ihrer Laudatio für den Göttinger Friedenspreis an die JS: „Wie absurd, wie anmaßend, im Jahre 2019! Diese Deutschen sind Kinder und Enkel der Täter, und sie sprechen zu Juden, deren Eltern oder Großeltern Naziopfer waren!“

Der US-amerikanische Botschafter Grenell forderte in einem Artikel in der Jerusalem Post, den Benjamin Weinthal geschrieben hatte, die deutschen Banken sollten der JS die Konten kündigen. Das ist übergriffig. Der Kampf geht also weiter. Es kann nicht sein, dass es für in Deutschland lebende Juden nicht erlaubt sein soll, von der israelischen Regierung die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern. Sie leben in Deutschland leben und sind zum Teil zugleich israelische StaatsbürgerInnen.

Liebe Freunde, ja, es gibt Antisemitismus, in Deutschland und in anderen europäischen Ländern, auch in den USA. Aber es gibt keinen Antisemitismus, geäußert von „selbsthassenden Juden“. Ein Mann erschoss in Pittsburgh elf Juden während des Synagogengottesdienstes. Dieser christliche Rassist ermordete liberale Juden, weil sie geflüchtete Menschen unterstützten. Dieser Antisemitismus ist eine Form von Rassismus, den es leider überall in der Welt gibt, nicht nur gegen Juden. Von einem Moslem habe ich das kleine Sätzlein gelernt: Mensch ist Mensch. Es ist banal, aber ich habe mich nicht gescheut, es in meinen Vorlesungen zu den Menschenrechten zu zitieren. – Was ist Antisemitismus?

1. Antisemitismus ist, wenn man Juden ablehnt, weil sie Juden sind.

Es gibt noch aus der Frühzeit unserer Evolution diese Verhaltensweisen: Wir hier – dort die anderen. Das findet sich nicht nur gegenüber Juden. Das gibt es gegen Sinti und Roma, aber vor allem auch gegen Muslime. In unserem Wuppertaler Pfarrhaus wohnte ein Jahr lang eine kurdisch-muslimische Familie bei uns im Kirchenasyl. Wir teilten Küche und Bad und sind noch heute nach fast zwei Jahrzehnten befreundet.

Ich betreue seit drei Jahren eine afghanische Familie mit vier wunderbaren Kindern. Die Schule hat der 14 Jahre alten Tochter eine „überdurchschnittliche soziale Kompetenz“ bescheinigt. Sie absolvierte erfolgreich Praktika in einem katholischen Kindergarten und in einem katholischen Krankenhaus. Alles war gut, das Personal nett, die Patienten freundlich. Doch ein älterer Herr sagte zu ihr: Scheiß Ausländer! Auch das gibt es in Deutschland. Aber darüber berichten Medien viel seltener als über vermeintlichen oder wirklichen Antisemitismus. Antisemitismus ist eine Form von Rassismus.

Der Expertenbericht der Bundesregierung zum Antisemitismus vom April 2017 machte eine interessante Umfrage (S. 69): Wen möchten Sie nicht als Nachbarn haben?

Osteuropäer 14 %
Muslime 21 %
Asylbewerber 29 %
Sinti/Roma 31 %
Juden 5 %
Italiener 4 %

Die Internationale Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) hat sich folgende, gesetzlich nicht bindende Arbeitsdefinition ausgedacht: „Der Antisemitismus ist eine bestimmte (!) Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann (!). Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische (!) Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Unerklärlich ist mir, wie sich Antisemitismus gegen nichtjüdische Personen richten kann.

Die Europäische Agentur für fundamentale Rechte (Fundamental Rights Agency -FRA) hat inzwischen diese Definition von ihrer Website genommen, weil sie völlig vage und unbestimmt ist, aber die EU-Kommission arbeitet weiter mit ihr, ebenso auch die Bundesregierung, ebenso die Beauftragten des Bundes und der Länder zur Bekämpfung von Antisemitismus.

2. „Sekundärer“ Antisemitismus?!

Als sekundärer Antisemitismus wird bezeichnet, wenn Menschen sagen: Es muss jetzt endlich Schluss sein mit dem Holocaust! (Schuldabwehr, Erinnerungsabwehr)

Holger Knothe behauptet in seiner Dissertation „Eine andere Welt ist möglich - ohne Antisemitismus? Antisemitismus und Globalisierungskritik bei Attac“, Begriffe wie Finanzkapital, Wall Street oder Hochfinanz seien „affin“ oder „ anschlussfähig“ zu antisemitischen Stereotypen. Man muss schon ziemliche antisemitische Phantasien hegen, um auf solche Assoziationen zu kommen.

3. „Israelbezogener“ Antisemitismus (?)

Antisemitismusforscher sagen: Weil es nicht chique ist, sich als Antisemit zu outen, wählt man den Umweg über den „jüdischen Staat“ Israel. Der Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer nennt dies „Umwegkommunikation“.

Die Bundesregierung hat, wie schon erwähnt, die vage IHRA-Definition übernommen und ergänzt: „Darüber hinaus kann (!) auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“

Der frühere israelische Minister Natan Sharanski hat dafür die 3 D-Methode erfunden. Sie wurde von vielen Medien und Organisationen übernommen: Antisemitisch ist, wer Israel delegitimiert, dämonisiert, doppelte Standards setzt, also an Israel schärfere Maßstäbe anlegt als an andere Staaten. Doch wer bestimmt, wann diese Kriterien erfüllt sind? Die Freunde Israels sagen notorisch. „Natürlich ist Kritik am Staat Israel erlaubt.“ Aber wehe, jemand macht mit diesem Satz ernst.

Oft höre ich: „Warum kümmern Sie sich nur um das Unrecht, das Israel begeht? Warum nicht um Tibet, Sudan, Myanmar, Nordkorea, Iran, Kurden,…?“ Das unterstellen mir manchmal Leute, die gar nicht wissen, wo ich sonst in meinem Leben engagiert bin oder war. Noch vor dem Kosovo-Krieg war ich z.B. in einer Rede vor mehr als 50.000 Kosovoalbanern auf dem Marktplatz von Bonn für die Freiheit der Kosovaren eingetreten.

Mein Land, dessen Staatsbürger ich bin, pflegt besondere Beziehungen zu Israel. Die Bundeswehr übt nicht mit chinesischen Soldaten den Häuserkampf. Wir liefern auch keine U-Boote nach Myanmar. Die EU schickt keine Fördergelder nach Nordkorea. Was sollen solche Ablenkungsmanöver? Ich nenne das gern das Schülerargument: Wenn Lehrer Schülern irgendeine Unregelmäßigkeit vorhalten, dann kommt sofort: Aber die anderen haben doch auch.... Will sich die angeblich einzige Demokratie im Nahen Osten etwa mit Nordkorea vergleichen?

Doppelte Standards? Israel selbst wendet ständig doppelte Standards an: israelisches Zivilrecht für Siedler, aber verschärftes Militärrecht für Palästinenser im besetzten Palästina. Die Menschenrechtsorganisation Adalah listet mehr als 40 Gesetze auf, die Palästinenser, die in Israel leben, diskriminieren. So können Palästinenser nur in wenigen Ausnahmen Land erwerben. Das Nationalitätsgesetz vom Juli 2018 degradiert die palästinensischen Israelis per Gesetz offiziell zu Bürgern zweiter Klasse. Daniel Barenboim schrieb zu dem Nationalitätsgesetz in der ZEIT: „Ich schäme mich heute, Israeli zu sein“ (ZEIT 27.7. 2018)

Der Jüdische Nationalfonds, der in Deutschland sogar als gemeinnützig gilt, vergibt satzungsgemäß Land nur an Juden, obwohl er damit gegen das Diskriminierungsverbot von Art 3 GG verstößt.

Der israelische Soldat Elor Azaria hatte vor 3 Jahren einen wehrlosen am Boden liegenden Palästinenser hingerichtet. Er bekam 18 Monate Gefängnis, wurde aber bereits nach 9 Monaten entlassen. Die 16 Jahre alte Palästinenserin Ahed Tamimi gab einem israelischen Soldaten eine Ohrfeige, nachdem Soldaten wenige Tage zuvor ihrem 15 Jahre alten Bruder in den Kopf geschossen hatten: 8 Monate für eine Ohrfeige ohne vorzeitige Entlassung.

Israel reißt palästinensische Gebäude nieder, die ohne Baugenehmigung errichtet wurden. Siedlungen, die sogar nach israelischem Recht illegal sind, werden verschont. Die Verteilung des Wassers ist so ungerecht, dass ein Bericht in den ARD-Tagesthemen von „Wasser-Apartheid“ sprach. Das alles sind doppelte Standards, das ist Diskriminierung.

Delegitimieren? Israel delegitimiert sich selbst, indem es Menschenrechte und Völkerrecht systematisch missachtet.

Dämonisieren? Israelische Politiker dämonisieren Palästinenser. Einige Beispiele: Premierminister Menachem Begin sagte: „Araber sind Tiere auf 2 Beinen.“ (ZEIT 22.11. 2012) Premierminister Jitzchak Shamir:“ Araber sind Heuschrecken.“ (ZEIT 22.11. 2012) Justizministerin Ajelet Shaked: Man soll arabische Frauen töten, damit sie keine Schlangen gebären (Wikipedia engl.). Hier wird Palästinensern das Menschsein abgesprochen! Der frühere Verteidigungsminister Avigdor Lieberman: „Arabern, die sich nicht loyal verhalten, soll man den Kopf abhacken.“ (SZ 10.3. 2015) Nach deutschem Recht ist damit der Straftatbestand der Volksverhetzung und der Morddrohung erfüllt.

Jedes Jahr feiern jüdische Israelis ihren Sieg in dem sog. 6-Tagekrieg: Tausende laufen in die Altstadt von Jerusalem und rufen laut: Tod den Arabern! Rassismus und Dämonisierung finden sich überall in der Welt, auch in Israel und in Palästina. Umso wichtiger ist der Grundsatz: Mensch ist Mensch.

Der Konstanzer Wissenschaftler Wilhelm Kempf hat die empirische Studie herausgegeben: „Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee“ (2015). Sein überraschendes Ergebnis: Bei denen, die sich für die Menschrechte der Palästinenser einsetzen, sind antisemitische Klischees weniger verbreitet als bei jenen, die sich als Freunde Israels bezeichnen.

Fazit: Die Jagd auf vermeintliche israelbezogene Antisemiten dient der Ablenkung von der Realität in Israel und Palästina. Damit soll der Staat Israel gegen jegliche Kritik immunisiert werden. Mit dem Verweis auf vermeintlichen Antisemitismus hat die Israel-Lobby ungefähr 100 Veranstaltungen in den letzten 5 Jahren in Deutschland verhindert. Damit ist die Meinungsfreiheit massiv bedroht, auch hier in Bonn. So will die Bonner FDP beantragen, alle angeblich antisemitischen Veranstaltungen in Bonn zu unterbinden. Der Vortrag des jüdisch-israelischen Ökonomen Dr. Shir Hever musste hier in Bonn mehrfach verlegt werden, weil Nichtjuden diesen Juden als Antisemiten verleumdeten.

Schluss:

Zum Abschluss möchte ich hinweisen auf ein Phänomen. Es wurde im letzten Jahr eine Interessengemeinschaft „Juden in der AfD“ gegründet. Einige fielen aus allen Wolken. Meine jüdischen Freunde, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, überrascht das gar nicht, mich auch nicht.

Schon bei den Pegida- Demonstrationen wurden neben deutschen auch israelische Fahnen geschwenkt. Der Herausgeber der Jüdischen Rundschau, Dr. Rafael Korenzecher, sprach sich nach der Bundestagswahl für eine Koalition von CDU/CSU mit FDP und AfD aus, allerdings ohne Frau Merkel. Wenn Sie seinen Leitartikel für die Januarausgabe der Jüdischen Rundschau im Netz lesen, werden Sie merken, dass er sich rechts von der AfD bewegt. Die Zeitung schreibt konsequent Palästinenser in Anführungszeichen. Es erinnert die Älteren unter uns an die DDR, die von der Springer-Presse nur mit Gänsefüßchen erwähnt wurde.

Israelische Regierungsvertreter empfingen Delegationen mit Geert Wilders und vom französischen Front National. Netanjahu versteht sich bestens mit Viktor Orban. Er fuhr zur Amtseinführung von Präsident Bolzonaro nach Brasilien usw. Darüber sprach vor einem Monat Shir Hever in Bonn.

Wie kann das alles sein? Ich denke, ganz einfach. Der gemeinsame Nenner ist Islamfeindlichkeit. Anders Breivik, der Attentäter von Oslo, ein absolut rechtsradikaler Terrorist, ist ein Bewunderer Israels, denn Israel sei ein Bollwerk gegen den Islam, der Europa angeblich bedroht. In dem Gründungsbuch des jüdischen Staates, in dem Büchlein „Der Judenstaat“ schrieb Theodor Herzl vor mehr als 100 Jahren, der in Palästina zu gründende jüdische Staat solle ein Bollwerk gegen die asiatische Barbarei werden.

Es wird in Deutschland über muslimischen Antisemitismus oder importierten Antisemitismus gesprochen, bis die Bundesregierung das Amt eines Antisemitismusbeauftragten schaffte. Es gibt aber keinen Beauftragten gegen Rassismus oder gegen Islamfeindlichkeit. Eine solche Bevorzugung birgt für die privilegierte Minderheit der Juden natürlich auch Risiken. Dr. Felix Klein ist jetzt also „Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus“. Er war vom Zentralrat der Juden für dieses Amt vorgeschlagen worden. Sein Aufgabenbereich überschneidet sich mit dem des Zentralrats, der seinerseits nur knapp die Hälfte der Juden in Deutschland repräsentiert. Jetzt hat er einen christlichen verbeamteten Partner. Es fehlt allerdings ein männlicher Bundesbeauftragter für weibliches Leben und gegen Sexismus. Iris Hefets, Vorsitzende der Jüdischen Stimme, sagte bei der Preisverleihung in Göttingen ironisch: „Wir in der Jüdischen Stimme konnten den angeblichen „Schutz“ des neuen Bundesbeauftragen bereits am eigenen Leibe erfahren.“

Mich als Theologen hatte es enttäuscht, dass Theodor Herzl in seinem programmatischen Buch „Der Judenstaat“ keine einzige Bibelstelle zitiert, die den Anspruch auf das Heilige Land legitimieren soll. Religion hatte ihn gar nicht interessiert. Stattdessen erklärte er, ein künftiger Jüdischer Staat werde ein „Bollwerk gegen die asiatische Barbarei“ sein. Damit trifft er sich mit den Rechtsradikalen in unserm Land, aber auch mit Teilen der Grünen und der Linken.

Religion interessierte die Zionisten vor 1967 überhaupt nicht, erst nach der Eroberung des Westjordanlandes, als die sog. Klagemauer und die Patriarchengräber in die Hände der israelischen Armee gefallen waren, wurde der Konflikt, bei dem es nicht um Religion, sondern um Land geht, religiös überhöht.

Die radikalen Siedler, die längst die Politik in Israel maßgeblich bestimmen, berufen sich auf das Alte Testament. Dass die biblischen Propheten die Verheißung des Landes an die Einhaltung von Recht und Gerechtigkeit gebunden hatten, interessiert sie überhaupt nicht. Sehr merkwürdig finde ich, dass die evangelischen Kirchen in Deutschland den Dialog mit einem idealisierten Judentum suchen, dem das real existierende Judentum der Siedler Hohn spricht. Martin Buber und Hannah Arendt sind in Israel leider nur noch Fußnoten der Geschichte.

Avi Primor, der frühere israelische Botschafter in Deutschland brachte die Frage nach einem angeblich wachsenden Antisemitismus auf den Punkt: Nicht der Antisemitismus nimmt zu, die Sympathie für Israel nimmt ab.

Online-Flyer Nr. 697  vom 20.03.2019

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