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Lokales
Eine Artikelserie anlässlich des Einsturzes des Historischen Archivs der Stadt Köln vor 10 Jahren
Das Gewissen von Köln (Teil 4)
Von Tanya Ury

Vor zehn Jahren, genau am 3. März 2009, stürzte das Historische Archiv der Stadt Köln ein. Betroffen davon ist auch Tanya Ury, eine in Großbritannien aufgewachsene Jüdin, die in den frühen 90er Jahren als Künstlerin nach Deutschland gezogen ist, um den Holocaust und ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten, aber auch um zu beobachten, wie Deutschland sich nach Auschwitz und nach der Wende entwickelt. Seit vielen Jahren ist sie Mitglied der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost". Vor zehn Jahren hat Tanya Ury anlässlich des Archiveinsturzes eine Folge von vier Artikeln geschrieben und in einer Kölner Tageszeitung veröffentlicht. 2019 – zehn Jahre später – ist aufgrund ihrer aktuellen Erfahrungen mit der Stadt Köln ein fünfter Artikel hinzugekommen, den die NRhZ in Ausgabe 694 veröffentlicht hat. Es folgen die vier 2009 entstandenen Artikel – hier der vierte und letzte der vier.


Ich verstehe sehr gut, dass Peter Zadek als deutscher Jude, der vertrieben wurde und Verwandte in Deutschland durch Vernichtung verloren hat, sich gezwungen fühlte, später so skandalös mit seinen Theaterstücken umzugehen und warum die Nachkriegs-Deutschen so gerne Zeugen seiner Skandale waren.

Nun ist Zadek gestorben. Ich kannte ihn nicht gut, aber ich trauere, denn aus meiner frühesten Kindheit bleiben mir Erinnerungen an ihn, die auch mit meinem Vater verbunden sind: Peter Ury und Peter Zadek waren als junger Männer – beides jüdische Flüchtlinge aus Deutschland – im London der Vierziger- und Fünfziger-Jahre die engsten Freunde; Peter Zadek war in Berlin 1926 geboren worden, und somit 6 Jahre jünger als mein Vater; seine Familie emigrierte 1933 nach England.

Für Zadeks erste Theaterstücke in England hat mein Vater die Musik komponiert und gespielt. Mit seinem Tod ist nun ein weiteres Bindeglied zur Vergangenheit und zu meinem Vater (der schon 1976 verstarb) verschwunden – auch im wörtlichen Sinn, denn diese Kompositionen hatte ich dem Stadtarchiv in Köln geschenkt. Sie werden vielleicht nicht wieder auftauchen – zumindest hat sich fünf Monate nach dem Einsturz bei mir als Nachlassgeberin noch niemand vom Historischen Archiv gemeldet, um mitzuteilen, ob etwas sichergestellt worden ist.

Zadek hatte seinen großen Erfolg nicht in England, sondern in Deutschland – die Kontakte hatten mein Großvater und mein Großonkel Alfred und Wilhelm Unger – für ihn organisiert, deren Nachlässe ebenfalls im Stadtarchiv so zu sagen „sichergestellt“ worden waren. Die Ungers waren Theaterleute, die Zadek in seiner Autobiographie „My Way“ mehrmals erwähnt, ebenso wie auch meinen Vater:

„Ich befreundete mich sehr mit ihm, und alles, was ich über Musik gelernt habe, habe ich von ihm gelernt. Einmal fuhren wir zusammen nach Cornwall, mieteten uns dort ein Haus mit Klavier und schrieben zusammen eine Oper. Sie heißt Hinzelmeier, nach dem Märchen von Theodor Storm. Peter Ury hat zu vielen Gedichten von Erich Fried die Musik geschrieben.“ (1)

Das war um 1956, und ich reiste als Kleinkind mit auf Urlaub nach Cornwall. Tagsüber gingen wir Kinder (von Ury und Zadek), mit den Müttern am Strand spazieren und spielten, während die Väter zuhause an der Oper gearbeitet haben. Später legte ich mich dann auf den Boden unter dem Klavier, während mein Vater spielte, um die Klänge beim Üben der neuen Musikstücke mit dem ganzen Körper zu genießen.


Peter Ury am Klavier mit kanadischer Uniform – Freund Peter Singer im Hintergrund, ca. 1944

Es war die Geschichte von „Timothy“, der sich in ein Rosenmädchen verliebt, aber statt sich der Liebe hinzugeben, in die Welt auszieht auf der Suche nach der Stein der Weisen, um erst als alter Mann zu erkennen, dass die Liebe die reinste Form von Weisheit sei. Als sie sich am Ende der Oper wieder treffen, sind Timothy und das Rosenmädchen schon zu alt geworden, um ein gemeinsames Leben in Liebe und Weisheit zu genießen.

Ich kann mich noch an viele Passagen dieser Oper erinnern, die zwar nie veröffentlicht wurde – einige Arien daraus wurden aber bereits damals aufgenommen (mit Pamela Bowden, Heather Harper und Wilfred Brown). Diese Aufzeichnungen habe ich ebenfalls dem Historischen Archiv geschenkt, auch sie sind wahrscheinlich vernichtet, und es existieren keine Kopien davon. Eine dieser Arien sang der Teufel, der die Welt mit einer Bombe in die Luft sprengen wollte, eine andere handelte von einer Frau, die den ganzen Tag buk – szenisch sollten Pfannkuchen durch einen Kamin auf die Bühne geschossen werden – und eine weitere ging über „Jasper“, den schwarzen Raben, der Timothy als Freund durch die Welt begleitete auf der Suche nach Weisheit. Außerdem gab es eine Musik für die Rosenmädchen. Der Musikstil meines Vaters war spätromantisch.

Hinzelmeier wurde auf dem und für das Klavier komponiert – die Kompositionen waren noch nicht für Orchester bearbeitet. Einige Jahre nach dem Tod meines Vaters hat Zadek meine Mutter in London besucht, um sie um Erlaubnis für die Aufführung zu bitten – er hatte die finanziellen Möglichkeiten, die Oper in Deutschland zu inszenieren und wollte die Klavierstücke für Orchester bearbeiten lassen. Nur haben meine inzwischen verstorbene Mutter, Sylvia Ury, und Peter Zadek sich leider nicht einigen können – und so wurde diese Gelegenheit verpasst.


Peter Zadek (fotografiert von Tanya Ury 2000 für die Kurzgeschichte "Holding the Baby")

Etwa 15 Jahre später – im Jahr 2000 – habe ich mich dann mit Zadek in Stuttgart getroffen anlässlich seines Theaterstücks „Hamlet“. Ich fragte ihn nach Möglichkeiten, die Kinderoper endlich einmal zu inszenieren, denn ich würde mich mit ihm sehr wohl einigen und ihm die Original-Partitur, die zu diesem Zeitpunkt noch unversehrt im Stadtarchiv Köln lagerte, zur Bearbeitung zukommen lassen. Aber der richtige Zeitpunkt schien verpasst – die Sponsoren für dieses bestimmte Projekt hatten sich zurückgezogen, so meinte Zadek.

Am 29. Juli habe ich das Stück Land wo früher mitten in Köln das Stadtarchiv stand, das als „Loch“ bezeichnet wird, gefilmt. Zehn Prozent der dort eingelagerten Archivalien sind noch unter der Erde dort begraben – alle Such- und Rettungsaktionen sind fast zu Ende gebracht worden. Inzwischen ist man mit den aufwändigen Erfassungs- und Restaurierungsarbeiten der zerstörten Archivalien fortschritten, die Jahrzehnte dauern wird.

Als ich über die Erdhaufen ging, die Bagger in Teilen des „Lochs“ aufgeschüttet hatten, trat ich fasst auf eine Rolle schwarzes Videoband, das aus seiner Kassettenhülle entfernt worden war, und aus den oberen Erdschichten herausguckte. Dieses Band wurde dann von den Berufsfeuerwehrleuten, die mich und den Kameramann begleiteten, sichergestellt.

Zufall war es, dass dieses Videoband aufgefunden wurde, aber es war in keinem guten Zustand. Ich musste wieder an weitere Sachen denken, die mir teuer waren und die noch in der Erde liegen könnten, wie etwa die gelben Judensterne meiner Großeltern (die sie in Nazideutschland auf ihre Mäntel aufnähen mussten), oder der Brief, den mein Vater Peter Ury 1944 als letztes Lebenszeichen von seiner Mutter, Fanny Hedwig Ury, aus Auschwitz erhalten hat – sie sagte, dass es ihr gut ging – und die Originalausgaben der Bücher meines Großvaters Alfred und seines Bruder Wilhelm Unger – Kopien davon wurden vor der Bücherverbrennung gerettet, um hier in diesem schwarzen Loch für immer zu verschwinden.


Familie Ury (v.l.n.r. Hedwig, Peter, Sigmar Ury, Nathan Ullmann, unbekannt, Gertrud, Mariele Ullmann), ca. 1936


Fußnote:

1 S.171, „My Way – eine Autobiographie”, Peter Zadek, Kiepenheuer & Witsch, 1998, ISBN 3-462-02753-0


Siehe auch:

Das Gewissen von Köln (Teil 5)
NRhZ 694 vom 27.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25681

Das Gewissen von Köln (Teil 1)
NRhZ 695 vom 06.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25700

Das Gewissen von Köln (Teil 2)
NRhZ 695 vom 13.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25725

Das Gewissen von Köln (Teil 3)
NRhZ 695 vom 20.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25745

Online-Flyer Nr. 698  vom 29.03.2019



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