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Kommentar
Unmut über Ungerechtigkeit wächst
Vertrauen in Parteien schwindet
Von Ulrich Gellermann

Simon Vaut hatte alle Chancen EU-Abgeordneter zu werden. Simon Vaut? Das ist eigentlich nur ein Mann aus der dritten Reihe der SPD-Funktionäre, ein unwesentlicher Beamter des Bundeswirtschaftsministeriums und ein Laufbursche für die Parteispitzen. Aber zugleich ist er ein klassisches Muster für jene Parteiendemokratie, der in einer jüngsten Studie der Bertelsmann-Stiftung wachsendes Misstrauen in der Bevölkerung attestiert wird. Vaut hat Teile seines Lebenslaufs erfunden und eine Lebensgefährtin noch dazu. Um an den begehrten Posten eines EU-Abgeordneten zu kommen, an dessen schönes Gehalt, an dessen prima Pension und an dessen geschwollenes Renommee. Denn haste einen EU-Job, dann biste was. Im Verein, in der Nachbarschaft, auf den Empfängen der Wirtschaft und vor allem in der Partei. Denn die Partei, der wesentliche Versorgungs- und Beziehungs-Apparat bürgerlicher Demokratie, ist der Filz, aus dem die Karrieren sind. Sie ist die Mutter der legalen Korruption. Sie ist längst dem Mythos der staatsbürgerlichen Verantwortung entwachsen und gilt, innerhalb wie außerhalb der politischen Organisationen, nur noch als Sprosse auf der Karriereleiter. Besorgst Du mir einen Posten, dann besorge ich Dir Wähler. Stimmst Du für mein Projekt, dann finde ich Investoren für Deins. Simon Vaut hat seinen Patz als EU-Spitzenkandidat zur EU-Wahl verloren. Ein Gewinn für die Demokratie wäre er nur, wenn er als Fall für den Staatsbürgerkunde-Unterricht aufgearbeitet würde. Als Beispiel für den Verfall der Parteiendemokratie.

Die jüngste Bertelsmann-Studie über das „Schwindende Vertrauen in Politik und Parteien“ geht erstaunlich ehrlich mit den „Gefahren für die gesellschaftliche Substanz“ um. Denn, so die Bertelsmänner, wenn dem Schwund nicht entgegengesteuert wird, habe der ernsthafte Folgen für den „Gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Eine der Schlüsselzahlen der Studie findet sich im Misstrauen gegenüber den politischen Parteien: 2017 hatten nur neun Prozent der Befragten Vertrauen in die Parteien, 2018 zehn Prozent. Vor allem die großen Volksparteien haben bei Wahlen drastisch verloren. Das Vertrauen in die Bundesregierung ist folgerichtig auch merklich gesunken - von 30 Prozent im Jahr 2017 auf 24 Prozent im Jahr 2018. Die Wissenschaftler der Studie sprechen von einem "politischen Riss", der durch die Gesellschaft geht: "Das Misstrauen resultiert aus negativen Erfahrungen mit der politischen Arbeit von Parteien, aus unerfüllten Erwartungen und Enttäuschungen. Das Vertrauen leidet, wenn Bürger das Gefühl haben, dass gesellschaftliche Verhältnisse nicht gerecht sind oder sie gesellschaftlichen Zusammenhalt vermissen. Bürger, die das Gefühl haben, die Politik kümmere sich nicht um ihre Probleme, verlieren das Vertrauen."

Es sind vor allem Menschen mit "niedrigem sozialen Status", die den Parteien weniger vertrauten. Mehr als 40 Prozent der Befragten mit einem Nettoeinkommen von unter 3.000 Euro haben gar kein Vertrauen. Vor allem das Thema der sozialen Gerechtigkeit spiegelt sich im Vertrauen und Misstrauen gegenüber Parteien. Rund 60 Prozent der Befragten, die die Gesellschaft als sehr ungerecht empfinden, haben kein Vertrauen. Bei den stark Verunsicherten liegt der Anteil bei 56 Prozent. Zwar schreiben die Autoren der Studie von einem "Gefühl" von sozialer Ungerechtigkeit. Aber es wäre für die Bertelsmann-Stiftung ein leichtes gewesen, dieses Gefühl mit harten Fakten zu untermauern: In Deutschland besitzen zehn Prozent der Bevölkerung mehr als 50 Prozent des gesamten Nettovermögens. Rund 15,5 Millionen Menschen in Deutschland waren 2017 von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Arbeitslosenzahlen scheinen zu sinken, zugleich steigt die Zahl der Almosenempfänger. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung stellt fest, dass zudem die räumliche Trennung zwischen arm und reich weiter zunimmt. "Wir haben herausgefunden, dass die soziale Segregation zwischen 2004 und 2014 in gut 80 Prozent der Städte angestiegen ist".

An der weiteren sozialen Spaltung der Gesellschaft ist die Bertelsmann-Stiftung nicht unerheblich beteiligt. Die Gewerkschaft "ver.di" hat analysiert, dass Bertelsmann die treibende Kraft bei Privatisierungen und beim Abbau sozialer Leistungen sei. Unvergessen ist die Rolle der Stiftung bei der Erfindung der Agenda 20/10. Das asoziale Machwerk ging einher mit der Umwandlung der SPD von einer Partei, die immerhin ein soziales Gewissen für sich in Anspruch nahm, zu einer marktradikalen Gruppierung, die an der Spaltung der Gesellschaft wesentlichen Anteil hat. Zwar bekommt die Partei dafür bei Wahlen regelmäßig Quittungen, aber die Zerstörung sozialdemokratischer Milieus, die mit der Agenda einherging, ist auf absehbare Zeit nicht reversibel.

In allen Parlamentsparteien ist die Illusion verbreitet, man habe Teil an der Macht. Eine Illusion, die sich auch auf Wähler übertragen hat, die annehmen, man könne mit dem Stimmzettel gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen. Eine Sinnestäuschung, die einfach zu überprüfen wäre: Hat sich in den letzten Jahren an der Lage der Normalbürger irgend etwas wesentliches verändert? Eine Frage, die, vom Friedensgebot des Grundgesetzes bis zur verfassungswidrigen Übertragung nationaler Souveränität an die Europäische Union, mit einem schlichten Nein zu beantworten ist.

Die vorliegende Bertelsmann-Studie zeigt eindeutig den Unwillen der Deutschen, die sich in immer größeren Mengen einem schlichten "Weiter-So" verweigern. In den Parlamenten ist allerdings keine Kraft zu erkennen, die diesen Unwillen außerhalb des Parlamentes organisieren wollte. Noch können die da oben denen da unten ziemlich erfolgreich einblasen, dass die parlamentarischen Spielereien Demokratie sei. Denn die wesentlichen Medien, die Vermittler demokratischer Scheinwelten, sind fest in der Hand der Herrschaft. Auch und gerade Bertelsmann ist dafür ein gutes Beispiel. Zum Medien-Konzern gehören die Fernsehsender der RTL Group (z. B. RTL, VOX und n-tv) und zahlreiche Zeitschriften von Gruner + Jahr. Wenn eben dieser Manipulationsladen eine Studie zur schwindenden Bindungskraft der Volksparteien vorlegt, ist diese Arbeit ernst zu nehmen. Sie ist eine Warnung an das eigene Lager.

So wie im Parlament keine Kraft zu erkennen ist, die außerparlamentarische Opposition ernsthaft zu organisieren, so ist dort auch keine Gruppierung zu sehen, die sich dem Kampf gegen die Medienmacht verschrieben hätte. Geschweige, dass es ein eigenes alternatives Massenmedium gäbe. Denn bei allem Respekt vor Zeitungen wie zum Beispiel der Jungen Welt oder dem Neuen Deutschland: Auch mangels Finanzen beschränken sie sich auf eine vergleichbar kleine Zahl von ohnehin bereits überzeugten Konsumenten. Zugleich existieren im Internet jede Menge oppositioneller und alternativer Sites, die bisher weitgehend unkoordiniert operieren. Diese Sites durch Vernetzung zu einer gemeinsamen Kraft zu formieren, wäre das Gebot der Stunde einer neuen Medienpolitik, die in der Lage wäre, den Spalt zwischen Herrschenden und Beherrschten zu vertiefen. Genau solch eine Vernetzung wäre auf der Website von "Aufstehen" möglich gewesen. Auch auf der Site der Rosa-Luxemburg-Stiftung fehlt die Funktion. Doch man orientiert primär auf den parlamentarischen Raum. Wahrscheinlich so lange bis auch in Deutschland die Gelbwesten auf den Straßen und Plätzen in größerer Zahl auftauchen.


Erstveröffentlichung am 01. April 2019 bei rationalgalerie.de – Eine Plattform für Nachdenker und Vorläufer

Top-Foto:
Ulrich Gellermann (aus Video-Interview: deutsch.rt.com)


Online-Flyer Nr. 699  vom 03.04.2019



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