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Kultur und Wissen
Ein Gespräch mit dem Ergebnis eines "Deutschen Lebensbildes"
Schlesisches Schicksal und "Goldener Westen"
Wolfgang Bittner - inteviewt von Norbert Nieslony

Der polnische Journalist Norbert Nieslony hat unlängst den Schriftsteller Wolfgang Bittner interviewt. Herausgekommen ist ein interessantes „deutsches Lebensbild“. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht. 2014/2017 erschien von ihm das Sachbuch „Die Eroberung Europas durch die USA – eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“, und Ende März der Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“, der in seiner Geburtsstadt Gleiwitz beginnt und in der Nachkriegszeit im Westen Deutschlands endet, als die Weichen für das gestellt wurden, womit wir es bis heute zu tun haben.


Gleiwitz, Geburtshaus von Wolfgang Bittner
Die Mutter und der Großvater in den 1920er-Jahren vor der Tür zur Gastwirtschaft (Foto-Copyright: Wolfgang Bittner)


Wolfgang Bittner 1990 vor seinem Geburtshaus in Gleiwitz (Foto-Copyright: Wolfgang Bittner)


Nieslony: Herr Dr. Bittner, in Ihrem neuen Roman kommen viele Orte vor, die auch in Ihrem Leben eine Rolle gespielt haben, zum Beispiel Gleiwitz in Schlesien, Ostfriesland an der Nordsee oder Göttingen. Inwieweit ist das, was Sie erzählen autobiografisch?

Bittner: Der Roman fußt zwar auf eigenen Erfahrungen und Erlebnissen, und ich habe auch meine Familiengeschichte genutzt, aber es ist keine Autobiografie, also keine Beschreibung meiner Lebensgeschichte. Viele der Personen und der geschilderten Vorkommnisse gab es in der Realität gar nicht. Ein Roman ist ja immer auch eine Konstruktion und hat viel mit der Fantasie des Autors zu tun, der eine Geschichte mit handelnden, denkenden, leidenden oder auch frohen Personen und einer eigenen Atmosphäre entwickelt.

Sie sind im Jahre 1941 in Schlesien geboren, also während des Krieges. Wann sind Sie aus Gleiwitz ausgewandert und woran können Sie sich noch erinnern?

Ich kann mich an manches in Gleiwitz noch recht gut erinnern: an die Wohnung meiner Eltern, das Haus und den Hof zum Beispiel, an die Hauptstraße, die Wilhelmstraße hieß, an den Marktplatz oder den Fluss, die Klodnitz. Meine Eltern lebten mit mir im Haus der Großeltern mütterlicherseits, die drei Häuser besaßen und wohlhabend waren. Ende Januar 1945 wurde Gleiwitz von der Roten Armee eingenommen, das ging einher mit Mord und Totschlag. Ich weiß noch, wie sowjetische Soldaten ins Haus kamen, das hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Als wir fort mussten, war ich vier Jahre alt. Das war im Oktober 1945, und wir sind nicht ausgewandert und auch nicht umgesiedelt worden, wie es immer heißt, sondern wir sind vertrieben worden. Wir mussten weg, es sei denn wir hätten für Polen optiert, wie das genannt wurde. Das heißt, wir hätten die polnische Staatsangehörigkeit annehmen müssen. Meine Mutter wollte das nicht, wir waren ja Deutsche, und die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie wurden damals lediglich unter polnische Verwaltung gestellt.

Mein Vater lag zu dieser Zeit schwer verletzt in einem Lazarett in Norddeutschland, was meine Mutter aber nicht wusste. Sie ist dann mit mir und den Großeltern väterlicherseits – ihre Wohnung in Beuthen war mit allem Inhalt beschlagnahmt worden – auf dem Dach eines Zuges aus Gleiwitz weggefahren. Der Zug war völlig überfüllt, weil es überall Lautsprecherdurchsagen und Anschläge gegeben hatte, dass die Deutschen Gleiwitz verlassen müssten. Es hatte sich herumgesprochen, dass es Lager gab, in Zgoda zum Beispiel oder in Lambsdorf und Tost, wo viele Deutsche interniert wurden und zum Teil ums Leben gebracht worden sind. Wir haben nur noch Platz auf dem Dach des Zuges gefunden und sind unterwegs von einer Bande überfallen worden. Das waren zum Teil polnische Jugendliche im Alter zwischen 16 und 20 Jahren, die mit Pistolen und Messern die Leute ausraubten und ihnen noch das Letzte aus den Koffern und den Taschen stahlen, was sie retten wollten. Dabei erhielt mein Großvater fünf Messerstiche in Brust und Rücken und wäre fast verblutet.

Sie sind dann in der Sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, angekommen.

Wir sind über Forst an der Oder-Neiße-Linie und Berlin zunächst in ein kleines Dorf gekommen. Die Vertriebenen wurden in der sowjetischen Besatzungszone auf die Städte und Dörfer verteilt. Dort haben wir bis kurz nach Weihnachten 1945 in einem Gesindehaus eines Bauernhofes gewohnt. Das war sehr schlimm, weil wir wenig zu essen und zu heizen hatten, wir haben gefroren und gehungert. Die Dorfbevölkerung war feindlich eingestellt. Sie sagten, diese Polacken und dieses Rucksackgesindel sollen dorthin zurückgehen, wo sie hergekommen sind. Meine Mutter bekam dann vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes kurz vor Weihnachten 1945 die Mitteilung, dass mein Vater lebte und in einem Lazarett in der britischen Besatzungszone in Norddeutschland lag. Dorthin wollte sie, was wir schließlich auch geschafft haben.


Unterkunft in einer Baracke in Ostfriesland, ca. 1953 (Foto-Copyright: Wolfgang Bittner)

Unterwegs haben wir mehrmals in ehemaligen Luftschutzbunkern übernachtet die voller Ungeziefer waren. Wir hatten Läuse und Flöhe und wurden nachts von Wanzen geplagt. Um Neujahr kamen wir in einem Grenzdurchgangslager an, wo wir als erstes mit DDT-Pulver entlaust wurden. Schließlich erreichten wir Mitte Januar 1946 halbverhungert eine kleine Stadt in Ostfriesland nahe der Nordseeküste und trafen dort meinen Vater, der sich allmählich von seiner Kriegsverletzung erholte. Zuerst lebten wir in einer Mansarde eines kleinen Einfamilienhauses, wir wurden dort von der Wohnungsbehörde eingewiesen. Die Besitzer waren natürlich nicht glücklich darüber, dass Fremde in ihr Haus einquartiert wurden. Wir hatten eine kleine Küche mit einer sogenannten Brennhexe zum Kochen und ein kleines Schlafzimmer, dessen Wände im Winter vereist waren. Es gab wenig zu essen und nicht viel zum Heizen. Wir sind dann in ein Barackenlager umgezogen, und dort haben wir bis zum Ende der 1950er-Jahre in einer provisorischen Wohnung mit drei Zimmern gelebt. Meine Eltern haben mit einer Wohnungsbaugesellschaft ein Haus gebaut, und ab den 1960er Jahren ging es uns allmählich etwas besser, nachdem mein Vater wieder Arbeit hatte.

Die einheimische Bevölkerung war nach dem Krieg auch in Ostfriesland abweisend. Man sagte sich: Deutschland hat zwar den Krieg verloren, aber die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen sollen doch wieder zurück oder woandershin gehen. Die stören nur und warum sollen wir von dem Wenigen, was uns geblieben ist, noch abgeben. Natürlich hatten die Handwerker und Bauern gut zu essen und es wurde auch viel gehamstert. Die städtische Bevölkerung ging aufs Land und brachte Wertsachen, Teppiche und Schmuckgegenstände zu den Bauern, die dafür eine Wurst, ein Stück Speck oder einen Sack Kartoffeln gaben. Ich kann mich aber erinnern, dass ich oft Hunger hatte und fror. Es war nicht einfach, in dem angeblich goldenen Westen Fuß zu fassen.

Wie alt war Ihre Mutter zu der Zeit, als Sie Gleiwitz verlassen mussten?

Meine Mutter war 26 Jahre alt. Sie litt noch jahrelang unter Heimweh. Erst als ich erwachsen war, wurde mir klar, dass sie – ebenso wie mein Vater – durch Krieg und Vertreibung traumatisiert war.

Sie sind dann in die Schule gegangen, und danach haben Sie sich entschlossen, einen Beruf zu lernen Was für eine Schule war das und wo haben Sie gearbeitet?

Ich habe zunächst vier Jahre lang eine Volksschule besucht, wie das damals hieß. Danach eine Mittelschule, auch Realschule genannt. Im Ort, wo ich aufwuchs, gab es kein Gymnasium. Ich hätte dorthin mit dem Bus fahren müssen und es wäre auch Schulgeld fällig gewesen. Das konnten meine Eltern nicht aufbringen. Nach der Mittleren Reife habe ich in der Verwaltung gearbeitet. Zuvor war ich noch ein Jahr auf einer Höheren Handelsschule, wo ich Buchführung gelernt habe und alles was man für eine kaufmännische Arbeit brauchte. Ich bin dann aber zu einem Landkreis in die Verwaltung gegangen. Einige Jahre später habe ich das Inspektor-Examen gemacht und wurde Regierungsinspektor bei der niedersächsischen Landesregierung. Allerdings merkte ich nach drei Jahren, dass mich das nicht befriedigt. Ich stellte mir ein abenteuerlicheres Leben vor und habe in der Zwischenzeit – auf dem zweiten Bildungsweg – das Abitur nachgeholt. Das war insofern wichtig, als das Abitur in Deutschland die Zulassungsbedingung für die Universität ist. Nachdem ich es abgelegt hatte, bin ich im Alter von 24 Jahren zum Studium nach Göttingen gegangen und habe dort angefangen Jura, Philosophie und Soziologie zu studieren.

Mich interessierten vor allem die Philosophie und natürlich auch die Soziologie, weil ich vieles wissen wollte, was die Gesellschaft betraf. Zu der Zeit begann ich mich auch mit Politik zu beschäftigen. In Göttingen war ich drei Semester, dann zwei in München, anschließen bin ich wieder nach Göttingen zurückgegangen und habe da die Examina abgelegt. Mit dem Studium begonnen hatte ich 1966. 1970 legte ich das erste juristische Staatsexamen ab, 1972 promovierte ich während des Referendariats über ein strafrechtliches Thema und 1973 legte ich das zweite juristische Staatsexamen ab. Ich glaube, ich bin einer der wenigen Juristen, die innerhalb von sieben Jahren mit der Pflichtsemesteranzahl das erste und zweite Staatsexamen und die Promotion abgeschlossen hatten.

Warum so schnell? Hätten Sie sich für das Studium nicht mehr Zeit lassen können?

Ich wollte einfach fertig werden, zumal ich mein Studium überwiegend selber als Werkstudent finanzieren musste. In den Semesterferien habe ich unter anderem im Tiefbau mit dem Presslufthammer gearbeitet und Leitungen verlegt. Kurzfristig war ich als Rechtsanwalt tätig, habe dann angefangen, publizistisch und schriftstellerisch zu arbeiten und hatte das Glück, dass mein erster Roman mit dem Titel „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“, der ebenfalls autobiografische Elemente enthält, ein literarischer Bestseller wurde. Auch mein Buch „Rechtssprüche – Texte zum Thema Justiz“ ist ein viel gelesenes Buch gewesen. Die Bücher sind bis heute im Buchhandel lieferbar.

Ich merkte damals, in den 1970er-Jahren, dass ich vom Schreiben leben konnte, dass also genügend Honorare eingingen. Man muss ja von irgendetwas seine Miete und seine Brötchen bezahlen und das begann sich zu stabilisieren, so dass ich beschloss, weiter als Schriftsteller und Publizist zu leben. Ich habe zwischenzeitlich noch ein wenig juristisch gearbeitet, zum Beispiel ein Gutachten zur Künstlersozialversicherung gemacht oder mich beiläufig mit rechtswissenschaftlichen Themen beschäftigt. Aber ich begann Romane zu schreiben, Erzählungen, Gedichte, Satiren, Essays und eben auch Artikel zu politischen Themen.

Jetzt noch ein Schritt zurück. Wissen Sie, wie Ihre Familie nach Schlesien kam? War sie schon immer da und war Ihre Mutter der polnischen Sprache mächtig?

Meine Großmutter konnte Polnisch, meine Mutter nicht. Wie ich den Stammbüchern entnehmen konnte, die mein Großvater uns vererbt hat, ist meine Familie väterlicherseits Ende des 13. Jahrhunderts im Verlauf der sogenannten Ostbesiedelung von Franken am Main aus nach Niederschlesien in die Gegend der Stadt Münsterberg eingewandert – die Piasten warben damals deutsche Bauern und Handwerker an. Sie sind offenbar mit mehreren Familien gekommen und haben ein Dorf mit großen Höfen gegründet, den Wald gerodet und Felder angelegt. Der älteste Sohn erbte normalerweise den Hof, die anderen Söhne mussten entweder als Knechte arbeiten oder aber sie heirateten ein Bauernmädel mit Hof, was offenbar mehrfach vorgekommen ist. Viele wurden auch Lehrer, Pfarrer oder Förster. Das waren meine Vorfahren, die über ganz Schlesien und Oberschlesien verstreut waren – so ganz genau kann man das heute nicht mehr nachverfolgen. Mütterlicherseits kam mein Großvater aus einer schlesischen Familie in Gleiwitz. Die Großmutter war im damals österreichischen Lemberg geboren worden.

Nach meiner Kenntnis ist Schlesien im 14. Jahrhundert durch die Trentschiner Verträge von 1335 und 1348 an Böhmen gekommen. Der böhmische König war Kurfürst des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“, und insofern gehörte Schlesien seit der Zeit nach den Verträgen von Trentschin, die mit einem polnischen König abgeschlossen wurden, zum deutschen Kaiserreich. Es wird heute oft gesagt, dass Schlesien immer polnisch war, aber das stimmt so nicht. Übrigens waren die Adligen ohnehin unabhängig, egal zu wem das Land gehörte; sie hatten bis 1945 immer ihre Latifundien behalten und lebten nach dem Motto: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.

Sie haben neben Jura noch Soziologie und Philosophie zu studiert. Soziologie – das lässt sich denken – wahrscheinlich wegen Ihrer Erlebnisse bei Kriegsende und danach. Und Philosophie? Haben Sie nach dem Sinn des Lebens gesucht und wer hat Sie angesteckt? Gab es Philosophen die Sie begeistert haben?

Vielleicht sollte ich vorher noch sagen dass meine Großmutter mütterlicherseits 1945 für Polen „optiert“ hat und in Gleiwitz geblieben ist. Denn mein Großvater war vom NKWD abgeholt und verschleppt worden. Wir haben später von jemandem gehört, er sei in Tost in einem NKWD-Lager totgeschlagen worden, aber meine Großmutter hoffte damals immer noch, er würde zurückkommen und wollte deswegen in Gleiwitz auf ihn warten. Sie ist dort 1957 in ärmlichen Verhältnissen gestorben.

Nun zur Philosophie: Ich habe mir immer die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt, woher ich komme, warum wir leben und wohin wir gehen. Das war mir ein Bedürfnis, zumal ich ja früh erfahren hatte, dass das Leben endlich ist. Ich habe angefangen über vieles nachzudenken und mich mit Philosophen wie Immanuel Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Nietzsche und Schopenhauer beschäftigt, auch mit Kierkegaard, Rousseau, den alten Griechen und mit dem Buddhismus. Später mit modernen Philosophen und dem Soziologen Herbert Marcuse. Ich wollte nicht als Jurist arbeiten, weil ich, wie ich satirisch manchmal sage, ein zu ausgeprägtes Rechtsempfinden habe, um als Jurist tätig zu sein. Das ist zwar satirisch gemeint, aber es hat einen Kern Wahrheit in sich.

Dann haben Sie festgestellt, dass Sie von Ihrer Tätigkeit als Schriftsteller leben konnten. War das eine spontane Entscheidung, Schluss mit dem normalen Berufsleben zu machen und als Schriftsteller zu leben oder nur eine Übergangsphase?


Man kann nicht heute sagen: Ab morgen bin ich Schriftsteller. Das funktioniert nicht. Ich muss erst mal etwas schreiben, ich muss es einem Verlag anbieten, einer Zeitung, Zeitschrift, dem Rundfunk oder dem Fernsehen, und wenn es angenommen und gedruckt oder gesendet wird, dann bekomme ich ein Honorar. Ich habe viel für Zeitungen, Zeitschriften und für den Hörfunk geschrieben, auch Lesereisen unternommen und Vorträge gehalten. Aber das musste sich allmählich über mehrere Jahre entwickeln. Ich hatte das Glück, dass mein erster Roman gleich ein Erfolg wurde, ich gute Honorare erhielt und auch ein zweites Buch Erfolg hatte. Ich bekam auch Stipendien und Preise. Deswegen brauchte ich nicht nebenbei noch einen sogenannten Brotberuf auszuüben.

Wie stark war Ihr Interesse am politischen Geschehen in Deutschland und Europa im Vergleich zu heute, als Sie mit dem Schreiben angefangen haben?

Politisiert habe ich mich eigentlich erst in der 68er-Zeit dadurch, dass die Studenten auf die Straße gingen. Vorher war ich durch das Elternhaus eher konservativ geprägt und habe mich nicht weiter um Politik gekümmert. Ich merkte natürlich, dass in Ostfriesland viele der ehemaligen Nazis wieder in Amt und Würden waren, sie wurden christlich oder liberal. Während noch 1933 mehr als 85 Prozent der Bevölkerung die NSDAP und die rechtsextremistische Deutschnationale Volkspartei gewählt hatten, schlug das nach dem Krieg um in Richtung FDP. Ich wurde während des Studiums wach, weil ich mich zum Beispiel mit den Schriften von Marx, Horkheimer, Adorno und Marcuse beschäftigt hatte, auf Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg war und merkte, dass unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren verborgen war, wie die Studenten damals sagten. Da begann ich mich mehr und mehr für Politik zu interessieren.

Haben Sie dann weiterhin literarisch gearbeitet? Und wann haben Sie sich dazu entschlossen, etwas Politisches mit dem Bedürfnis aufzuklären zu schreiben?

Neben meiner literarischen Arbeit habe ich mich auch berufspolitisch betätigt: mit der sozialen Situation der Schriftsteller und mit Fragen, die das Schreiben und Veröffentlichen betrafen. Ich war im Landesvorstand des Schriftstellerverbandes in Niedersachsen, später vier Jahre im Bundesvorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller, drei Jahre im Rundfunkrat des Westdeutschen Rundfunks, auch im PEN-Club war ich aktiv. 2013 begann ich mich intensiver mit der Politik zu beschäftigen. Nicht nur mit der deutschen, sondern auch mit der Weltpolitik, denn plötzlich merkte ich, dass von den deutschen Medien beispielsweise über die Ukraine-Krise, die Strategien der USA und deren Interventionskriege nicht korrekt berichtet wurde. Ich habe nach intensiven Recherchen angefangen, darüber Artikel zu schreiben.

Im Herbst 2014 ist ein Buch von mir mit dem Titel „Die Eroberung Europas durch die USA" erschienen. 2017 wurde dieses Buch in einer dritten überarbeiteten und erheblich erweiterten Fassung vom Westend Verlag in Frankfurt am Main neu herausgebracht. Darin beschäftige ich mich mit der Entstehung des neuen Kalten Krieges, mit der Strategie der USA hinsichtlich Westeuropa und Russland, mit der fragwürdigen Berichterstattung in den Medien, auch mit Obama, Putin, Trump, dem Syrien-Krieg und so weiter.

In Polen ist man den USA sehr zugeneigt, das heißt die Regierung kauft lieber Boeing, statt Airbus, und F-16-Flugzeuge, als Eurofighter. Was glauben Sie, woher diese Haltung kommt?

Es sind ja viele Polen in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Ich habe ein dreiviertel Jahr in Krakau gelebt, dort gab es eine wöchentliche direkte Flugverbindung nach Chicago, wo bis heute sehr viele polnischstämmige Menschen leben, wie überhaupt in den USA. Da besteht eine Verbindung, zum Teil auch familiär. Polen war immer amerikafreundlich. Amerika, Amerika, das war das Land der Zukunft. Ich habe auch mit polnischen Politikern Kontakt gehabt, die fanden, dass Amerika optimal ist – das sehe ich nicht so.

Andererseits: Sehr viele Auswanderer in Amerika waren deutschen Ursprungs. Aber in zwei Weltkriegen waren sie zusammen mit den Engländern die Hauptfeinde, und wenn wir die heutige Situation betrachten, sind sie Deutschland nicht gerade freundlich gesinnt. Wie kommt es dazu?

Die Briten haben gegenüber dem Festlandeuropa immer eine eigene Politik unter der Maxime „Balance of Power“ betrieben. Sie haben ständig intrigiert und die Festlandsmächte gegeneinander ausgespielt. Der erste Weltkrieg ist meines Erachtens von England, Frankreich und US-Finanzkreisen ausgegangen, also inszeniert worden, darüber gibt es Dokumente. Also das Problem ist, dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird. Ob nach dem Ersten Weltkrieg mit Versailles oder dem Zweiten mit der bedingungslosen Kapitulation, der Sieger nimmt alles, das Land, die Menschen, die Kultur, auch die Geschichtsschreibung.

Zur Schuldfrage des Zweiten Weltkrieges: Wie beurteilen Sie das? Wer hat dazu beigetragen, dass der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist?

Nachdem Deutschland als Verlierer des ersten Weltkriegs durch den Versailler Vertrag mit Reparationen in immenser Höhe belastet wurde, entstand natürlich eine sehr große Unruhe in der deutschen Bevölkerung. Ich bin der Überzeugung, dass diese Stimmung dazu beigetragen hat, dass Hitler an die Macht gekommen ist. Das Ruhrgebiet wurde von Frankreich ausgebeutet und das Saarland ebenfalls. Die Belgier waren in Deutschland, die Franzosen, Amerikaner und Engländer. Die deutsche Bevölkerung fühlte sich entehrt, unterdrückt und ausgebeutet, dadurch bekamen Hitler und seine Anhänger immer mehr Zulauf. Man muss außerdem berücksichtigen, dass Deutschland als Land in der Mitte Europas immer gefährdet war. Seit 1871, also nach dem deutsch-französischen Krieg, wurden das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn vor allem wirtschaftlich zu einem Machtfaktor, der England, Frankreich und den USA ein Dorn im Auge war. Daraufhin kam es zu dem schon lange vorher insbesondere von England vorbereiteten Ersten Weltkrieg, dem nach wenigen Jahren der Zweite Weltkrieg folgte. Es war eine Zeit der Großmachtphantasien vorhergegangen, nicht nur mit Hitler in Deutschland, sondern ebenso in Italien unter Mussolini, in Spanien unter Franco, in Polen unter Pilsudski, aber auch in Great Britain, der Grande Nation und den Vereinigten Staaten von Amerika, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts unter Präsident Theodore Roosevelt eine „internationale Polizeigewalt“ beanspruchten. Hitler stellte sich dem entgegen, aber er war größenwahnsinnig und führte dann Krieg in jede Richtung, den konnte Deutschland niemals gewinnen. Wenn man sich die letzten Kriegsjahre ansieht, dann wird immer klarer, dass Hitler und die Führung des Deutschen Reiches seinerzeit einen verbrecherischen Vernichtungskrieg geführt haben. Hinzu kam die Ermordung der jüdischen Bevölkerung und die Eliminierung jeglicher Opposition.

Wenn Sie die ehemaligen polnischen Gebiete nehmen, die jetzt in der Ukraine oder in Russland liegen: Waren die Polen früher zu Unrecht in diesen Gebieten oder sind jetzt die Russen und die Ukrainer zu Unrecht dort? Und waren damals die Deutschen in Ostpreußen und Schlesien zu Unrecht oder sind jetzt die Polen zu Unrecht dort? Wie kann man diese Fragen beantworten?

Die Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie wurden in vielen Bereichen von Deutschland her erschlossen, das heißt urbar gemacht und entwickelt. Sie waren zuvor sehr dünn besiedelt, und die Piasten in Schlesien wie auch die Greifen in Pommern warben um deutsche Siedler – ich sprach bereits darüber. In den Städten wurde das deutsche Recht eingeführt, zumeist das Magdeburger Stadtrecht. Polen entwickelte sich damals zu einer Großmacht zwischen Deutschland, Russland und Österreich. Aber in der Folgezeit wurde es dreimal geteilt, existierte eine Zeitlang überhaupt nicht mehr als Staat – eine Tragödie für das polnische Volk. Das bedeutet allerdings nicht, dass Polen nur ein „Opfervolk“ ist, wofür es viele halten.

Für das 20. Jahrhundert ist zu bedenken, dass Marschall Pilsudski die Nachbarländer Polens mit Krieg überzogen hat, einschließlich Litauen, Weißrussland und die Tschechoslowakei, und dass er 1932 und 1933 mit Frankreich wegen eines Angriffskrieges gegen das Deutsche Reich Geheimverhandlungen führte. 1920 hat er mit dem sogenannten „Wunder an der Weichsel“ die Rote Armee besiegt und die Grenze weit über das polnische Siedlungsgebiet nach Osten vorgeschoben. Auch große Teile der Ukraine mit der Großstadt Lemberg hat er erobert. Die annektierten Gebiete wurden polonisiert, das heißt man hat die Verwaltung übernommen und dort Polen angesiedelt, die mit der einheimischen Bevölkerung nicht gut umgingen. Sie wurden nach 1945 vertrieben, umgesiedelt in die ehemaligen deutschen Ostgebiete.

Durch die Oder-Neiße-Grenze, die zunächst auch unter den Alliierten umstritten war, verlor das Deutsche Reich damals etwa ein Drittel seines gesamten Territoriums an Polen. Wie gesagt, das war umstritten, die Engländer und Amerikaner fanden das unverhältnismäßig. Und die Vertreibung der Deutschen halte ich nach wie vor für ein großes Unrecht. Das war ihre Heimat, zum Teil über Generationen hinweg. Aber Polen wollte diese Gebiete sozusagen als Tribut für die Kriegsschäden übernehmen, insbesondere das wertvolle oberschlesische Industriegebiet, und die deutsche Bevölkerung wurde vertrieben. Ein schwieriges Thema!

Was halten sie von den neuerlichen Forderungen nach Kriegsentschädigung seitens der polnischen Regierung?


Die Forderung nach Kriegsentschädigung, die von der Regierung Kaczynski wieder ins Gespräch gebracht worden ist – es geht da wohl mehr oder weniger um eine Billion Dollar –, ist unsinnig. Erstens ist die Zeit darüber hinweggegangen, zum anderen hat Polen einen großen Teil des damaligen deutschen Reiches mit zum Teil intakten Betrieben und intakter Landwirtschaft übernommen. Es ist damals versäumt worden, die Bevölkerung entsprechend zu schulen, gerade auch in der Landwirtschaft, wo die Maschinen in den Remisen verrosteten. Ab etwa 1990 kam eine Zeit des Aufbruchs und der Aussöhnung, aber mit der Regierung Kaczynski befinden wir uns in einer Phase des Rückschritts.

Die europäische Union: Ist diese Vereinigung eher positiv zu werten oder mehr negativ?


Die EU empfinde ich als positiv. Allerdings halte ich die Bürokratie in Brüssel für zu aufgebläht und realitätsfern. Ich denke, dass die einzelnen Staaten eine relative Selbständigkeit behalten müssen. Was der SPD-Politiker Martin Schulz oder der französische Staatspräsident Macron kürzlich zu angeblichen Reformen und Kompetenzerweiterungen ins Gespräch gebracht haben, unter anderem zu einer gemeinsamen Finanz- und Wirtschaftspolitik, gefällt mir nicht. Ebenso wenig, dass die NATO über alle Grenzen hinweg agieren kann. Ein kompliziertes Thema! Man müsste noch über die neoliberale Politik aus Brüssel sprechen und über die Militarisierung …

Wird die Politik in der EU nicht in starkem Maße von den Lobbyisten beeinflusst?

In Brüssel gibt es Tausende Lobbyisten, das ist geradezu eine Seuche, denn sie beeinflussen in starkem Maße die Politik im Sinne der Konzerne. Hinzu kommt noch, dass in den deutschen Ministerien die Gesetze zum Teil vom Bankern und Industrieanwälten entworfen werden. Die Ministerialbürokratie ist offenbar nicht mehr in der Lage, selbständig Gesetze vorzulegen. Anstatt die Arbeit zu tun, für die man zuständig ist und gut bezahlt wird, beauftragt man Externe, die bestimmte Interessen verfolgen, und dadurch kommen Tendenzen in die Gesetze und in Verträge, die nicht dem Wohl der Bevölkerung dienen.

Die ehemalige Bundestagsabgeordnete und Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, sagte: „Deutschland wird von Idioten regiert“. Was halten sie von diesem Ausspruch?


Ich habe Frau Steinbach nie persönlich kennengelernt und ihre politischen Aktivitäten nur beiläufig verfolgt. Vielleicht hat sie ja Recht, was die Kompetenz vieler Politiker – nicht nur in Deutschland – betrifft, aber ich möchte mich da eher auf Shakespeare beziehen. Der lässt in seinem Drama „König Lear“ den Grafen Gloucester sagen: „Das ist die Seuche dieser Zeit, Verrückte führen Blinde“ – eine sehr treffende und auch für die heutige Zeit gültige Aussage.

Herr Dr. Bittner, vielen Dank für das Interview.



Wolfgang Bittner bei einer Lesung 2004 im Alten Rathaus in Göttingen


Der Journalist und Fotograf Norbert Nieslony lebt in Górny Slask, früher Oberschlesien, heute Woiwodschaft Opole.

Online-Flyer Nr. 711  vom 26.06.2019



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