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Kommentar
Fokussierung kann zur Blindheit führen
Das Auschwitz-Narrativ
Von Ulrich Gellermann

Es war der 27. Januar 1945, als die Rote Armee das Lager Auschwitz befreite. Es sollte noch ein langer, harter Weg bis zur Befreiung Deutschlands, bis zur Kapitulation der Hitler-Armee im Mai 1945 sein. Heute gilt Auschwitz in der deutschen Öffentlichkeit nicht als Metapher der Befreiung: Die öffentliche Auschwitz-Erzählung beginnt und endet mit der Vernichtung der europäischen Juden. Dass Auschwitz ein Teil des Nazi-Kriegs gegen die Menschlichkeit war, dass an diesem Krieg profitiert wurde, dass seine Urheber in Wirtschaft, Armee und Regierung nur sehr begrenzt zur Rechenschaft gezogen wurden, das verschwindet nahezu komplett hinter der Leidensgeschichte jener Menschen, die von den Nazis als jüdische Rasse bezeichnet wurden.

In der Geschichte der Bundesrepublik waren es die Auschwitz-Prozesse der 1960er Jahre, mit denen eine Teil-Befreiung des westdeutschen Denkens begann: Vor den Prozessen rund um das Vernichtungslager gipfelte für eine Mehrheit der Bürger die Nazi-Zeit in einem verlorenen Krieg. So war das mit Kriegen: Manchmal verlor man sie eben. Dass der Krieg selbst ein Verbrechen sein könnte, war nur einer Minderheit klar. Aber mit den Prozessen begannen die Fragen der Jüngeren an die Alten: Wo wart ihr, als Eure jüdischen Nachbarn abgeholt wurden? Dass auch oppositionelle Christen, Kommunisten und Sozialdemokraten die Konzentrationslager von innen kennen lernten? Ja, schon. Aber das zentrale Verbrechen, das gilt bis heute, sei nun mal das an den Juden. Und tatsächlich war der industrielle Mord an den Juden singulär. Aber war das maschinelle Morden im deutschen Krieg gegen die Welt weniger verwerflich? Sicher nicht. Doch bis heute gilt vielen der Krieg als eine, wenn auch unangenehme, so doch normale Erscheinung im Leben der Völker.

Mit der Verengung des Blicks begann eine enge, geradezu staatliche Freundschaft mit Israel. In makabrer Weise wurde der Rassenwahn der Nazis scheinbar ins Gute gewendet: Im Luxemburger "Wiedergutmachungsabkommen" wurden dem Staat Israel Zahlungen, Exportgüter und Dienstleistungen im Gesamtwert von 3,5 Milliarden DM gewidmet. Und mit der Hervorhebung der jüdischen Opfer begann das Schweigen über den "rassenideologischen Vernichtungskrieg (Hitler)" gegen die Völker der Sowjetunion. Und selbst über die Profiteure des Rassismus wurde geschwiegen: Milliardenwerte hatten sich Konzerne wie die Salzgitter AG, die Familie Quandt oder das Friedrich Flick-Konglomerat im Verlauf des "Arisierung" genannten Raubs von jüdischem Eigentum angeeignet. Keiner von den Verantwortlichen oder deren Erben kam vor Gericht, die BMW-Quandts profitieren bis heute vom Stillschweigen der Gründerjahre der Westrepublik. Wer will schon wissen, dass sein BMW aus geklautem jüdischen Eigentum montiert ist?

"Wir bekämpfen den Antisemitismus! Wir trotzen dem Gift des Nationalismus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels“, rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf der jüngsten Holocaust-Gedenk-Veranstaltung in Jerusalem aus. Und auf derselben Veranstaltung war vom israelischen Premier Benjamin Netanjahu zu hören, dass der Iran "die Menschen im Nahen Osten bedrohen" würde. So wird man im Kampf gegen den Antisemitismus flugs zum Kombattanten Israels bei dessen Kampf um Vormacht im Nahen Osten. Dass die Lehre von Auschwitz den Kampf gegen Rassismus verlangt, wird auf den Antisemitismus beschränkt. Diese Sorte Rassismus bekommt eigene Beauftragte auf Bundes- und Länderebene. Sie gerinnt zur Ideologie, zur Glaubensfrage, als sei der tägliche deutsche Rassismus nicht auch im Anti-Islam zu finden. Als sei das deutsche Bündnis mit Israel nicht Unterstützung des Rassismus, nämlich jenes gegen die Palästinenser.

Das "Gift des Nationalismus" – von Frank-Walter Steinmeier beschworen – hat längst die Adern der veröffentlichten Debatte erreicht. Dieser neue Nationalismus – eine Ideologie, die andere Nationen herabsetzt, um die eigene zu schönen – zielt heute ausgerechnet auf die Befreier von 1945: Die Russen. Bis in das mediale Gezänk ist der Nationalismus spürbar, denn die Russen hätten Auschwitz gar nicht befreit, es sei doch die "Ukrainische Front" genannte Formation der Roten Armee gewesen, also gebühre doch den Ukrainern eigentlich der Befreier-Ruhm. Dass in der Roten Armee viele unterschiedliche Nationen dienten, dass die Formation zuvor den Namen Steppen-Front trug und zu ihr auch die 1. Rumänische Freiwilligen-Infanterie-Division „Tudor Vladimirescu“ gehörte, werden wir erst dann erfahren, wenn Medien die Befreiung von Auschwitz und die des restlichen Europa für Rumänien reklamieren: In den deutschen Publikationen wird Hitlers Krieg gegen Russland tapfer fortgesetzt.

Wer die Erzählung der Naziverbrechen auf den Holocaust reduziert, macht sich, obwohl er als Antifaschist auftritt, einer Verkleinerung der Nazi-Bestialität schuldig. Ein Narrativ, stellen die Sozialwissenschaften fest, sei eine "sinnstiftende Erzählung, die Einfluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Es transportiert Werte und Emotionen". Welchen Sinn mag es stiften, wenn der Holocaust zum scheinbar einzigen Verbrechen der Nazis geraten ist? Wenn nicht der deutsche Krieg im Zentrum der deutschen Erzählung der jüngsten Vergangenheit steht? Wer fragt, warum der deutsche Krieg gegen die halbe Welt und vor allem gegen seine Nachbarn, in der deutschen Erinnerungs-Kultur kaum eine Rolle spielt, findet die Antworten schnell in der herrschenden Politik der Bundesrepublik Deutschland – fast von Gründung an. War sie doch nahezu seit der Wiederbewaffnung mit ihren Truppen Mitglied in der NATO, einem aggressiven Militärbündnis. Einer Allianz, die bis heute dem alten Nazi-Mantra vom bösen Russen verpflichtet ist. Da stört eine klare Erinnerung an den deutschen Krieg und die deutsche Kriegsschuld erheblich. Erst recht ist sie hinderlich, wenn deutsche Truppen in fremden Ländern fremde Völker bekriegen. So kann Fokussierung zu gesellschaftlicher Blindheit führen.


Erstveröffentlichung am 27. Januar 2020 bei rationalgalerie.de – Eine Plattform für Nachdenker und Vorläufer

Top-Foto:
Ulrich Gellermann (aus Video-Interview: deutsch.rt.com)


Online-Flyer Nr. 733  vom 29.01.2020



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