SUCHE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Kultur und Wissen
Fragen zur Frage "Warum schweigen die Lämmer?"
Der Mensch im Geflecht von Medien, Manipulation und Macht (2)
Prof. Rainer Mausfeld im Interview mit Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
Die Hauptverantwortung einer Regierung in einer "Demokratie" ist, die Minorität der besitzenden Klasse gegen die Majorität der Nicht-Besitzenden zu schützen. Eine repräsentative Demokratie repräsentiert NICHT den Willen des Volkes. Die bewusste und intelligente Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil so genannter "demokratischer" Gesellschaften. Solche seltenen Sätze waren bei den Aachener Friedenstagen 2016 zu hören - bei einem Vortrag zur Frage "Warum schweigen die Lämmer?", gehalten von Prof. Rainer Mausfeld, einem Psychologen und Kognitionsforscher an der Universität Kiel. Mit ihm hat die NRhZ nun ein vertiefendes Interview geführt, das wir in zwei Teilen wiedergeben - hier Teil 2. Er beginnt mit zwei ergänzenden Fragen zum Themenkomplex False-Flag-Operationen (5.1 und 5.2). Daran schließen sich die Fragen 8 bis 14 an. Am Schluss steht - trotz drohender Katastrophen - die Hoffnung: "Jede einzelne und jeder einzelne kann zu einer... Aufklärung über die politische und gesellschaftliche Realität... einen Beitrag leisten... Es muß nur der Wille und die Entschlossenheit vorhanden sein, unmenschliche gesellschaftliche Zustände zu ändern."
Prof. Rainer Mausfeld beim Vortrag im Rahmen der Aachener Friedenstage 2016 (Foto: arbeiterfotografie.com)
5.1 Sie raten dazu, sich weniger mit der besonderen Form des Staatsterrorismus, den False-Flag-Operationen, zu befassen, sondern vorrangig mit den "normalen" Formen - wie z.B. den Drohnenmorden. Sicherlich haben False-Flag-Operationen in der Regel weniger Opfer zur Folge. Aber sind sie nicht ganz entscheidend und zentral bei der Erzeugung der Feindbilder, die den "normalen" Staatsterrorismus legitimieren und in vielen Fällen den "normalen" Krieg überhaupt erst möglich machen, so dass ihnen eine Art Schlüsselfunktion zukommt (z.B. Sender Gleiwitz für den Beginn des Zweiten Weltkriegs, Pearl Harbor für den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, 9/11 für den so genannten "Krieg gegen den Terror")?
Konkrete terroristische Akte - unabhängig davon, ob es sich um False-Flag-Operationen handelt oder nicht - sind natürlich besonders geeignet für eine prompte Angsterzeugung und für die rasche Herstellung von politisch erwünschten Feindbildern. Gleiches gilt für entsprechende Lügen und Täuschungen, wie den Tonkin-Zwischenfall oder die Brutkasten-Lüge. Ich glaube nicht, dass für die Feindbilderzeugung False-Flag-Operationen eine besondere Rolle spielen oder überhaupt erforderlich sind. Wir müssen uns immer wieder klarmachen, dass es gerade die abendländische Kultur in der Entwicklung von Techniken zur Produktion von Feindbildern zu einer besonderen ‚Virtuosität‘ gebracht hat. Rassismus in unterschiedlichsten Varianten, Anti-Kommunismus und Islamfeindlichkeit sind nur einige Beispiele. Insbesondere Kolonialismus und Imperialismus wurzeln in kulturell tief verankerten Feindbildern. Folter und Drohnenmorde würden von der Bevölkerung nicht mit einer solchen moralischen Apathie hingenommen, wenn ihr nicht zuvor entsprechende Feindbilder eingepflanzt worden wären. Hinzu kommt, dass moderne Indoktrinationsmethoden in Verbindung mit den Massenmedien ein Arsenal zur schnellen und tiefenwirksamen Feindbildererzeugung bereitstellen, dessen Wirksamkeit von uns zumeist gravierend unterschätzt wird.
5.2 Sie vertreten die Auffassung, eine überwiegende Fokussierung auf das Thema False-Flag ziehe die politische Aufmerksamkeit von dauerhaften strukturellen Faktoren, also vom normalen Operationsmodus, ab und binde auf diese Weise politische Veränderungsenergie. Ist es aber nicht eher so, dass in der Linken und der Friedensbewegung eine viel zu geringe Bereitschaft besteht, die Bedeutung von False-Flag-Operationen zu sehen - besonders, wenn es um das Extremereignis 9/11 und die daraus folgende Legitimierung eines "nicht endenden" Krieges geht? Unserer Meinung nach wird ganz systematisch versucht, dieses Themenfeld auszublenden - durch Stigmatisierung von kritischen Stimmen z.B. mittels des Unworts "Verschwörungstheoretiker". Und ist es nicht so, dass dies auch deshalb so gut gelingt, weil viele Menschen sich die Perversion nicht vorstellen können, dass die Eliten Teile der eigenen Bevölkerung umzubringen bereit sind, um damit Kriegsstimmung zu erzeugen?
Es gibt grundsätzlich eine zu geringe Bereitschaft, sich mit der jahrzehnte- und jahrhundertelangen Kontinuität gravierender Verletzungen unserer eigenen moralischen und politischen Normen auseinanderzusetzen und daraus Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Der sog. ‚Krieg gegen den Terror‘, der bislang weit über eine Millionen Tote gefordert hat, zahlreiche Länder in Schutt und Asche gelegt und ihre staatlichen Strukturen zerstört hat und bis heute 5-7 Billionen Dollar an Steuergeldern verschlungen hat, ist ein Verbrechen von einer derartigen historischen Monstrosität, dass es intensivster Indoktrination bedarf, um die natürlichen moralischen Sensitivitäten der Bevölkerungen der ‚westlichen Wertegemeinschaft‘ nahezu vollständig zu sedieren.
Wenn sich eine solche moralische Apathie so erfolgreich bei einem so großen und vergleichsweise so gut dokumentierten Verbrechen erzeugen läßt, erscheint mir in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ein unstreitiger und zweifelsfreier Beweis erbracht werden könnte, dass 9/11 ein Inside-Job war, die Erwartung begründet, dass die öffentliche Empörung nur kurzzeitig aufflammen würde und dann rasch durch die bewährten medialen Methoden wieder unter Kontrolle gebracht werden würde. An den Machtstrukturen würde sich also selbst in diesem Fall nichts wesentliches ändern.
Auch die Hoffnung, dass ein Bekanntwerden der Ermordung eigener Bürger durch den Staat ein systemveränderndes Ausmaß an Empörung auslösen könnte, erscheint mir angesichts historischer Fakten unbegründet. Es gibt – jenseits von Kriegen, in denen stets Teile der eigenen Bevölkerung ‚fürs Vaterland‘, also für seine Machteliten, verheizt wurden und werden – genügend historische Beispiele dafür, dass Regierungen bereit sind, Teile der eigenen Bevölkerung gravierend zu schädigen oder umzubringen. Viele dieser Fälle sind zweifelsfrei dokumentiert; beispielsweise 1957 in Nevada die Atombombentests der Operation Plumbbob, in deren Rahmen aus medizinisch-militärischen Versuchsgründen fast zwanzigtausend US-Soldaten – neben 1200 Schweinen – bewußt und ungeschützt nur wenige Kilometer vom Detonationsort den radioaktiven Einwirkungen ausgesetzt wurden, mit den vorhersehbaren Folgen. Es ist ein erst durch lange Indoktrination hervorgebrachtes Mißverständnis zu denken, dass es Aufgabe eines Staates sei, das Leben seiner Bürger zu schützen.
Es bleibt Ihre allgemeinere Frage, welche Aufmerksamkeit man im Rahmen linker Aufklärungsbemühungen potentiellen False-Flag-Operationen zumessen sollte. Die Antwort auf diese Frage scheint mir davon abzuhängen, wie man eine vorgeordnete Frage beantwortet: In welchem Bereich ist man persönlich in der Lage und befähigt, im eigenen Wirkungsumfeld zu einer Aufklärung über gegenwärtige Machtstrukturen, ihre Wirkungsweise und ihre Auswirkungen beizutragen? Für mich persönlich ist die Antwort hierauf nicht schwer. Ich muß mich bei einer solchen Aufgabe auf diejenigen Fälle gravierender Verletzungen moralischer und politischer Normen beschränken, in denen die Faktenlage – ein Minimum an Rationalität vorausgesetzt - unstreitig ist, so daß ich auf dieser Basis die Aufmerksamkeit auf die moralische Bewertung dieser Fakten richten kann. Dazu muß ich kein Spezialist sein, denn wir alle verfügen über die erforderlichen moralischen Sensitivitäten; zudem reichen einfache Denkmethoden, um moralische Doppelstandards identifizieren zu können. Andere mögen ihre Schwerpunkte anders setzen; hier ist viel Spielraum für persönliche Präferenzen. Bedenklich wird es jedoch, wenn im Rahmen ernsthafter linker Aufklärungsbemühungen Personen oder Gruppen allein wegen ihrer Themenpräferenzen diffamiert werden und auf diese Weise von innen ein Beitrag zur Zersetzung der Linken geleistet wird.
8. Sie stellen zwei Hauptaspekte von Empörungsmanagement dar: Empörung eindämmen innerhalb des Imperiums sowie Empörung anfachen außerhalb des Imperiums bei dessen Widersachern. Eine Frage bezogen auf das Eindämmen: inwieweit gehört zum Ablenken von den eigenen Verbrechen auch das gezielte Eröffnen von Nebenschauplätzen, auf denen Empörung sich austoben darf (z.B. alle "Demokraten" gemeinsam gegen Nazis)? Wie gelingt es, viele engagierte Menschen auf diese Schauplätze zu locken?
Das ist in der Tat ein sehr wichtiges Phänomen, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Das Eröffnen derartiger Nebenschauplätze ist ein wesentlicher Teil der affektiven Steuerung der Bevölkerung. Das Spektrum entsprechender Möglichkeiten ist praktisch unbegrenzt. Es umfaßt die ganze Flut der Belanglosigkeiten, mit denen nicht nur die Regenbogenpresse die Aufmerksamkeit von allen relevanten gesellschaftlich-politischen Themen ablenkt. Auch Berichte über die ‚Gier‘ von Bankern, die Gehälter von Konzernvorständen und andere politisch folgenlose Personalisierungen von Verfehlungen von ‚denen da oben‘ lenken die Aufmerksamkeit von den relevanten Themen ab. Zudem eignet sich natürlich alles, was mit dem Thema ‚Terrorismus‘ (der anderen) zu tun hat, hervorragend für eine Ablenkung von eigenen Verbrechen. So sind - wie schon seit den Anfängen des Empörungsmanagements bekannt ist - die Möglichkeiten praktisch unerschöpflich, berechtigte Empörung über gesellschaftlich unhaltbare Zustände oder über andere Verletzungen moralischer Normen zu nutzen und mit einem geeigneten Spin in die gewünschte Richtung politischer Wirkungslosigkeit zu treiben. Zudem läßt sich leicht durch eine Überflutung mit Empörungsanlässen eine Empörungserschöpfung erzeugen, die dann wieder die gewünschte politische Lethargie fördert.
Bündnisse wie alle Demokraten gegen Nazis oder Aufstehen gegen Rassismus mögen nützlich sein, um eine gewisse Repolitisierung anzuregen, doch bergen sie zugleich die Gefahr, dass sie dazu beitragen, die Konturen der Wirkungsfaktoren verschwimmen zu lassen, die diesen Dingen ursächlich zugrunde liegen. So hat beispielsweise der Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein die engen ökonomischen Bezüge von Kapitalismus und Rassismus aufgezeigt. Auch sollten wir nicht vergessen, dass rassistische Ressentiments gegen ‚Fremde‘ auch von den großen Volksparteien gesät und genährt worden sind. Das medial gesteuerte kollektive Gedächtnis ist auch hier kurz, und wir vergessen gerne Wolfgang Schäubles ‚Das Boot ist voll‘-Hetze oder Edmund Stoibers Ausdruck der „durchmischten und durchrassten Gesellschaft“ Anfang der 90er Jahre und die dann ‚völlig überraschend‘ erfolgten Pogrome in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. - Bündnisse, deren Gemeinsamkeiten in Zielen liegen, wie sie problemlos auch von jenen Parteien wie CDU/CSU, SPD oder Grüne geteilt werden können, die einen scharf wirtschaftsnationalistischen und neoliberalen Kurs verfolgen, bergen die große Gefahr, von den eigentlichen politischen Ursachen abzulenken.
9. Eine Frage bezogen auf das Anfachen von Empörung, Beispiel Arabischer Frühling: Wie ist erklärbar, dass der Arabische Frühling – obwohl es frühzeitig Hinweise darauf gab, dass er vom US-Imperium angefacht wurde – von "linken" Kräften u.a. in Deutschland als Revolution gefeiert wurde? Welche Mechanismen führen dazu, dass ein kritisches, an Aufklärung orientiertes Denken ausgeschaltet oder unterlaufen wird?
Diese Ereignisse im arabischen Raum waren in ihren Ursachen und in ihrem Verlauf recht komplex, und man müßte in die Details unterschiedlicher Länder gehen. Tunesien ist, auch in den Erfolgen, anders zu beurteilen als Ägypten, beide wiederum anders als etwa Syrien oder auch Libyen, wo die NATO zentral beteiligt war. Mir fehlt der Hintergrund, um diese Dinge im einzelnen bewerten zu können. Jedenfalls gab es in den verschiedenen Ländern unterschiedliche lokale Ursachen, die eine Initialzündung bildeten. Doch war in vielen Ländern der Protestboden bereits gut durch eine Reihe von privaten regierungsfinanzierten US-amerikanischen Organisationen vorbereitet worden. Wie auch in anderen Fällen von ‚Volksrevolutionen‘ spielt auch hier das National Endowment for Democracy eine große Rolle. Darüber berichtete schon 2011 die New York Times, doch erinnere ich mich nicht daran, dass dieses Thema in unseren Medien aufgegriffen worden wäre. Wenn schon die relevanten Fakten fehlen, benötigt man gar keine besonderen Mechanismen mehr, um kritisches Denken auszuschalten. Hannah Arendt hatte schon darauf hingewiesen, dass Meinungsfreiheit eine Farce ist, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist.
Jedenfalls unterstützten - gegen die Volksbewegungen - die USA und Großbritannien, solange es ging, den ägyptischen Diktator Mubarak, bis das Militär nicht mehr mitmachte, und die Franzosen den tunesischen Diktator Ben Ali. Dabei zeigt sich das bekannte Muster: Die USA schauen sich zunächst an, wie sich die Dinge entwickeln, und scheuen sich dabei auch nicht, eine Zeitlang beide Seiten zu unterstützen. Wenn sich herauskristallisiert, wer gewinnt, verstärken sie ihren Einfluß und Zugriff auf die vermutliche Gewinnerseite, bis alles wieder in ihrem Sinne unter Kontrolle ist. Denn ihnen ist eigentlich egal, wer gewinnt, ob Diktator oder auch ein fundamentalistischer Islamist, solange sie die Kontrolle behalten, vor allem über die ölreichen Länder. Insofern unterscheidet sich der Umgang mit den Aufständen in arabischen Diktaturen in nichts von den vorhergehenden Fällen, sei es Somoza in Nicaragua, Duvalier in Haiti, Marcos in den Philippinen, Mobutu im Kongo oder Suharto in Indonesien. Erinnern wir uns nur an Suharto. Er wurde von den USA als „Lichtblick in Asien“ bezeichnet und von Helmut Kohl als Freund, dem er "großen Respekt und Zustimmung" zolle. Da überrascht es nicht, dass unsere Medien dem von ihm zu verantwortenden und von den USA gebilligten Völkermord in Osttimor ebenso wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben, wie den 1,5 Millionen Menschen, die während seiner antikommunistischen Hexenjagd ermordet wurden. Hier wie in allen anderen Fällen gilt: Selbst die brutalsten Diktatoren werden so lange gestützt, wie die Diktatur die Interessen der USA respektiert und innenpolitisch stabil ist; wird sie instabil, setzt man eben auf eine andere Karte und bedient sich dabei auch gerne demokratischer Rhetorik. Auch in all den genannten Fällen haben übrigens unsere Medien wieder einen wertvollen Beitrag geleistet, die wichtige moralische Differenzierung zwischen zu duldenden Massenmördern und unakzeptablen Massenmördern zu vermitteln.
Was den Arabischen Frühling angeht, so gab es dennoch einiges zu begrüßen. In einigen Ländern sind Entwicklungen in Gang gekommen - auch wenn sie in der Regel rasch und oft brutal wieder blockiert wurden -, deren längerfristige Auswirkungen schwer abzuschätzen sind. In jedem Fall waren damals viele Hoffnungen der Linken übertrieben und entsprangen ihren Sehnsüchten nach sozialen Bewegungen, mit denen sie sich identifizieren könnten. Aber sie entsprangen zugleich auch den üblichen westlichen Projektionen; denn in der Bewertung der Entwicklungen des Arabischen Frühlings zeigte sich wieder einmal das traditionelle Unverständnis der westlichen Perspektive für die gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Besonderheiten des arabischen Raumes.
Die Sehnsüchte der Linken nach sozialen Bewegungen, die ihre Hoffnungen nähren könnten, waren nur zu verständlich. Das letztliche Scheitern der um 1990 so hoffnungsvoll begonnenen und zunächst auch durchaus erfolgreichen sozialen Bewegungen in Südamerika war eine schwere Enttäuschung. Und der Siegeszug der neoliberalen Revolution ‚von oben‘ hatte bei ihr nicht etwa zu einer Vitalisierung ihrer Kampfesenergien geführt, sondern eher zu einer Lähmung. Denn die neoliberale Indoktrination, die auf alle Lebensbereiche zielt, einschließlich der Konstitution des Selbst, hatte es auch mit sich gebracht, dass das soziale Protestpotential gleichsam privatisiert wurde und sich nun vorrangig um gesellschaftliche Lifestyles und Identitätsfragen dreht.
Es gab also ein großes Bedürfnis nach hoffnungsvollen Entwicklungen. Und 2011 war für die Linke ein sehr hoffnungsfrohes Jahr: in Spanien die Bewegungen ‚Echte Demokratie Jetzt!‘ und 15M - aus der dann 2014 Podemos als neue Partei entstand -, die zusammen mit dem Arabischen Frühling ein wichtiger Faktor bei der Entstehung der Occupy Wall Street-Bewegung waren. Die Occupy-Bewegung fiel relativ rasch wieder in sich zusammen, weil sie kein klares Ziel hatte und in Teilen weitgehend unpolitisch war. Zudem habe sie, so der Neoliberalismus-Kritiker Philip Mirowski, den gravierenden Fehler gemacht, ihren Gegner nicht wirklich zu kennen, es habe ihr also an einem wirklichen Verständnis dessen gemangelt, was sie bekämpfte.
Zurück zu Ihrer Frage, warum die Linke die Aufstände des Arabischen Frühlings so enthusiastisch und oft unkritisch als ‚Revolutionen‘ feierte: Die so lange aufgestauten und durch den Erfolg der neoliberalen Indoktrination blockierten Sehnsüchte nach hoffungsvollen sozialen Bewegungen wurden – nicht zuletzt auch durch die Bewegungen in Spanien – wieder aktiviert und mit großer Intensität auf den Arabischen Frühling gerichtet. Wie immer wenn Affekte übermächtig werden, geht dies zu Lasten einer nüchternen kritischen Haltung, die sich vor einem Urteil - hier wie auch in allen anderen Fällen - zunächst die für eine Beurteilung relevanten Informationen zu verschaffen sucht.
10. Von Rolf Hochhuth ist am 31. März 2016 zu seinem 85. Geburtstag sein neuestes Buch "Ausstieg aus der NATO" erschienen. Im Juli vergangenen Jahres hat er mit dem gleichen Titel einen Offenen Brief an Bundeskanzlerin und Bundespräsident gerichtet, der mit dem Satz endet: "Sie wissen, wenn Sie nicht sofort handeln – das heißt, unseren Austritt aus der NATO erklären –, werden diese Brecht-Zeilen (Das große Karthago führte drei Kriege...) zum Nekrolog auf Deutschland!" Die Herrschaftsmedien ignorieren Brief und Buch. Aber auch die "Linke" verhält sich im Wesentlichen nicht anders. Wie ist das erklärbar?
Nun, das zeigt lediglich den normalen Operationsmodus der Medien. Eine zentrale ideologische Funktion der Medien liegt ja gerade darin, tagtäglich stillschweigend die Grenze zwischen ‚vernünftigen‘ und ‚unvernünftigen‘ Meinungen zu markieren und somit Positionen, die von den Machteliten als ‚unverantwortlich‘ - das bedeutet im wesentlich: als bedrohlich für ihren Status - angesehen werden, aus dem öffentlichen Diskursbereich auszuschließen. Positionen - wie gut begründet sie auch sein mögen -, die außerhalb des als ‚vernünftig‘ markierten Bereichs liegen, werden marginalisiert und für die Öffentlichkeit unsichtbar gemacht. Dagegen schützt auch keine Prominenz. Ein erhellendes Beispiel dazu war ja der im Dezember 2014 veröffentlichte Appell für eine andere Russlandpolitik. Dieser Aufruf Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen! wurde von 60 prominenten Politikern und Künstlern unterzeichnet, die eindringlich vor einem Krieg mit Russland warnten. Zu den Unterzeichnern gehörten neben Horst Teltschik, einem langjährigen Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, u.a. Erhard Eppler, Roman Herzog, Otto Schily, Hans-Jochen Vogel und Antje Vollmer, also prominente Mitglieder der Machtelite. Dieser Aufruf erschien zwar in der ZEIT, wurde jedoch sofort durch ein Sperrfeuer von Kommentaren begleitet, die die Perspektive der NATO als die einzig ‚vernünftige‘ erscheinen ließen. Die taz tat sich dabei wieder einmal hervor, indem sie den Aufruf schlicht als „Bückling vor Putin“ abtat. Eine prominente Grünen-Politikerin bezeichnete ohne intellektuelle Beschwernis den Aufruf als eine „politisch-intellektuelle Zumutung“. Es fand sich auch rasch eine Reihe stets bereitwilliger Professoren, die einen Gegenaufruf von „100 Osteuropa-Experten“ – darunter so renommierte wie Sabine Adler und Marieluise Beck – veröffentlichten, der den offensichtlich von keiner Sachkenntnis getrübten „Halbwahrheiten“ des Aufrufes die ‚Wahrheit‘ entgegenstellte, dass Russland der Aggressor sei. Kurz: Der Aufruf wurde von den Medien sofort als ‚unverantwortlich‘ markiert, marginalisiert und rasch für den öffentlichen Diskurs unsichtbar gemacht. Gleiches gilt für Steinmeiers Bemerkung - anläßlich des NATO-Manövers „Saber Strike“ und Polens Großmanöver „Anakonda“ -, dass „lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ an den Grenzen Russlands die Lage nur weiter anheize. Nur Stunden später markierten flächendeckend in allen Medien die Meinungs-Wachhunde der US-NATO-Allianz, wo die Grenzen eines ‚verantwortlichen‘ Meinungsspektrum liegen.
Das Muster ist also stets dasselbe. Davor ist niemand gefeit, möge er auch zu den Spitzen des Establishments gehören. Weder ein Hochhuth noch der Papst. Dieser hatte ja 2014 das kapitalistische Wirtschaftssystem „unerträglich“ genannt und auf die Tatsache hingewiesen, dass der Kapitalismus zu seinem Überleben auf Kriege angewiesen ist. Dabei übersah der Papst freilich, dass nicht das Wirtschaftssystem, sondern seine Kritik daran „unerträglich“ ist – ein ‚Irrtum‘, den dankenswerterweise die Süddeutsche Zeitung rasch richtigstellte: Da seine Kritik „im Stile der radikalen Linken“ sei, steht sie natürlich außerhalb des Spektrums ‚vernünftiger‘ Meinungen und braucht deswegen in dem von den Medien bestimmten öffentlichen Denkraum nicht weiter berücksichtigt zu werden.
Der Punkt ist also ein prinzipieller. Der renommierte politische Philosoph und Demokratietheoretiker Sheldon Wolin hat - noch einmal - darauf hingewiesen, dass unsere Form der Demokratie, die er als „Managed Democracy“ bezeichnet, ohne offene Unterdrückung von Dissidenten auskommt, solange diese politisch unwirksam sind, also den Zentren der Macht nicht gefährlich werden. Kritische Positionen lassen sich durch Aufmerksamkeitssteuerung und Marginalisierung und durch eine Markierung als ‚unverantwortlich‘ und ‚extrem‘ in nahezu unsichtbarer Weise höchst effektiv politisch neutralisieren.
11. Bundesverband Arbeiterfotografie und Deutscher Freidenkerverband sind seit Mitte 2015 bestrebt, eine Kampagne unter dem Motto "NATO raus aus Deutschland - Deutschland raus aus der NATO" anzustoßen. Aus der "Linken" und der Friedensbewegung kommt bislang mehr Gegenwind als Unterstützung. Welches Vorgehen empfehlen Sie, um aus Ablehnung bzw. Ignoranz Zustimmung und Unterstützung werden zu lassen?
Diese Frage berührt wichtige strategische Fragen des linken Projektes, die ja in der Linken intensiv und oft kontrovers diskutiert werden. Die Auflösung der NATO durch Austritt ihrer Mitgliedsstaaten ist zweifellos nicht nur ein erstrebenswertes Ziel, sondern geradezu eine Voraussetzung einer längerfristigen Friedenssicherung. Zunächst sollten wir uns daran erinnern, dass der NATO-Beitritt Deutschlands, als Teil der sog. Westintegration, auf massives Betreiben der USA 1955 auf völlig undemokratischem Wege und gegen den klaren Willen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung erfolgt ist und als Folge erst zur Gründung des Warschauer Paktes geführt hat. Die NATO wurde im Kalten Krieg - der übrigens nur für uns, nicht jedoch für viele Länder der sog. Dritten Welt ein ‚kalter‘ war – nach ihrem eigenen Verständnis als ein ‚Sicherheitsbündnis‘ gegründet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hätte sie eigentlich zusammen mit dem Warschauer Pakt aufgelöst werden müssen; sie sicherte jedoch ihre Existenz unter dem Mantel ‚Krisenmanagement‘ und ab 2001 als wichtiger Partner im US-amerikanischen „Kampf gegen den Terrorismus“. Damit trat der tatsächliche Charakter dieses ‚Sicherheitsbündnis‘ offen zutage, dass es nämlich bei ‚Sicherheit‘ darum geht, hegemoniale geopolitische und wirtschaftliche Interessen der US-geführten westlichen Allianz abzusichern. Diese Interessen hat die NATO in den vergangenen Jahren immer aggressiver verfolgt. Die Ausdehnung und Globalisierung der NATO stellt gegenwärtig die wohl größte Bedrohung für den Weltfrieden dar. Der NATO geht es gerade nicht um eine friedensorientierte Sicherheitsarchitektur, die selbstverständlich nur durch partnerschaftlichen Einbezug Russlands konzipiert werden kann. Der NATO geht es vielmehr gerade darum, Spannungen zu verschärfen, nicht zuletzt um durch die damit geschaffenen Bedrohungsszenarien die Kriegsbereitschaft der Bevölkerung zu vergrößern sowie deren Bereitschaft, die Kosten der gigantischen Kriegsmaschinerie zu tragen.
Das Beispiel Ukraine ist ja diagnostisch besonders erhellend. Der Osteuropa-Forscher Richard Sakwa hat hierüber ein im vergangenen Jahr erschienenes Buch verfaßt, das als erste Darstellung des Ukrainekonfliktes gilt, die den historischen und politischen Komplexitäten gerecht wird und um eine neutrale Perspektive bemüht ist. Er stellt darin fest, dass letztlich die Existenz der NATO durch die Notwendigkeit gerechtfertigt wird, genau diejenigen Sicherheitsbedrohungen zu bewältigen, die erst durch ihre Erweiterungen hervorgerufen werden. Die NATO schafft also durch ihr Handeln erst Bedrohungen, die sie dann in vollständiger Ursache-Wirkungs-Umkehrung Russland zuschreibt, um dann wiederum auf Grundlage einer solchen bewußten Faktenverdrehung ihr Handeln zu rechtfertigen. Unsere Leitmedien übernehmen diese Faktenverdrehung nicht nur, sondern befinden sich selbst im Rausch eines anti-russischen „Kriegsgeheuls“.
12. Die Unsichtbarkeit (der durch Massenmedien verstümmelten Fakten) ist eine Ihrer Thesen zur Manipulierbarkeit der „Schafsherde“. Die „gezielte Tötung“ ist aus den Nachrichtensendungen irgendwann über Nacht verschwunden. Was dazu geführt hat, ist uns unbekannt. Arundathi Roy („was betont und was weggelassen wird, zählt“) bezeichnet die „Medien“ als elementaren Bestandteil des neoliberalen Systems. Im Bundesverband Arbeiterfotografie betrachten wir – aus historischer Perspektive – Medienaufklärung als wesentliches Element unseres Engagements. Der Erfolg – vor allem innerhalb einer potentiell sich kritisch definierenden Klientel – ist begrenzt. Stattdessen geraten wir selbst ins Schussfeld. Was machen wir falsch?
Am Thema ‚Medien‘ beißen sich ja viele die Zähne aus. Das dahinterliegende Problem ist ganz offensichtlich so breit und geht so in die Tiefe, dass es schwer ist, Menschen überhaupt über das Ausmaß dieses Problems aufzuklären, und noch schwerer, Veränderungsstrategien zu entwickeln. Die Medien stellen schon ihrer Natur nach in allen gesellschaftlichen Systemen - und vor allem in Demokratien - zusammen mit Erziehungssystemen, also Schulen und Universitäten, den zentralen Kern von Indoktrinationssystemen dar. Da wir selbst Produkte eines solchen Indoktrinationssystems sind und somit unsere gesellschaftlichen und politischen Weltbilder davon durchtränkt sind, ist es ein fortwährender und ausgesprochen mühsamer Prozeß, sich zumindest einiger Elemente dieser Indoktrination bewußt zu werden.
Nehmen wir nur das Beispiel der Drohnenmorde, das Sie ansprechen. Bei der Behandlung dieser Dinge in den Medien zeigt sich eine weitere wichtige Funktion der Medien. Sie sollen die Bevölkerung an die Normalität von Verletzungen internationaler Rechtsnormen – von Verletzungen moralischer Normen gar nicht zu reden - gewöhnen, die oftmals erst in einem mühsamen historischen Prozeß gewonnen werden konnten. Das ferngesteuerte US-Drohnen-Programm, bei dem willkürlich und völkerrechtswidrig auf der ganzen Welt Menschen - die überwiegende Mehrzahl davon unbeteiligte Zivilisten - ermordet werden, ist zweifellos das größte systematisch-terroristische Programm der Geschichte. Dieses terroristische Programm wird – durch Ramstein – mit deutscher Unterstützung durchgeführt, was offensichtlich der Mehrzahl der Bürger hier keine sonderlichen moralischen Kopfschmerzen bereitet. Unsere natürlichen moralischen Sensitivitäten sind durch eine systematische mediale Indoktrination so sediert worden, dass wir dieses terroristische Programm als eine geradezu unvermeidbare Selbstverständlichkeit hinnehmen. Eine Bemerkung aus dem Jahr 2011 von Michael Hayden, dem CIA-Direktor der Regierung Bush, macht deutlich, in wie kurzer Zeit wir uns an die veränderte Normalität gewöhnt haben. Hayden sagte, bei Bush habe man noch eine gerichtliche Anordnung benötigt, um einen Terrorverdächtigen abzuhören, unter Obama benötige man nicht einmal einen Gerichtsbeschluss, um ihn zu ermorden.
Das ist nur das jüngste Beispiel für eine jahrhundertealte Unterscheidung, die die kaum noch hinterfragbare Grundlage unserer ‚westlichen Wertegemeinschaft‘ bildet. Das Muster durchzieht von den Kreuzzügen über den Kolonialismus bis heute unsere Geschichte. Wir haben uns daran gewöhnt, ‚konstruktive Blutbäder‘ - also die von ‚uns‘ angerichteten - von ‚schändlichen Blutbäder‘ - also denjenigen, die ‚unsere Feinde‘ anrichten - zu unterscheiden. Wir haben uns daran gewöhnt, dass man ‚wohlwollenden Terrorismus‘ – etwa zur Verbreitung von ‚Demokratie‘ und ‚Menschenrechten‘ - sowie ‚moralisch gerechtfertigten Terrorismus‘ - wie im Fall der Drohnenmorde - von einem ‚verdammungswürdigen Terrorismus‘ zu unterscheiden habe. Wir haben uns daran gewöhnt, dass es ‚betrauerbare‘ Opfer gibt - nämlich ‚unsere‘ Opfer - und ‚nicht-betrauerbare‘ Opfer – nämlich ‚ihre‘ Opfer – eine zutiefst anti-humane und rassistische Haltung, die durchweg den Nachrichtenwert von Terroropfern bestimmt und unsere gesamte tägliche Berichterstattung durchzieht. – Das alles sind ‚subtile‘, aber ‚notwendige‘ Differenzierungen, an die uns Medien und unsere Sozialisationssysteme - stets begleitet und unterstützt durch bereitwillige Intellektuelle - gewöhnt haben. Angesichts dieser tiefgehenden Indoktrination ist es eher überraschend, dass es immer noch Bürger gibt, die offenkundig moralisch so blind oder verblendet sind, dass sie nicht bereit sind, die Berechtigung solcher Unterscheidungen einzusehen.
13. Die Politikwissenschaftlerin Susan George, die über „Die Strategen des Hungers“ in der Welt promovierte, ist ausgewiesene Neoliberalismuskritikerin. In einem 1999 in Bangkok gehaltenen Vortrag zur „Geschichte des Neoliberalismus“, letzteren sie als „einen der größten Raubüberfälle aller und unserer bisherigen Generationen“ bezeichnet, kommt sie zu dem Schluss, dass „gut organisierte Netzwerk-Guerillas Schlachten gewinnen können.“ (gemeint ist der Kampf gegen den TTIP-Vorläufer M.A.I.) und stellt fest: „Was uns fehlt, bisher, ist die Organisation und die Geschlossenheit.“ Aber die „Geschlossenheit“ innerhalb der Protestbewegungen (auch innerhalb der Friedensbewegung) scheint mehr als brüchig. Welche Kräfte der „Manipulationsstrategen“ wurden und werden hier zum Einsatz gebracht? Wie sind sie zu enttarnen. Wie sind sie zu überwinden? Zum Beispiel wurde die „Neue Friedensbewegung“, die sich anlässlich des Ukraine-Putsches formiert hatte, als „rechts-offen“ diffamiert und spaltete die „linken“ Lager. Cui bono?
Das Attribut ‚rechts-offen‘ entstammt dem Propaganda-Arsenal derjenigen, die national wie international die gegenwärtige Machtverhältnisse akzeptieren und lediglich deren Folgen durch ‚moderate Reformen‘ zu lindern suchen. Sie haben daher ein Interesse, eine grundlegende Kritik zu blockieren und linke Bewegungen gleichsam von innen zu zersetzen. Wenn man für das Attribut ‚rechts-offen‘ ein passendes Anwendungsbeispiel sucht, so findet man es in der Ukraine selbst, wo sich Gruppen, die vorgaben, für ‚europäische Werte‘ zu kämpfen, systematisch mit rechtsextremen Gruppierungen verbunden haben.
Das linke Projekt - wenn man als seinen Kern den genannten Minimalkonsens eines universellen Humanismus und einer radikal demokratischen Gesellschaftsorganisation ansieht - kann so wenig ‚rechts-offen‘ sein, wie etwa Aufklärung für eine Gegenaufklärung offen sein kann. In der Sache ist das schlicht ein Widerspruch in sich. Auf der Ebene einzelner Personen oder Personengruppen hingegen ist natürlich alles möglich. Hier kann es Personen geben, die sich ‚aufgeklärt‘ nennen und dennoch voller rassistischer Vorurteile sind, hier kann es Personen geben, die sich als überzeugte Demokraten ansehen und dennoch ihre Bewunderung für faschistische Diktatoren ausdrücken, hier kann es Personen geben, die vorgeben, ‚westlichen Werten‘ verpflichtet zu sein und sich dennoch, wie Churchill, für den Einsatz von Giftgas gegen „unzivilisierte Stämme“ aussprechen, hier kann es Personengruppen geben, die sich christlich nennen und gleichwohl den systematischen sexuellen Mißbrauch von Kindern decken. Grundsätzlich können jedoch moralische oder politische Normen nicht allein dadurch ihre Gültigkeit verlieren, dass sie durch einzelne Personen oder Personengruppen verletzt werden; vielmehr sind personale Aspekte oder Charakterdefizite von Vertreten bestimmter Normen für die Bewertung dieser Normen irrelevant.
Es liegt also in der komplexen Natur des Menschen, dass auf personeller Ebene Haltungen gleichzeitig nebeneinander auftreten können, die in der Sache völlig unvereinbar miteinander sind. Folglich kann es auch Personen geben, die sich als ‚links‘ bezeichnen und sich dennoch gleichzeitig - entweder aus Neigung oder aus mangelnder gedanklicher Durchdringung - als offen für rechtes Gedankengut zeigen. Das ist empirisch eine ziemlich banale Feststellung; aus ihr läßt sich in keiner Weise folgern, dass in der Sache das linke Projekt irgendwelche Berührungspunkte mit rechtem Gedankengut haben könnte.
Interessanterweise findet sich, zumindest meinem Eindruck nach, eine solche Vermengung von sachlichen mit personellen Aspekten vor allem auf Seiten einer ‚reformistischen Linken‘. Deren Verrat ihrer eigenen normativen Ideale muß zwangsläufig unbewußte Schuldgefühle nach sich ziehen. Die daraus wiederum resultierenden Aggressionen werden dann, unter anderem in Form von Entwertungen, gegen diejenigen gerichtet, die diesen Idealen treu sind. Möglicherweise liegt in einer solchen psychologischen Dynamik gerade die Ursache dafür, dass es vor allem ‚reformistische Linke‘ sind, die radikalere linke Bewegungen unter Verweis auf die Haltungen einzelner Personen oder Personengruppen in Diskredit zu bringen suchen.
Ihre Stichworte ‚Organisation‘ und ‚Geschlossenheit‘ sprechen in der Sache sehr wichtige Punkte an. Denn die Linke ist ganz offenkundig gegenwärtig in einem beklagenswerten Zustand, nicht nur strategisch, sondern vor allem durch Selbstzweifel hinsichtlich ihrer Identität. Bisweilen habe ich den Eindruck, dass sich eigentlich niemand mehr zu einem linken Projekt bekennen möchte – Podemos nicht und auch die LINKE nicht mehr so richtig. Diese Unsicherheit über die eigene Identität und die sich daraus ergebenden Ziele erscheinen mir als der größte Erfolg der neoliberalen Indoktrination. Bereits die Indoktrination zur Zersetzung der Idee von Klassengegensätzen und konkret zur Schwächung von Gewerkschaften, die bis in die Anfänge des vergangenen Jahrhunderts zurückreicht, war ja ausgesprochen erfolgreich. Die neoliberale Indoktrination zur Zersetzung der Identität des linken Projektes als solchem ist im Vergleich damit noch sehr viel tiefgreifender und folgenschwerer. Sie wird zudem von vielen Personen in linken Bewegungen unbemerkt und unbewußt übernommen, so dass sich der Zersetzungsprozeß nunmehr von innen vollzieht.
Diesen Zustand gilt es zunächst besser zu erkennen, um dann Strategien zu entwickeln, wie man ihn überwinden kann. Einige Ursachen hatten wir ja schon angesprochen, wie die durch die neoliberale Indoktrination geförderte ‚Privatisierung‘ des sozialen Protests durch Lifestyle- und Identitätsbewegungen oder die recht erfolgreichen Zersetzungsbemühungen von außerhalb, aber auch von innerhalb der Linken.
Das führt also noch einmal zurück zu der vorher von Ihnen angesprochenen Frage, was die Linke falsch macht. Es gibt ja eine Reihe von Punkten, die der Linken zu schaffen machen. Sie ist häufig in internen Diskursen absorbiert, die für die Bevölkerung kaum Attraktivität entfalten können. Sie verwendet in Kleinkämpfen untereinander mehr Energie auf Abgrenzungs- und Ausgrenzungsarbeit als gegen den politischen Gegner. Auch dies wirkt auf die Bevölkerung ausgesprochen abschreckend und vermag kaum Interesse zu wecken für die gesellschaftlichen Ideen der Linken. Um also eine größere Geschlossenheit zu erreichen, müssen wir uns wieder auf einen Minimalkonsens der Inhalte und Ziele besinnen, die das linke Projekt ausmachen. Eines der Hauptprobleme gegenwärtig ist ja, dass es infolge der mittlerweile psychisch tief eingedrungenen Ideologie der Alternativlosigkeit an der treibenden Kraft attraktiver gesellschaftlicher Zielvorstellungen mangelt. Wir müssen also dringend wieder Ziele formulieren, die geeignet sind, Begeisterung und Leidenschaft auszulösen und für die es sich zu kämpfen lohnt – und nicht nur Dinge benennen, gegen die wir kämpfen.
Was die Organisationsformen betrifft, so müssen wir viel stärker die historischen Erfahrungen und auch die Gründe des Scheiterns bisheriger Organisationsformen analysieren und angemessene Schlüsse daraus ziehen. Nur auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen werden wir in die Lage versetzt, den Menschen Organisationsformen anbieten, die politisch die gewünschte Wirkung entfalten und zu einer Re-Politisierung der Gesellschaft – wie jüngst durch Podemos in Spanien – führen. Nur durch geeignete Organisationsformen haben wir eine Chance, Menschen aus der politischen Isolation und der induzierten politischen Lethargie und Hoffnungslosigkeit zu lösen und ihnen wieder Hoffnung zu geben, dass die Dinge änderbar sind.
In den Inhalten, die wir vermitteln wollen, sollten wir viel stärker berücksichtigen, dass es ein großes Potential an Einstellungen der Bevölkerung gibt, an die wir unmittelbar anknüpfen könnten. Dieses Potential ergibt sich bereits daraus, dass wir von Natur aus mit moralischen Sensitivitäten versehen sind. Diese beziehen sich insbesondere auf natürliche Vorstellungen über den Kern dessen, was ‚Freiheit‘, ‚Zwang‘ oder auch ‚Verteilungsgerechtigkeit‘ ausmachen. Darauf hatte übrigens schon 1759 der Moralphilosoph und Begründer der klassischen Nationalökonomie Adam Smith hingewiesen, und die jüngere Kognitionsforschung hat eine Fülle von experimentellen und theoretischen Belegen hierfür gewonnen. Diese natürlichen Vorstellungen schlagen sich auch in Einstellungen der Bevölkerung nieder, von der eine große Mehrheit – ob in den USA, bei uns oder in anderen europäischen Ländern – unser Wirtschaftssystem und die daraus resultierende Eigentumsverteilung als unfair ansieht. Aus einer solchen Einschätzung ergibt sich unmittelbar, dass eine Mehrzahl einen großen, wenn nicht gar radikalen Veränderungsbedarf sieht. Jedoch ist durch die tiefgreifende und praktisch unsichtbare Indoktrination die Fähigkeit blockiert, aus dieser moralischen Einschätzung angemessene Schlußfolgerungen zu ziehen. Eigentlich haben wir also in unseren Kernthemen sehr vielversprechende Anknüpfungspunkte. Wir sind aber offensichtlich nicht in der Lage, das natürliche moralische Urteilsvermögen der Menschen und das natürliche Empörungspotential über Verletzungen elementarer moralischer Normen in sozialen Bewegungen politisch wirksam werden zu lassen.
Ein immer wieder diskutiertes strategisches Problem der Linken liegt ja darin, dass sie in ihrer Begrifflichkeit und ihren Argumentationsfiguren bisweilen stereotypen Mustern verhaftet bleibt, die wenig geeignet sind, in der Bevölkerung Resonanz auszulösen. Sie beschränkt sich oft darauf, linke Positionen einfach zu deklamieren, statt in beharrlicher Aufklärungs-Kleinarbeit zunächst die notwendigen Grundlagen für diese Positionen zu vermitteln. Wir müssen also in unseren Aufklärungsbemühungen viel stärker darauf achten, die Menschen dort abzuholen, wo sie in ihrem Wissen und mit ihren Einstellungen stehen. Wir müssen aufzeigen, dass es gangbare Wege gibt, die vom jetzigen Zustand zu einem wünschenswerteren gesellschaftlichen Zustand führen können.
In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts spielte im linken Projekt noch die Arbeiter- und Volksbildung eine große Rolle. Das ist eine mühsame kontinuierliche Aufklärungsarbeit, die darauf zielt, in gesellschaftlichen und politischen Dingen das Wissensgefälle zwischen den Machteliten und dem Rest der Bevölkerung zu reduzieren. Dabei ist wichtig, dass sich diese Aufklärungsarbeit auch auf uns selbst - beispielsweise auf unsere Neigungen und ‚Schwachstellen‘ für Manipulationen, unsere Wissensbasis oder die Berechtigung unserer Prämissen - beziehen muß. So neigen wir dazu, in gravierender Weise die Möglichkeiten zu unterschätzen, über die Machteliten verfügen, unsere Meinungen und Gefühle zu manipulieren und soziale Protestbewegungen zu zersetzen, zu neutralisieren und auf politisch harmlose Ziele umzulenken.
Nur durch solche Aufklärungsarbeit kann überhaupt erst wieder eine Basis für die Bildung politischer Überzeugungen geschaffen werden und Stück für Stück der Indoktrination entgegengewirkt werden. Hier ist etwas weitgehend verlorengegangen, was einmal ein wesentliches Werkzeug im Werkzeugkasten des linken Projektes war.
14. An welchem Punkt der Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung stehen wir? Was kann jede einzelne oder jeder einzelne der (scheinbaren) Übermacht der Herrschaftsapparate entgegensetzen? Welche Erkenntnisse der Psychologie können wir uns zunutze machen, um die Ängste und die daraus resultierende Abwehrhaltung vieler Menschen zu überwinden? Wie können wir der verbreiteten Tendenz zur Gesprächsverweigerung begegnen – wie der verheerenden Entwicklung, dass einst kooperierende Partner und Gruppierungen anstelle der eigentlichen Gegner sich untereinander bekriegen?
Darauf kann es – leider – keine einfachen Antworten geben, sonst wären wir wohl gar nicht erst in die Situation gekommen, in der wir gegenwärtig sind. Es gibt aber gute Gründe für die Einschätzung, dass wir gegenwärtig in einer Zeit besonders aggressiver und politisch wirksamer Gegenaufklärung leben. Doch die Auseinandersetzung zwischen Kernelementen der Aufklärung und Kernelementen der Gegenaufklärung begleitet uns seit je und stellt einen permanenten Prozeß dar, der die Jahrhunderte durchzieht.
Schon zur Zeit der Aufklärung wurden ja deren radikalere Elemente, insbesondere die Ablehnung von Chauvinismus, Rassismus und Nationalismus, von vielen bekämpft, die sich ebenfalls als ‚Aufklärer‘ bezeichnen. Das führte dazu, dass der Begriff ‚wahre Aufklärung‘ eingeführt wurde, der jedoch ebenfalls – das ist wohl der typische Gang der Dinge beim Kampf um die öffentliche Meinung – von den Gegenaufklärern beansprucht wurde. Wir können also nur konsequent versuchen, die Prämissen unserer eigenen gesellschaftlichen und politischen Positionen offenzulegen und zugleich unsere eigenen Vorurteile und die Vorurteile anderer zu identifizieren. Für dieses Ziel hat uns die Aufklärung einen reichen Werkzeugkasten von Instrumenten der Ideologiekritik hinterlassen, von dem wir täglich – vor allem, wenn wir auf ideologiedurchtränkte Begriffe wie ‚Querfront‘, ‚Verschwörungstheorie‘ oder ‚Anti-Amerikanismus‘ stoßen – Gebrauch machen sollten.
Dieser eher intellektuelle Bereich einer Aufklärung ist leichter handzuhaben als der affektive, also die induzierten Ängste. Der Kapitalismus und insbesondere seine neoliberale Variante haben besonders wirksame Techniken entwickelt, individuelle Unsicherheit zu schüren und aus den daraus resultierenden Ängsten politisches Kapital zu schlagen. Dazu gehören auch Ängste vor gesellschaftlichen Veränderungen – selbst dann, wenn sie Veränderungen ungerechter und unmenschlicher Strukturen betreffen. Das ist ein großes Problem, denn selbst die Verlierer dieser Wirtschaftsordnung fühlen sich durch soziale Veränderungen und auch durch soziale Bewegungen, die auf Veränderungen zielen, bedroht. Aber auch hier gibt es letztlich keinen anderen Weg als beharrliche Aufklärung, insbesondere Aufklärung über die psychologischen Mechanismen, die politisch zur Erzeugung von Unsicherheit, Ängsten und einem Gefühl der Wirkungslosigkeit ausgenutzt werden.
Angesichts der alles durchdringenden neoliberalen und politischen Indoktrination werden wir für diese Aufklärung einen langen Atem brauchen und können nur hoffen, dass uns die Katastrophen, auf die wir ökonomisch, militärisch und ökologisch zusteuern, genügend Zeit für grundlegende Änderungen lassen. Jede einzelne und jeder einzelne kann zu einer solchen Aufklärung über die politische und gesellschaftliche Realität und über die zu ihrer Verdeckung verwendeten Instrumente der Indoktrination einen Beitrag leisten, der den eigenen Möglichkeiten und dem eigenen sozialen Wirkungsumfeld entspricht. Es muß nur der Wille und die Entschlossenheit vorhanden sein, unmenschliche gesellschaftliche Zustände zu ändern.
Siehe auch:
Teil 1 des Interviews:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22921
Teil 1 des Vortrags in Aachen:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22751
Teil 2 des Vortrags in Aachen:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22754
Online-Flyer Nr. 570 vom 13.07.2016
Fragen zur Frage "Warum schweigen die Lämmer?"
Der Mensch im Geflecht von Medien, Manipulation und Macht (2)
Prof. Rainer Mausfeld im Interview mit Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
Die Hauptverantwortung einer Regierung in einer "Demokratie" ist, die Minorität der besitzenden Klasse gegen die Majorität der Nicht-Besitzenden zu schützen. Eine repräsentative Demokratie repräsentiert NICHT den Willen des Volkes. Die bewusste und intelligente Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil so genannter "demokratischer" Gesellschaften. Solche seltenen Sätze waren bei den Aachener Friedenstagen 2016 zu hören - bei einem Vortrag zur Frage "Warum schweigen die Lämmer?", gehalten von Prof. Rainer Mausfeld, einem Psychologen und Kognitionsforscher an der Universität Kiel. Mit ihm hat die NRhZ nun ein vertiefendes Interview geführt, das wir in zwei Teilen wiedergeben - hier Teil 2. Er beginnt mit zwei ergänzenden Fragen zum Themenkomplex False-Flag-Operationen (5.1 und 5.2). Daran schließen sich die Fragen 8 bis 14 an. Am Schluss steht - trotz drohender Katastrophen - die Hoffnung: "Jede einzelne und jeder einzelne kann zu einer... Aufklärung über die politische und gesellschaftliche Realität... einen Beitrag leisten... Es muß nur der Wille und die Entschlossenheit vorhanden sein, unmenschliche gesellschaftliche Zustände zu ändern."
Prof. Rainer Mausfeld beim Vortrag im Rahmen der Aachener Friedenstage 2016 (Foto: arbeiterfotografie.com)
5.1 Sie raten dazu, sich weniger mit der besonderen Form des Staatsterrorismus, den False-Flag-Operationen, zu befassen, sondern vorrangig mit den "normalen" Formen - wie z.B. den Drohnenmorden. Sicherlich haben False-Flag-Operationen in der Regel weniger Opfer zur Folge. Aber sind sie nicht ganz entscheidend und zentral bei der Erzeugung der Feindbilder, die den "normalen" Staatsterrorismus legitimieren und in vielen Fällen den "normalen" Krieg überhaupt erst möglich machen, so dass ihnen eine Art Schlüsselfunktion zukommt (z.B. Sender Gleiwitz für den Beginn des Zweiten Weltkriegs, Pearl Harbor für den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, 9/11 für den so genannten "Krieg gegen den Terror")?
Konkrete terroristische Akte - unabhängig davon, ob es sich um False-Flag-Operationen handelt oder nicht - sind natürlich besonders geeignet für eine prompte Angsterzeugung und für die rasche Herstellung von politisch erwünschten Feindbildern. Gleiches gilt für entsprechende Lügen und Täuschungen, wie den Tonkin-Zwischenfall oder die Brutkasten-Lüge. Ich glaube nicht, dass für die Feindbilderzeugung False-Flag-Operationen eine besondere Rolle spielen oder überhaupt erforderlich sind. Wir müssen uns immer wieder klarmachen, dass es gerade die abendländische Kultur in der Entwicklung von Techniken zur Produktion von Feindbildern zu einer besonderen ‚Virtuosität‘ gebracht hat. Rassismus in unterschiedlichsten Varianten, Anti-Kommunismus und Islamfeindlichkeit sind nur einige Beispiele. Insbesondere Kolonialismus und Imperialismus wurzeln in kulturell tief verankerten Feindbildern. Folter und Drohnenmorde würden von der Bevölkerung nicht mit einer solchen moralischen Apathie hingenommen, wenn ihr nicht zuvor entsprechende Feindbilder eingepflanzt worden wären. Hinzu kommt, dass moderne Indoktrinationsmethoden in Verbindung mit den Massenmedien ein Arsenal zur schnellen und tiefenwirksamen Feindbildererzeugung bereitstellen, dessen Wirksamkeit von uns zumeist gravierend unterschätzt wird.
5.2 Sie vertreten die Auffassung, eine überwiegende Fokussierung auf das Thema False-Flag ziehe die politische Aufmerksamkeit von dauerhaften strukturellen Faktoren, also vom normalen Operationsmodus, ab und binde auf diese Weise politische Veränderungsenergie. Ist es aber nicht eher so, dass in der Linken und der Friedensbewegung eine viel zu geringe Bereitschaft besteht, die Bedeutung von False-Flag-Operationen zu sehen - besonders, wenn es um das Extremereignis 9/11 und die daraus folgende Legitimierung eines "nicht endenden" Krieges geht? Unserer Meinung nach wird ganz systematisch versucht, dieses Themenfeld auszublenden - durch Stigmatisierung von kritischen Stimmen z.B. mittels des Unworts "Verschwörungstheoretiker". Und ist es nicht so, dass dies auch deshalb so gut gelingt, weil viele Menschen sich die Perversion nicht vorstellen können, dass die Eliten Teile der eigenen Bevölkerung umzubringen bereit sind, um damit Kriegsstimmung zu erzeugen?
Es gibt grundsätzlich eine zu geringe Bereitschaft, sich mit der jahrzehnte- und jahrhundertelangen Kontinuität gravierender Verletzungen unserer eigenen moralischen und politischen Normen auseinanderzusetzen und daraus Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Der sog. ‚Krieg gegen den Terror‘, der bislang weit über eine Millionen Tote gefordert hat, zahlreiche Länder in Schutt und Asche gelegt und ihre staatlichen Strukturen zerstört hat und bis heute 5-7 Billionen Dollar an Steuergeldern verschlungen hat, ist ein Verbrechen von einer derartigen historischen Monstrosität, dass es intensivster Indoktrination bedarf, um die natürlichen moralischen Sensitivitäten der Bevölkerungen der ‚westlichen Wertegemeinschaft‘ nahezu vollständig zu sedieren.
Wenn sich eine solche moralische Apathie so erfolgreich bei einem so großen und vergleichsweise so gut dokumentierten Verbrechen erzeugen läßt, erscheint mir in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ein unstreitiger und zweifelsfreier Beweis erbracht werden könnte, dass 9/11 ein Inside-Job war, die Erwartung begründet, dass die öffentliche Empörung nur kurzzeitig aufflammen würde und dann rasch durch die bewährten medialen Methoden wieder unter Kontrolle gebracht werden würde. An den Machtstrukturen würde sich also selbst in diesem Fall nichts wesentliches ändern.
Auch die Hoffnung, dass ein Bekanntwerden der Ermordung eigener Bürger durch den Staat ein systemveränderndes Ausmaß an Empörung auslösen könnte, erscheint mir angesichts historischer Fakten unbegründet. Es gibt – jenseits von Kriegen, in denen stets Teile der eigenen Bevölkerung ‚fürs Vaterland‘, also für seine Machteliten, verheizt wurden und werden – genügend historische Beispiele dafür, dass Regierungen bereit sind, Teile der eigenen Bevölkerung gravierend zu schädigen oder umzubringen. Viele dieser Fälle sind zweifelsfrei dokumentiert; beispielsweise 1957 in Nevada die Atombombentests der Operation Plumbbob, in deren Rahmen aus medizinisch-militärischen Versuchsgründen fast zwanzigtausend US-Soldaten – neben 1200 Schweinen – bewußt und ungeschützt nur wenige Kilometer vom Detonationsort den radioaktiven Einwirkungen ausgesetzt wurden, mit den vorhersehbaren Folgen. Es ist ein erst durch lange Indoktrination hervorgebrachtes Mißverständnis zu denken, dass es Aufgabe eines Staates sei, das Leben seiner Bürger zu schützen.
Es bleibt Ihre allgemeinere Frage, welche Aufmerksamkeit man im Rahmen linker Aufklärungsbemühungen potentiellen False-Flag-Operationen zumessen sollte. Die Antwort auf diese Frage scheint mir davon abzuhängen, wie man eine vorgeordnete Frage beantwortet: In welchem Bereich ist man persönlich in der Lage und befähigt, im eigenen Wirkungsumfeld zu einer Aufklärung über gegenwärtige Machtstrukturen, ihre Wirkungsweise und ihre Auswirkungen beizutragen? Für mich persönlich ist die Antwort hierauf nicht schwer. Ich muß mich bei einer solchen Aufgabe auf diejenigen Fälle gravierender Verletzungen moralischer und politischer Normen beschränken, in denen die Faktenlage – ein Minimum an Rationalität vorausgesetzt - unstreitig ist, so daß ich auf dieser Basis die Aufmerksamkeit auf die moralische Bewertung dieser Fakten richten kann. Dazu muß ich kein Spezialist sein, denn wir alle verfügen über die erforderlichen moralischen Sensitivitäten; zudem reichen einfache Denkmethoden, um moralische Doppelstandards identifizieren zu können. Andere mögen ihre Schwerpunkte anders setzen; hier ist viel Spielraum für persönliche Präferenzen. Bedenklich wird es jedoch, wenn im Rahmen ernsthafter linker Aufklärungsbemühungen Personen oder Gruppen allein wegen ihrer Themenpräferenzen diffamiert werden und auf diese Weise von innen ein Beitrag zur Zersetzung der Linken geleistet wird.
8. Sie stellen zwei Hauptaspekte von Empörungsmanagement dar: Empörung eindämmen innerhalb des Imperiums sowie Empörung anfachen außerhalb des Imperiums bei dessen Widersachern. Eine Frage bezogen auf das Eindämmen: inwieweit gehört zum Ablenken von den eigenen Verbrechen auch das gezielte Eröffnen von Nebenschauplätzen, auf denen Empörung sich austoben darf (z.B. alle "Demokraten" gemeinsam gegen Nazis)? Wie gelingt es, viele engagierte Menschen auf diese Schauplätze zu locken?
Das ist in der Tat ein sehr wichtiges Phänomen, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Das Eröffnen derartiger Nebenschauplätze ist ein wesentlicher Teil der affektiven Steuerung der Bevölkerung. Das Spektrum entsprechender Möglichkeiten ist praktisch unbegrenzt. Es umfaßt die ganze Flut der Belanglosigkeiten, mit denen nicht nur die Regenbogenpresse die Aufmerksamkeit von allen relevanten gesellschaftlich-politischen Themen ablenkt. Auch Berichte über die ‚Gier‘ von Bankern, die Gehälter von Konzernvorständen und andere politisch folgenlose Personalisierungen von Verfehlungen von ‚denen da oben‘ lenken die Aufmerksamkeit von den relevanten Themen ab. Zudem eignet sich natürlich alles, was mit dem Thema ‚Terrorismus‘ (der anderen) zu tun hat, hervorragend für eine Ablenkung von eigenen Verbrechen. So sind - wie schon seit den Anfängen des Empörungsmanagements bekannt ist - die Möglichkeiten praktisch unerschöpflich, berechtigte Empörung über gesellschaftlich unhaltbare Zustände oder über andere Verletzungen moralischer Normen zu nutzen und mit einem geeigneten Spin in die gewünschte Richtung politischer Wirkungslosigkeit zu treiben. Zudem läßt sich leicht durch eine Überflutung mit Empörungsanlässen eine Empörungserschöpfung erzeugen, die dann wieder die gewünschte politische Lethargie fördert.
Bündnisse wie alle Demokraten gegen Nazis oder Aufstehen gegen Rassismus mögen nützlich sein, um eine gewisse Repolitisierung anzuregen, doch bergen sie zugleich die Gefahr, dass sie dazu beitragen, die Konturen der Wirkungsfaktoren verschwimmen zu lassen, die diesen Dingen ursächlich zugrunde liegen. So hat beispielsweise der Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein die engen ökonomischen Bezüge von Kapitalismus und Rassismus aufgezeigt. Auch sollten wir nicht vergessen, dass rassistische Ressentiments gegen ‚Fremde‘ auch von den großen Volksparteien gesät und genährt worden sind. Das medial gesteuerte kollektive Gedächtnis ist auch hier kurz, und wir vergessen gerne Wolfgang Schäubles ‚Das Boot ist voll‘-Hetze oder Edmund Stoibers Ausdruck der „durchmischten und durchrassten Gesellschaft“ Anfang der 90er Jahre und die dann ‚völlig überraschend‘ erfolgten Pogrome in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. - Bündnisse, deren Gemeinsamkeiten in Zielen liegen, wie sie problemlos auch von jenen Parteien wie CDU/CSU, SPD oder Grüne geteilt werden können, die einen scharf wirtschaftsnationalistischen und neoliberalen Kurs verfolgen, bergen die große Gefahr, von den eigentlichen politischen Ursachen abzulenken.
9. Eine Frage bezogen auf das Anfachen von Empörung, Beispiel Arabischer Frühling: Wie ist erklärbar, dass der Arabische Frühling – obwohl es frühzeitig Hinweise darauf gab, dass er vom US-Imperium angefacht wurde – von "linken" Kräften u.a. in Deutschland als Revolution gefeiert wurde? Welche Mechanismen führen dazu, dass ein kritisches, an Aufklärung orientiertes Denken ausgeschaltet oder unterlaufen wird?
Diese Ereignisse im arabischen Raum waren in ihren Ursachen und in ihrem Verlauf recht komplex, und man müßte in die Details unterschiedlicher Länder gehen. Tunesien ist, auch in den Erfolgen, anders zu beurteilen als Ägypten, beide wiederum anders als etwa Syrien oder auch Libyen, wo die NATO zentral beteiligt war. Mir fehlt der Hintergrund, um diese Dinge im einzelnen bewerten zu können. Jedenfalls gab es in den verschiedenen Ländern unterschiedliche lokale Ursachen, die eine Initialzündung bildeten. Doch war in vielen Ländern der Protestboden bereits gut durch eine Reihe von privaten regierungsfinanzierten US-amerikanischen Organisationen vorbereitet worden. Wie auch in anderen Fällen von ‚Volksrevolutionen‘ spielt auch hier das National Endowment for Democracy eine große Rolle. Darüber berichtete schon 2011 die New York Times, doch erinnere ich mich nicht daran, dass dieses Thema in unseren Medien aufgegriffen worden wäre. Wenn schon die relevanten Fakten fehlen, benötigt man gar keine besonderen Mechanismen mehr, um kritisches Denken auszuschalten. Hannah Arendt hatte schon darauf hingewiesen, dass Meinungsfreiheit eine Farce ist, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist.
Jedenfalls unterstützten - gegen die Volksbewegungen - die USA und Großbritannien, solange es ging, den ägyptischen Diktator Mubarak, bis das Militär nicht mehr mitmachte, und die Franzosen den tunesischen Diktator Ben Ali. Dabei zeigt sich das bekannte Muster: Die USA schauen sich zunächst an, wie sich die Dinge entwickeln, und scheuen sich dabei auch nicht, eine Zeitlang beide Seiten zu unterstützen. Wenn sich herauskristallisiert, wer gewinnt, verstärken sie ihren Einfluß und Zugriff auf die vermutliche Gewinnerseite, bis alles wieder in ihrem Sinne unter Kontrolle ist. Denn ihnen ist eigentlich egal, wer gewinnt, ob Diktator oder auch ein fundamentalistischer Islamist, solange sie die Kontrolle behalten, vor allem über die ölreichen Länder. Insofern unterscheidet sich der Umgang mit den Aufständen in arabischen Diktaturen in nichts von den vorhergehenden Fällen, sei es Somoza in Nicaragua, Duvalier in Haiti, Marcos in den Philippinen, Mobutu im Kongo oder Suharto in Indonesien. Erinnern wir uns nur an Suharto. Er wurde von den USA als „Lichtblick in Asien“ bezeichnet und von Helmut Kohl als Freund, dem er "großen Respekt und Zustimmung" zolle. Da überrascht es nicht, dass unsere Medien dem von ihm zu verantwortenden und von den USA gebilligten Völkermord in Osttimor ebenso wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben, wie den 1,5 Millionen Menschen, die während seiner antikommunistischen Hexenjagd ermordet wurden. Hier wie in allen anderen Fällen gilt: Selbst die brutalsten Diktatoren werden so lange gestützt, wie die Diktatur die Interessen der USA respektiert und innenpolitisch stabil ist; wird sie instabil, setzt man eben auf eine andere Karte und bedient sich dabei auch gerne demokratischer Rhetorik. Auch in all den genannten Fällen haben übrigens unsere Medien wieder einen wertvollen Beitrag geleistet, die wichtige moralische Differenzierung zwischen zu duldenden Massenmördern und unakzeptablen Massenmördern zu vermitteln.
Was den Arabischen Frühling angeht, so gab es dennoch einiges zu begrüßen. In einigen Ländern sind Entwicklungen in Gang gekommen - auch wenn sie in der Regel rasch und oft brutal wieder blockiert wurden -, deren längerfristige Auswirkungen schwer abzuschätzen sind. In jedem Fall waren damals viele Hoffnungen der Linken übertrieben und entsprangen ihren Sehnsüchten nach sozialen Bewegungen, mit denen sie sich identifizieren könnten. Aber sie entsprangen zugleich auch den üblichen westlichen Projektionen; denn in der Bewertung der Entwicklungen des Arabischen Frühlings zeigte sich wieder einmal das traditionelle Unverständnis der westlichen Perspektive für die gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Besonderheiten des arabischen Raumes.
Die Sehnsüchte der Linken nach sozialen Bewegungen, die ihre Hoffnungen nähren könnten, waren nur zu verständlich. Das letztliche Scheitern der um 1990 so hoffnungsvoll begonnenen und zunächst auch durchaus erfolgreichen sozialen Bewegungen in Südamerika war eine schwere Enttäuschung. Und der Siegeszug der neoliberalen Revolution ‚von oben‘ hatte bei ihr nicht etwa zu einer Vitalisierung ihrer Kampfesenergien geführt, sondern eher zu einer Lähmung. Denn die neoliberale Indoktrination, die auf alle Lebensbereiche zielt, einschließlich der Konstitution des Selbst, hatte es auch mit sich gebracht, dass das soziale Protestpotential gleichsam privatisiert wurde und sich nun vorrangig um gesellschaftliche Lifestyles und Identitätsfragen dreht.
Es gab also ein großes Bedürfnis nach hoffnungsvollen Entwicklungen. Und 2011 war für die Linke ein sehr hoffnungsfrohes Jahr: in Spanien die Bewegungen ‚Echte Demokratie Jetzt!‘ und 15M - aus der dann 2014 Podemos als neue Partei entstand -, die zusammen mit dem Arabischen Frühling ein wichtiger Faktor bei der Entstehung der Occupy Wall Street-Bewegung waren. Die Occupy-Bewegung fiel relativ rasch wieder in sich zusammen, weil sie kein klares Ziel hatte und in Teilen weitgehend unpolitisch war. Zudem habe sie, so der Neoliberalismus-Kritiker Philip Mirowski, den gravierenden Fehler gemacht, ihren Gegner nicht wirklich zu kennen, es habe ihr also an einem wirklichen Verständnis dessen gemangelt, was sie bekämpfte.
Zurück zu Ihrer Frage, warum die Linke die Aufstände des Arabischen Frühlings so enthusiastisch und oft unkritisch als ‚Revolutionen‘ feierte: Die so lange aufgestauten und durch den Erfolg der neoliberalen Indoktrination blockierten Sehnsüchte nach hoffungsvollen sozialen Bewegungen wurden – nicht zuletzt auch durch die Bewegungen in Spanien – wieder aktiviert und mit großer Intensität auf den Arabischen Frühling gerichtet. Wie immer wenn Affekte übermächtig werden, geht dies zu Lasten einer nüchternen kritischen Haltung, die sich vor einem Urteil - hier wie auch in allen anderen Fällen - zunächst die für eine Beurteilung relevanten Informationen zu verschaffen sucht.
10. Von Rolf Hochhuth ist am 31. März 2016 zu seinem 85. Geburtstag sein neuestes Buch "Ausstieg aus der NATO" erschienen. Im Juli vergangenen Jahres hat er mit dem gleichen Titel einen Offenen Brief an Bundeskanzlerin und Bundespräsident gerichtet, der mit dem Satz endet: "Sie wissen, wenn Sie nicht sofort handeln – das heißt, unseren Austritt aus der NATO erklären –, werden diese Brecht-Zeilen (Das große Karthago führte drei Kriege...) zum Nekrolog auf Deutschland!" Die Herrschaftsmedien ignorieren Brief und Buch. Aber auch die "Linke" verhält sich im Wesentlichen nicht anders. Wie ist das erklärbar?
Nun, das zeigt lediglich den normalen Operationsmodus der Medien. Eine zentrale ideologische Funktion der Medien liegt ja gerade darin, tagtäglich stillschweigend die Grenze zwischen ‚vernünftigen‘ und ‚unvernünftigen‘ Meinungen zu markieren und somit Positionen, die von den Machteliten als ‚unverantwortlich‘ - das bedeutet im wesentlich: als bedrohlich für ihren Status - angesehen werden, aus dem öffentlichen Diskursbereich auszuschließen. Positionen - wie gut begründet sie auch sein mögen -, die außerhalb des als ‚vernünftig‘ markierten Bereichs liegen, werden marginalisiert und für die Öffentlichkeit unsichtbar gemacht. Dagegen schützt auch keine Prominenz. Ein erhellendes Beispiel dazu war ja der im Dezember 2014 veröffentlichte Appell für eine andere Russlandpolitik. Dieser Aufruf Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen! wurde von 60 prominenten Politikern und Künstlern unterzeichnet, die eindringlich vor einem Krieg mit Russland warnten. Zu den Unterzeichnern gehörten neben Horst Teltschik, einem langjährigen Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, u.a. Erhard Eppler, Roman Herzog, Otto Schily, Hans-Jochen Vogel und Antje Vollmer, also prominente Mitglieder der Machtelite. Dieser Aufruf erschien zwar in der ZEIT, wurde jedoch sofort durch ein Sperrfeuer von Kommentaren begleitet, die die Perspektive der NATO als die einzig ‚vernünftige‘ erscheinen ließen. Die taz tat sich dabei wieder einmal hervor, indem sie den Aufruf schlicht als „Bückling vor Putin“ abtat. Eine prominente Grünen-Politikerin bezeichnete ohne intellektuelle Beschwernis den Aufruf als eine „politisch-intellektuelle Zumutung“. Es fand sich auch rasch eine Reihe stets bereitwilliger Professoren, die einen Gegenaufruf von „100 Osteuropa-Experten“ – darunter so renommierte wie Sabine Adler und Marieluise Beck – veröffentlichten, der den offensichtlich von keiner Sachkenntnis getrübten „Halbwahrheiten“ des Aufrufes die ‚Wahrheit‘ entgegenstellte, dass Russland der Aggressor sei. Kurz: Der Aufruf wurde von den Medien sofort als ‚unverantwortlich‘ markiert, marginalisiert und rasch für den öffentlichen Diskurs unsichtbar gemacht. Gleiches gilt für Steinmeiers Bemerkung - anläßlich des NATO-Manövers „Saber Strike“ und Polens Großmanöver „Anakonda“ -, dass „lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ an den Grenzen Russlands die Lage nur weiter anheize. Nur Stunden später markierten flächendeckend in allen Medien die Meinungs-Wachhunde der US-NATO-Allianz, wo die Grenzen eines ‚verantwortlichen‘ Meinungsspektrum liegen.
Das Muster ist also stets dasselbe. Davor ist niemand gefeit, möge er auch zu den Spitzen des Establishments gehören. Weder ein Hochhuth noch der Papst. Dieser hatte ja 2014 das kapitalistische Wirtschaftssystem „unerträglich“ genannt und auf die Tatsache hingewiesen, dass der Kapitalismus zu seinem Überleben auf Kriege angewiesen ist. Dabei übersah der Papst freilich, dass nicht das Wirtschaftssystem, sondern seine Kritik daran „unerträglich“ ist – ein ‚Irrtum‘, den dankenswerterweise die Süddeutsche Zeitung rasch richtigstellte: Da seine Kritik „im Stile der radikalen Linken“ sei, steht sie natürlich außerhalb des Spektrums ‚vernünftiger‘ Meinungen und braucht deswegen in dem von den Medien bestimmten öffentlichen Denkraum nicht weiter berücksichtigt zu werden.
Der Punkt ist also ein prinzipieller. Der renommierte politische Philosoph und Demokratietheoretiker Sheldon Wolin hat - noch einmal - darauf hingewiesen, dass unsere Form der Demokratie, die er als „Managed Democracy“ bezeichnet, ohne offene Unterdrückung von Dissidenten auskommt, solange diese politisch unwirksam sind, also den Zentren der Macht nicht gefährlich werden. Kritische Positionen lassen sich durch Aufmerksamkeitssteuerung und Marginalisierung und durch eine Markierung als ‚unverantwortlich‘ und ‚extrem‘ in nahezu unsichtbarer Weise höchst effektiv politisch neutralisieren.
11. Bundesverband Arbeiterfotografie und Deutscher Freidenkerverband sind seit Mitte 2015 bestrebt, eine Kampagne unter dem Motto "NATO raus aus Deutschland - Deutschland raus aus der NATO" anzustoßen. Aus der "Linken" und der Friedensbewegung kommt bislang mehr Gegenwind als Unterstützung. Welches Vorgehen empfehlen Sie, um aus Ablehnung bzw. Ignoranz Zustimmung und Unterstützung werden zu lassen?
Diese Frage berührt wichtige strategische Fragen des linken Projektes, die ja in der Linken intensiv und oft kontrovers diskutiert werden. Die Auflösung der NATO durch Austritt ihrer Mitgliedsstaaten ist zweifellos nicht nur ein erstrebenswertes Ziel, sondern geradezu eine Voraussetzung einer längerfristigen Friedenssicherung. Zunächst sollten wir uns daran erinnern, dass der NATO-Beitritt Deutschlands, als Teil der sog. Westintegration, auf massives Betreiben der USA 1955 auf völlig undemokratischem Wege und gegen den klaren Willen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung erfolgt ist und als Folge erst zur Gründung des Warschauer Paktes geführt hat. Die NATO wurde im Kalten Krieg - der übrigens nur für uns, nicht jedoch für viele Länder der sog. Dritten Welt ein ‚kalter‘ war – nach ihrem eigenen Verständnis als ein ‚Sicherheitsbündnis‘ gegründet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hätte sie eigentlich zusammen mit dem Warschauer Pakt aufgelöst werden müssen; sie sicherte jedoch ihre Existenz unter dem Mantel ‚Krisenmanagement‘ und ab 2001 als wichtiger Partner im US-amerikanischen „Kampf gegen den Terrorismus“. Damit trat der tatsächliche Charakter dieses ‚Sicherheitsbündnis‘ offen zutage, dass es nämlich bei ‚Sicherheit‘ darum geht, hegemoniale geopolitische und wirtschaftliche Interessen der US-geführten westlichen Allianz abzusichern. Diese Interessen hat die NATO in den vergangenen Jahren immer aggressiver verfolgt. Die Ausdehnung und Globalisierung der NATO stellt gegenwärtig die wohl größte Bedrohung für den Weltfrieden dar. Der NATO geht es gerade nicht um eine friedensorientierte Sicherheitsarchitektur, die selbstverständlich nur durch partnerschaftlichen Einbezug Russlands konzipiert werden kann. Der NATO geht es vielmehr gerade darum, Spannungen zu verschärfen, nicht zuletzt um durch die damit geschaffenen Bedrohungsszenarien die Kriegsbereitschaft der Bevölkerung zu vergrößern sowie deren Bereitschaft, die Kosten der gigantischen Kriegsmaschinerie zu tragen.
Das Beispiel Ukraine ist ja diagnostisch besonders erhellend. Der Osteuropa-Forscher Richard Sakwa hat hierüber ein im vergangenen Jahr erschienenes Buch verfaßt, das als erste Darstellung des Ukrainekonfliktes gilt, die den historischen und politischen Komplexitäten gerecht wird und um eine neutrale Perspektive bemüht ist. Er stellt darin fest, dass letztlich die Existenz der NATO durch die Notwendigkeit gerechtfertigt wird, genau diejenigen Sicherheitsbedrohungen zu bewältigen, die erst durch ihre Erweiterungen hervorgerufen werden. Die NATO schafft also durch ihr Handeln erst Bedrohungen, die sie dann in vollständiger Ursache-Wirkungs-Umkehrung Russland zuschreibt, um dann wiederum auf Grundlage einer solchen bewußten Faktenverdrehung ihr Handeln zu rechtfertigen. Unsere Leitmedien übernehmen diese Faktenverdrehung nicht nur, sondern befinden sich selbst im Rausch eines anti-russischen „Kriegsgeheuls“.
12. Die Unsichtbarkeit (der durch Massenmedien verstümmelten Fakten) ist eine Ihrer Thesen zur Manipulierbarkeit der „Schafsherde“. Die „gezielte Tötung“ ist aus den Nachrichtensendungen irgendwann über Nacht verschwunden. Was dazu geführt hat, ist uns unbekannt. Arundathi Roy („was betont und was weggelassen wird, zählt“) bezeichnet die „Medien“ als elementaren Bestandteil des neoliberalen Systems. Im Bundesverband Arbeiterfotografie betrachten wir – aus historischer Perspektive – Medienaufklärung als wesentliches Element unseres Engagements. Der Erfolg – vor allem innerhalb einer potentiell sich kritisch definierenden Klientel – ist begrenzt. Stattdessen geraten wir selbst ins Schussfeld. Was machen wir falsch?
Am Thema ‚Medien‘ beißen sich ja viele die Zähne aus. Das dahinterliegende Problem ist ganz offensichtlich so breit und geht so in die Tiefe, dass es schwer ist, Menschen überhaupt über das Ausmaß dieses Problems aufzuklären, und noch schwerer, Veränderungsstrategien zu entwickeln. Die Medien stellen schon ihrer Natur nach in allen gesellschaftlichen Systemen - und vor allem in Demokratien - zusammen mit Erziehungssystemen, also Schulen und Universitäten, den zentralen Kern von Indoktrinationssystemen dar. Da wir selbst Produkte eines solchen Indoktrinationssystems sind und somit unsere gesellschaftlichen und politischen Weltbilder davon durchtränkt sind, ist es ein fortwährender und ausgesprochen mühsamer Prozeß, sich zumindest einiger Elemente dieser Indoktrination bewußt zu werden.
Nehmen wir nur das Beispiel der Drohnenmorde, das Sie ansprechen. Bei der Behandlung dieser Dinge in den Medien zeigt sich eine weitere wichtige Funktion der Medien. Sie sollen die Bevölkerung an die Normalität von Verletzungen internationaler Rechtsnormen – von Verletzungen moralischer Normen gar nicht zu reden - gewöhnen, die oftmals erst in einem mühsamen historischen Prozeß gewonnen werden konnten. Das ferngesteuerte US-Drohnen-Programm, bei dem willkürlich und völkerrechtswidrig auf der ganzen Welt Menschen - die überwiegende Mehrzahl davon unbeteiligte Zivilisten - ermordet werden, ist zweifellos das größte systematisch-terroristische Programm der Geschichte. Dieses terroristische Programm wird – durch Ramstein – mit deutscher Unterstützung durchgeführt, was offensichtlich der Mehrzahl der Bürger hier keine sonderlichen moralischen Kopfschmerzen bereitet. Unsere natürlichen moralischen Sensitivitäten sind durch eine systematische mediale Indoktrination so sediert worden, dass wir dieses terroristische Programm als eine geradezu unvermeidbare Selbstverständlichkeit hinnehmen. Eine Bemerkung aus dem Jahr 2011 von Michael Hayden, dem CIA-Direktor der Regierung Bush, macht deutlich, in wie kurzer Zeit wir uns an die veränderte Normalität gewöhnt haben. Hayden sagte, bei Bush habe man noch eine gerichtliche Anordnung benötigt, um einen Terrorverdächtigen abzuhören, unter Obama benötige man nicht einmal einen Gerichtsbeschluss, um ihn zu ermorden.
Das ist nur das jüngste Beispiel für eine jahrhundertealte Unterscheidung, die die kaum noch hinterfragbare Grundlage unserer ‚westlichen Wertegemeinschaft‘ bildet. Das Muster durchzieht von den Kreuzzügen über den Kolonialismus bis heute unsere Geschichte. Wir haben uns daran gewöhnt, ‚konstruktive Blutbäder‘ - also die von ‚uns‘ angerichteten - von ‚schändlichen Blutbäder‘ - also denjenigen, die ‚unsere Feinde‘ anrichten - zu unterscheiden. Wir haben uns daran gewöhnt, dass man ‚wohlwollenden Terrorismus‘ – etwa zur Verbreitung von ‚Demokratie‘ und ‚Menschenrechten‘ - sowie ‚moralisch gerechtfertigten Terrorismus‘ - wie im Fall der Drohnenmorde - von einem ‚verdammungswürdigen Terrorismus‘ zu unterscheiden habe. Wir haben uns daran gewöhnt, dass es ‚betrauerbare‘ Opfer gibt - nämlich ‚unsere‘ Opfer - und ‚nicht-betrauerbare‘ Opfer – nämlich ‚ihre‘ Opfer – eine zutiefst anti-humane und rassistische Haltung, die durchweg den Nachrichtenwert von Terroropfern bestimmt und unsere gesamte tägliche Berichterstattung durchzieht. – Das alles sind ‚subtile‘, aber ‚notwendige‘ Differenzierungen, an die uns Medien und unsere Sozialisationssysteme - stets begleitet und unterstützt durch bereitwillige Intellektuelle - gewöhnt haben. Angesichts dieser tiefgehenden Indoktrination ist es eher überraschend, dass es immer noch Bürger gibt, die offenkundig moralisch so blind oder verblendet sind, dass sie nicht bereit sind, die Berechtigung solcher Unterscheidungen einzusehen.
13. Die Politikwissenschaftlerin Susan George, die über „Die Strategen des Hungers“ in der Welt promovierte, ist ausgewiesene Neoliberalismuskritikerin. In einem 1999 in Bangkok gehaltenen Vortrag zur „Geschichte des Neoliberalismus“, letzteren sie als „einen der größten Raubüberfälle aller und unserer bisherigen Generationen“ bezeichnet, kommt sie zu dem Schluss, dass „gut organisierte Netzwerk-Guerillas Schlachten gewinnen können.“ (gemeint ist der Kampf gegen den TTIP-Vorläufer M.A.I.) und stellt fest: „Was uns fehlt, bisher, ist die Organisation und die Geschlossenheit.“ Aber die „Geschlossenheit“ innerhalb der Protestbewegungen (auch innerhalb der Friedensbewegung) scheint mehr als brüchig. Welche Kräfte der „Manipulationsstrategen“ wurden und werden hier zum Einsatz gebracht? Wie sind sie zu enttarnen. Wie sind sie zu überwinden? Zum Beispiel wurde die „Neue Friedensbewegung“, die sich anlässlich des Ukraine-Putsches formiert hatte, als „rechts-offen“ diffamiert und spaltete die „linken“ Lager. Cui bono?
Das Attribut ‚rechts-offen‘ entstammt dem Propaganda-Arsenal derjenigen, die national wie international die gegenwärtige Machtverhältnisse akzeptieren und lediglich deren Folgen durch ‚moderate Reformen‘ zu lindern suchen. Sie haben daher ein Interesse, eine grundlegende Kritik zu blockieren und linke Bewegungen gleichsam von innen zu zersetzen. Wenn man für das Attribut ‚rechts-offen‘ ein passendes Anwendungsbeispiel sucht, so findet man es in der Ukraine selbst, wo sich Gruppen, die vorgaben, für ‚europäische Werte‘ zu kämpfen, systematisch mit rechtsextremen Gruppierungen verbunden haben.
Das linke Projekt - wenn man als seinen Kern den genannten Minimalkonsens eines universellen Humanismus und einer radikal demokratischen Gesellschaftsorganisation ansieht - kann so wenig ‚rechts-offen‘ sein, wie etwa Aufklärung für eine Gegenaufklärung offen sein kann. In der Sache ist das schlicht ein Widerspruch in sich. Auf der Ebene einzelner Personen oder Personengruppen hingegen ist natürlich alles möglich. Hier kann es Personen geben, die sich ‚aufgeklärt‘ nennen und dennoch voller rassistischer Vorurteile sind, hier kann es Personen geben, die sich als überzeugte Demokraten ansehen und dennoch ihre Bewunderung für faschistische Diktatoren ausdrücken, hier kann es Personen geben, die vorgeben, ‚westlichen Werten‘ verpflichtet zu sein und sich dennoch, wie Churchill, für den Einsatz von Giftgas gegen „unzivilisierte Stämme“ aussprechen, hier kann es Personengruppen geben, die sich christlich nennen und gleichwohl den systematischen sexuellen Mißbrauch von Kindern decken. Grundsätzlich können jedoch moralische oder politische Normen nicht allein dadurch ihre Gültigkeit verlieren, dass sie durch einzelne Personen oder Personengruppen verletzt werden; vielmehr sind personale Aspekte oder Charakterdefizite von Vertreten bestimmter Normen für die Bewertung dieser Normen irrelevant.
Es liegt also in der komplexen Natur des Menschen, dass auf personeller Ebene Haltungen gleichzeitig nebeneinander auftreten können, die in der Sache völlig unvereinbar miteinander sind. Folglich kann es auch Personen geben, die sich als ‚links‘ bezeichnen und sich dennoch gleichzeitig - entweder aus Neigung oder aus mangelnder gedanklicher Durchdringung - als offen für rechtes Gedankengut zeigen. Das ist empirisch eine ziemlich banale Feststellung; aus ihr läßt sich in keiner Weise folgern, dass in der Sache das linke Projekt irgendwelche Berührungspunkte mit rechtem Gedankengut haben könnte.
Interessanterweise findet sich, zumindest meinem Eindruck nach, eine solche Vermengung von sachlichen mit personellen Aspekten vor allem auf Seiten einer ‚reformistischen Linken‘. Deren Verrat ihrer eigenen normativen Ideale muß zwangsläufig unbewußte Schuldgefühle nach sich ziehen. Die daraus wiederum resultierenden Aggressionen werden dann, unter anderem in Form von Entwertungen, gegen diejenigen gerichtet, die diesen Idealen treu sind. Möglicherweise liegt in einer solchen psychologischen Dynamik gerade die Ursache dafür, dass es vor allem ‚reformistische Linke‘ sind, die radikalere linke Bewegungen unter Verweis auf die Haltungen einzelner Personen oder Personengruppen in Diskredit zu bringen suchen.
Ihre Stichworte ‚Organisation‘ und ‚Geschlossenheit‘ sprechen in der Sache sehr wichtige Punkte an. Denn die Linke ist ganz offenkundig gegenwärtig in einem beklagenswerten Zustand, nicht nur strategisch, sondern vor allem durch Selbstzweifel hinsichtlich ihrer Identität. Bisweilen habe ich den Eindruck, dass sich eigentlich niemand mehr zu einem linken Projekt bekennen möchte – Podemos nicht und auch die LINKE nicht mehr so richtig. Diese Unsicherheit über die eigene Identität und die sich daraus ergebenden Ziele erscheinen mir als der größte Erfolg der neoliberalen Indoktrination. Bereits die Indoktrination zur Zersetzung der Idee von Klassengegensätzen und konkret zur Schwächung von Gewerkschaften, die bis in die Anfänge des vergangenen Jahrhunderts zurückreicht, war ja ausgesprochen erfolgreich. Die neoliberale Indoktrination zur Zersetzung der Identität des linken Projektes als solchem ist im Vergleich damit noch sehr viel tiefgreifender und folgenschwerer. Sie wird zudem von vielen Personen in linken Bewegungen unbemerkt und unbewußt übernommen, so dass sich der Zersetzungsprozeß nunmehr von innen vollzieht.
Diesen Zustand gilt es zunächst besser zu erkennen, um dann Strategien zu entwickeln, wie man ihn überwinden kann. Einige Ursachen hatten wir ja schon angesprochen, wie die durch die neoliberale Indoktrination geförderte ‚Privatisierung‘ des sozialen Protests durch Lifestyle- und Identitätsbewegungen oder die recht erfolgreichen Zersetzungsbemühungen von außerhalb, aber auch von innerhalb der Linken.
Das führt also noch einmal zurück zu der vorher von Ihnen angesprochenen Frage, was die Linke falsch macht. Es gibt ja eine Reihe von Punkten, die der Linken zu schaffen machen. Sie ist häufig in internen Diskursen absorbiert, die für die Bevölkerung kaum Attraktivität entfalten können. Sie verwendet in Kleinkämpfen untereinander mehr Energie auf Abgrenzungs- und Ausgrenzungsarbeit als gegen den politischen Gegner. Auch dies wirkt auf die Bevölkerung ausgesprochen abschreckend und vermag kaum Interesse zu wecken für die gesellschaftlichen Ideen der Linken. Um also eine größere Geschlossenheit zu erreichen, müssen wir uns wieder auf einen Minimalkonsens der Inhalte und Ziele besinnen, die das linke Projekt ausmachen. Eines der Hauptprobleme gegenwärtig ist ja, dass es infolge der mittlerweile psychisch tief eingedrungenen Ideologie der Alternativlosigkeit an der treibenden Kraft attraktiver gesellschaftlicher Zielvorstellungen mangelt. Wir müssen also dringend wieder Ziele formulieren, die geeignet sind, Begeisterung und Leidenschaft auszulösen und für die es sich zu kämpfen lohnt – und nicht nur Dinge benennen, gegen die wir kämpfen.
Was die Organisationsformen betrifft, so müssen wir viel stärker die historischen Erfahrungen und auch die Gründe des Scheiterns bisheriger Organisationsformen analysieren und angemessene Schlüsse daraus ziehen. Nur auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen werden wir in die Lage versetzt, den Menschen Organisationsformen anbieten, die politisch die gewünschte Wirkung entfalten und zu einer Re-Politisierung der Gesellschaft – wie jüngst durch Podemos in Spanien – führen. Nur durch geeignete Organisationsformen haben wir eine Chance, Menschen aus der politischen Isolation und der induzierten politischen Lethargie und Hoffnungslosigkeit zu lösen und ihnen wieder Hoffnung zu geben, dass die Dinge änderbar sind.
In den Inhalten, die wir vermitteln wollen, sollten wir viel stärker berücksichtigen, dass es ein großes Potential an Einstellungen der Bevölkerung gibt, an die wir unmittelbar anknüpfen könnten. Dieses Potential ergibt sich bereits daraus, dass wir von Natur aus mit moralischen Sensitivitäten versehen sind. Diese beziehen sich insbesondere auf natürliche Vorstellungen über den Kern dessen, was ‚Freiheit‘, ‚Zwang‘ oder auch ‚Verteilungsgerechtigkeit‘ ausmachen. Darauf hatte übrigens schon 1759 der Moralphilosoph und Begründer der klassischen Nationalökonomie Adam Smith hingewiesen, und die jüngere Kognitionsforschung hat eine Fülle von experimentellen und theoretischen Belegen hierfür gewonnen. Diese natürlichen Vorstellungen schlagen sich auch in Einstellungen der Bevölkerung nieder, von der eine große Mehrheit – ob in den USA, bei uns oder in anderen europäischen Ländern – unser Wirtschaftssystem und die daraus resultierende Eigentumsverteilung als unfair ansieht. Aus einer solchen Einschätzung ergibt sich unmittelbar, dass eine Mehrzahl einen großen, wenn nicht gar radikalen Veränderungsbedarf sieht. Jedoch ist durch die tiefgreifende und praktisch unsichtbare Indoktrination die Fähigkeit blockiert, aus dieser moralischen Einschätzung angemessene Schlußfolgerungen zu ziehen. Eigentlich haben wir also in unseren Kernthemen sehr vielversprechende Anknüpfungspunkte. Wir sind aber offensichtlich nicht in der Lage, das natürliche moralische Urteilsvermögen der Menschen und das natürliche Empörungspotential über Verletzungen elementarer moralischer Normen in sozialen Bewegungen politisch wirksam werden zu lassen.
Ein immer wieder diskutiertes strategisches Problem der Linken liegt ja darin, dass sie in ihrer Begrifflichkeit und ihren Argumentationsfiguren bisweilen stereotypen Mustern verhaftet bleibt, die wenig geeignet sind, in der Bevölkerung Resonanz auszulösen. Sie beschränkt sich oft darauf, linke Positionen einfach zu deklamieren, statt in beharrlicher Aufklärungs-Kleinarbeit zunächst die notwendigen Grundlagen für diese Positionen zu vermitteln. Wir müssen also in unseren Aufklärungsbemühungen viel stärker darauf achten, die Menschen dort abzuholen, wo sie in ihrem Wissen und mit ihren Einstellungen stehen. Wir müssen aufzeigen, dass es gangbare Wege gibt, die vom jetzigen Zustand zu einem wünschenswerteren gesellschaftlichen Zustand führen können.
In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts spielte im linken Projekt noch die Arbeiter- und Volksbildung eine große Rolle. Das ist eine mühsame kontinuierliche Aufklärungsarbeit, die darauf zielt, in gesellschaftlichen und politischen Dingen das Wissensgefälle zwischen den Machteliten und dem Rest der Bevölkerung zu reduzieren. Dabei ist wichtig, dass sich diese Aufklärungsarbeit auch auf uns selbst - beispielsweise auf unsere Neigungen und ‚Schwachstellen‘ für Manipulationen, unsere Wissensbasis oder die Berechtigung unserer Prämissen - beziehen muß. So neigen wir dazu, in gravierender Weise die Möglichkeiten zu unterschätzen, über die Machteliten verfügen, unsere Meinungen und Gefühle zu manipulieren und soziale Protestbewegungen zu zersetzen, zu neutralisieren und auf politisch harmlose Ziele umzulenken.
Nur durch solche Aufklärungsarbeit kann überhaupt erst wieder eine Basis für die Bildung politischer Überzeugungen geschaffen werden und Stück für Stück der Indoktrination entgegengewirkt werden. Hier ist etwas weitgehend verlorengegangen, was einmal ein wesentliches Werkzeug im Werkzeugkasten des linken Projektes war.
14. An welchem Punkt der Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung stehen wir? Was kann jede einzelne oder jeder einzelne der (scheinbaren) Übermacht der Herrschaftsapparate entgegensetzen? Welche Erkenntnisse der Psychologie können wir uns zunutze machen, um die Ängste und die daraus resultierende Abwehrhaltung vieler Menschen zu überwinden? Wie können wir der verbreiteten Tendenz zur Gesprächsverweigerung begegnen – wie der verheerenden Entwicklung, dass einst kooperierende Partner und Gruppierungen anstelle der eigentlichen Gegner sich untereinander bekriegen?
Darauf kann es – leider – keine einfachen Antworten geben, sonst wären wir wohl gar nicht erst in die Situation gekommen, in der wir gegenwärtig sind. Es gibt aber gute Gründe für die Einschätzung, dass wir gegenwärtig in einer Zeit besonders aggressiver und politisch wirksamer Gegenaufklärung leben. Doch die Auseinandersetzung zwischen Kernelementen der Aufklärung und Kernelementen der Gegenaufklärung begleitet uns seit je und stellt einen permanenten Prozeß dar, der die Jahrhunderte durchzieht.
Schon zur Zeit der Aufklärung wurden ja deren radikalere Elemente, insbesondere die Ablehnung von Chauvinismus, Rassismus und Nationalismus, von vielen bekämpft, die sich ebenfalls als ‚Aufklärer‘ bezeichnen. Das führte dazu, dass der Begriff ‚wahre Aufklärung‘ eingeführt wurde, der jedoch ebenfalls – das ist wohl der typische Gang der Dinge beim Kampf um die öffentliche Meinung – von den Gegenaufklärern beansprucht wurde. Wir können also nur konsequent versuchen, die Prämissen unserer eigenen gesellschaftlichen und politischen Positionen offenzulegen und zugleich unsere eigenen Vorurteile und die Vorurteile anderer zu identifizieren. Für dieses Ziel hat uns die Aufklärung einen reichen Werkzeugkasten von Instrumenten der Ideologiekritik hinterlassen, von dem wir täglich – vor allem, wenn wir auf ideologiedurchtränkte Begriffe wie ‚Querfront‘, ‚Verschwörungstheorie‘ oder ‚Anti-Amerikanismus‘ stoßen – Gebrauch machen sollten.
Dieser eher intellektuelle Bereich einer Aufklärung ist leichter handzuhaben als der affektive, also die induzierten Ängste. Der Kapitalismus und insbesondere seine neoliberale Variante haben besonders wirksame Techniken entwickelt, individuelle Unsicherheit zu schüren und aus den daraus resultierenden Ängsten politisches Kapital zu schlagen. Dazu gehören auch Ängste vor gesellschaftlichen Veränderungen – selbst dann, wenn sie Veränderungen ungerechter und unmenschlicher Strukturen betreffen. Das ist ein großes Problem, denn selbst die Verlierer dieser Wirtschaftsordnung fühlen sich durch soziale Veränderungen und auch durch soziale Bewegungen, die auf Veränderungen zielen, bedroht. Aber auch hier gibt es letztlich keinen anderen Weg als beharrliche Aufklärung, insbesondere Aufklärung über die psychologischen Mechanismen, die politisch zur Erzeugung von Unsicherheit, Ängsten und einem Gefühl der Wirkungslosigkeit ausgenutzt werden.
Angesichts der alles durchdringenden neoliberalen und politischen Indoktrination werden wir für diese Aufklärung einen langen Atem brauchen und können nur hoffen, dass uns die Katastrophen, auf die wir ökonomisch, militärisch und ökologisch zusteuern, genügend Zeit für grundlegende Änderungen lassen. Jede einzelne und jeder einzelne kann zu einer solchen Aufklärung über die politische und gesellschaftliche Realität und über die zu ihrer Verdeckung verwendeten Instrumente der Indoktrination einen Beitrag leisten, der den eigenen Möglichkeiten und dem eigenen sozialen Wirkungsumfeld entspricht. Es muß nur der Wille und die Entschlossenheit vorhanden sein, unmenschliche gesellschaftliche Zustände zu ändern.
Siehe auch:
Teil 1 des Interviews:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22921
Teil 1 des Vortrags in Aachen:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22751
Teil 2 des Vortrags in Aachen:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22754
Online-Flyer Nr. 570 vom 13.07.2016