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Kommentar
Aufbruch in die neue Zeit
Das Abbruch-Unternehmen SPD
Von Ulrich Gellermann

Ach so hoffnungsfroh hörten sich die Nachrichten vor dem SPD-Parteitag für all jene an, die sich noch an die alte Sozialdemokratie erinnern können. Denn Saskia Eskens, die Neue an der Spitze der SPD, sagt ganz offen: Die SPD habe dazu beigetragen, dass der Niedriglohnsektor entstehen konnte. Und: "Es ist Zeit, dass wir umkehren", forderte sie. "Wir waren die Partei, die Hartz IV eingeführt hat, wir sind die Partei, die Hartz IV überwindet". Sagt Frau Eskens in die Mikrophone. Vom WIE und WANN kein Wort. Und auch: "Ich will, dass jeder Mensch von seiner Hände Arbeit leben kann." Ehrlich? Endlich. Ein Bekenntnis ohne Verfallsdatum. Aber auch ohne Lieferzeitpunkt.

Liest man den SPD-Leitantrag zum Parteitag, findet man jede Menge Geschwurbel: "Alles in allem steht unser Land auch weiterhin gut und stark da. Dazu hat die SPD in den 10 zurückliegenden Jahren maßgeblich beigetragen – indem wir Investitionen gestärkt, den Mindestlohn eingeführt, die Renten stabilisiert oder für mehr Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt gesorgt haben." Da reibt man sich doch die Augen. Obdachlose auf den Straßen. Schlangen vor den Mülleimern, in denen Pfandflaschen zu erwarten sind. Immer noch ist der Kassenpatient ein Kranker zweiter Klasse. Immer noch ist das Pflegeheim eine schreckliche Drohung und keine Wohltat am Ende eines Lebens. Immer noch sehen viele deutsche Schulen aus, als gäbe es in diesem Land noch weniger Handwerker als Lehrer. Und wer das Geld hat, schickt seine Kinder lieber auf private Schulen. Jede Menge Studenten studieren auf Kredit, nicht jeder hat reiche Eltern. Im Nachbarland Frankreich reicht die Rente häufig für den Lebensabend, in Deutschland brauchen mehr als eine Million Rentner einen Job, um leben zu können.

Zwar ist der Leitantrag des SPD-Parteitags nicht blind, wenn er feststellt: "Trotz dem seit 2011 andauernden Aufschwung ist die Einkommens- und Vermögensungleichheit in Deutschland nach wie vor hoch. Obwohl sich langfristig gesehen die Arbeitsmarktlage verbessert hat, hat sich die ökonomische Ungleichheit verschärft." Aber statt die Reichen und Superreichen kräftig zu besteuern, fällt der SPD im Antrag nur dieses Gestammel ein: "Es ist höchste Zeit, den gesamtgesellschaftlichen Nutzen in den Fokus zu rücken, statt primär auf wirtschaftliche Interessen Einzelner zu schauen.“ - Man ist nicht blind, aber stumm, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht.

Das Wort NATO sucht man im Leitantrag vergeblich. Fahndet man nach dem Wort "Rüstung“, stößt man auf diesen kryptischen Abschnitt: "Unsere historische Aufgabe ist es, eine friedliche und gerechte internationale Ordnung zu befördern, Europa als Kontinent des Friedens, der Abrüstung, Rüstungskontrolle und der Kooperation zu stärken". Immer wenn eine Aufgabe "historisch" benannt wird, ist sie lange her oder weit weg. Und je weiter weg desto Europa: Sollen doch die In Brüssel irgendwann mal was in Richtung Frieden machen, wir haben gerade keine Zeit, wir müssen Mandate retten.

Und wenn der SPD-Antrag "Europa" sagt, meint er natürlich die Europäische Union. Aber gerade an dieser geografischen Kurzsichtigkeit, an der Ausblendung Russlands, Weißrusslands, der Ukraine und der Türkei zum Beispiel, leidet die deutsche Außenpolitik. Dass zur Zeit ein Sozialdemokrat Außenminister ist, ändert offenkundig nichts an der schwer erträglichen Vollmundigkeit, mit der "Europa" als reines West-Projekt begriffen wird. Doch selbst die Schweiz wird mit diesem kurzen EU-Prozess aus Europa entfernt. "Plagööri" nennen die Schweizer ein Großmaul. Und ertragen die deutsche Großkotzigkeit mit Fassung.

Die SPD titelt ihren Leitantrag "Aufbruch in die neue Zeit". Aber die neue Zeit der Saskia Eskens hört sich so an, wenn es um die GROKO geht: "Ich war und ich bin skeptisch, was die Zukunft dieser Großen Koalition angeht". Aber auch: Mit dem SPD-Leitantrag gebe es "eine realistische Chance auf eine Fortsetzung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger". Mehr GROKO, weniger GROKO, Hauptsache GROKO. Einerseits, andererseits: das hält die SPD immer noch für ausgewogen. Und nicht für ungenau, unentschlossen oder schwammig. So geht Abbruch.


Erstveröffentlichung am 09. Dezember 2019 bei rationalgalerie.de – Eine Plattform für Nachdenker und Vorläufer

Top-Foto:
Ulrich Gellermann (aus Video-Interview: deutsch.rt.com)


Online-Flyer Nr. 729  vom 11.12.2019



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