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Lokales
Zu den Lebenserinnerungen von "Anna Z, Schneiderin"
Zehn Jahre im Irrenhaus
Von Heinrich Frei
Kürzlich lieh mir eine Kollegin unseres Seebacher Katzenbach-Lauftreffs ein eindrückliches Buch: «Anna Z, Schneiderin», die «Lebensbeschreibung einer (Unglücklichen!) sowie die Schilderung der Erlebnisse während zehn Jahren im Irrenhaus». (1) Die Schneiderin Anna Z. (1867-1938) schrieb ihre Lebenserinnerungen 1916 in der Psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau in zwei schwarze Wachstuchhefte. 2013 veröffentlichte Katrin Luchsinger im Chronos Verlag die hinterlassenen Lebenserinnerungen von Anna Z. Die Aufzeichnungen von Anna Z. geben Einblick in das Leben dieser Frau während ihrer Aufenthalte im Burghölzli (heute Psychiatrische Universitätsklinik Zürich), der Pflegeanstalt Rheinau und dem Leben in dieser Zeit unserer Urgroßmütter und Urgroßväter. In der Psychiatrischen Pflegeanstalt.
Kloster Rheinau (Luftbildaufnahme von Werner Friedli, 1953, aus der Sammlung der ETH-Bibliothek, CC BY-SA 4.0)
Wie die Herausgeberin Katrin Luchsinger schreibt, ist Anna Z. «eine ausgezeichnete Beobachterin und versucht ihr Handeln selbstreflexiv in den Kontext ihrer Zeit einzuschreiben. Eine große Kraft gewinnt der Text daraus, dass sie die von ihren Geschwistern als «aus dem Geleise Geschlagene» bezeichnet wird, stets die Vision eines selbständigen Lebens in Freiheit behält, für dies sie kämpft.» Sie konnte im Burghölzli und auch in Rheinau zu gewissen Zeiten als selbständige Schneiderin arbeiten, was ihr viel Anerkennung von den Wärterinnen brachte.
Als 12-jährige kommt Anna Z. in eine Mädchenerziehungsanstalt
Anna Z. war schon als Kind ein sehr rebellisches, widerspenstiges, und wie sie schreibt, ein «gewalttätiges» Mädchen. Als 12-jährige wurde sie in ein Mädchenerziehungsheim in Wangen verbracht.
«In der Anstalt war ich in der so genannten Wohn- und Nähstube beschäftigt; denn ich war zu klein und zu schwach, um wie die anderen Anstaltsmädchen in der Fabrik beschäftigt zu werde.» Die Mädchen des Erziehungsheimes in Wangen arbeiteten in der Seidenzwirnerei. Der Unternehmer Appenzeller, der auch das Heim führte in das Anna Z. gebracht wurde, eröffnete schon 1874 auch eine Knabenerziehungsanstalt in Brüttisellen, später wurde dies die Schuhfabrik Walder mit Erziehungsheim.
Nach diesem Anstaltsaufenthalt machte Anna Z. eine Lehre als Schneiderin und verliebte sich im dritten Lehrjahr in einen jungen Mann, in Albert H. Sie wurde schwanger und heiratete ihn, um die Schande für die Familie aus der Welt zu schaffen. Anna Z.: «Wir lebten nach unserer Verheiratung in dem kleinen unansehnlichen, langweiligen Bauernnest 11 Jahre lang. Die fremde Einbürgerin war nicht beliebt, es spannte eben manch’ reiche Bauerntochter auf meinen Albert, den ich ja jetzt gern abgetreten hätte, wären die Umstände nicht so schwierig gewesen.»
Auf Grund der Recherchen von Katrin Luchsinger, der Herausgeberin des Buches, heiratete Anna Z. Albert H. erst mit 25 Jahren. Sie vermählte sich nicht mit 18 Jahren, sondern löste damals ihre Verlobung mit einem anderen Mann, von dem sie ein Kind erwartete. Ihren Sohn Ernst brachte sie bei ihrer Schwester Berta zur Welt; er verstarb mit 14 Monaten.
Anna Z. wird verhaftet und kommt ins Gefängnis Oetenbach
1903, im Alter von 36 Jahren wurde Anna Z. wegen Hochstapelei, Betrugs und unwahren Angaben verhaftet und im Gefängnis Oetenbach in der Stadt Zürich in Untersuchungshaft gesetzt und vor Gericht gestellt. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie ein Dokument einer Bürgschaft gefälscht. Der Vater von Anna Z. hatte den entstandenen Schaden jedoch später beglichen.
Die Untersuchungshaft im Gefängnis Oetenbach brachte Anna Z. vollkommen aus dem Geleise. Nach der Haft: «Mit meiner Ruhe war es zur Stunde vorbei, ich konnte mit dem besten Willen meinem Beruf nicht mehr obliegen, ich verließ ohne alle Ursache meinen armen Mann u. wanderte ruhelos, ohne Gedanken zu machen, planlos in der Welt herum. Mit einer größeren Summe in der Tasche reiste ich von Hotel zu Hotel, legitimierte mich an einem Ort als Pfarrersfrau mit falschen Namen, am anderen als Fräulein Gesellschafterin wieder mit Namenveränderung begreiflich, bis in meiner Casse Ebbe und Flut!»
Im Untersuchungsgefängnis Selnau
Anna Z. wurde schließlich in Zürich in einem Hotel verhaftet und wurde ins Untersuchungsgefängnis Selnau gebracht. (Heute befindet sich in diesem Haus der «Suneboge» eine von Pfarrer Ernst Sieber gegründete Wohn- und Arbeitsgemeinschaft) (2) Im Untersuchungsgefängnis Selnau tobte sie: «Der Gefangenwart Herr Rüegger kam, um zu sehen was ich für ein Spektakel vorführe. Mich in meiner Wuth wie ein wildes Thier um sich schlagend vorfindend, zog er es ebenfalls vor zu verschwinden.» In der Folge wurde Anna Z. in die Irrenanstalt Burghölzli gebracht. «Ab ins Burghölzli, wo ich hingehöre!», schrieb sie in ihren Erinnerungen.
1904: Aufnahme ins Burghölzli
Wie Kathrin Luchsinger schreibt erhielt «Anna Z. 1904 und 1905 im Burghölzli keine abschließende Diagnose. Da sie aber wegen Hochstapelei, Betrugs und unwahrer Angaben angeklagt worden war und keine Wahnvorstellungen aufwies, zielte ihre psychiatrische Begutachtung auf das breite Feld der «Psychopathie». - «Psychopathen» wurden mit strengen erzieherischen Maßnahmen behandelt.» - «Für die Pflegeanstalt Rheinau, wohin die vom Burghölzli als «unheilbar» begutachteten Patienten – zunehmend solche mit der Diagnose «Psychopathie» verlegt wurden, spielte diese Diagnose eine zentrale Rolle.»
Kontakt mit dem Psychiater Eugen Bleuler
1904, als Anna Z. ins Burghölzli kam, wurden die Insassen in Kliniken oft vernachlässigt und roh behandelt. In Rheinau, eine Anstalt für «Unheilbare» waren damals über tausend Menschen untergebracht, mit wenigen Ärzten und wenig Pflegepersonal, das keine Ausbildung hatte und ständig wechselte. Die unruhigen Patienten wurden noch nicht mit Medikamenten ruhiggestellt. Als Anna Z. im Burghölzli in Zürich interniert war, wurde die Anstalt von Paul Eugen Bleuler geleitet. (3)
Sie schreibt in ihren Aufzeichnungen: «Im Burghölzli wurde ich die zwei Jahr sehr gut gehalten. Herr Direktor Bleuler war stets bedacht, mich in seinen speziellen Schutz zu nehmen was mich weit zugänglicher machte als die schnauzige Art wie mich die Oberwärterin behandelte vor lauter Neid u. Hass, dass Herr Direktor mich jeweils mitnahm auf die Visite auf alle Abteilungen was mich ablenkte u. dazu beitrug, meine Verstocktheit zu dämmen, was ich niemand anvertraute, brachte er, durch sein liebevolles Wesen u. Betragen gegen mich heraus, u. das bezweckte doch der einsichtsvolle Herr Direktor, kein anderer Grund lag vor. Trotzdem habe ich auch gegen ihn in unzufriedenen Zeiten bitter meine Launen an ihm ausgelassen.» … «Auch war ich in den besten Abteilungen im E.3, wo nur I. und II Cl. Damen waren!» Anna Z. wurde dann auf ihren Wunsch hin auf die Stephansburg versetzt, einer Dépendance im Park der Irrenanstalt Burghölzli, die Privatpatienten vorbehalten war. «…eine eigene schöne Nähmaschine wurde mir auf die Burg gebracht. Neue Kleider durfte ich machen für die anderen, besseren Patienten; persönlich diese ausmessen, anprobieren…» «Ein ganzes Jahr war ich auf der Stephansburg, dann trieb ich es wieder zu bunt, wurde zügellos und ungehorsam.»
1906: Anna Z. in der Pflegeanstalt Rheinau
«Nach Verfluss von gut 2 Jahren wurde ich alsdann als völlig unheilbar erklärt u. nach Rheinau Ct. Zürich spediert, wo nur die vollständig Unheilbaren hinkommen. Erst jetzt gieng mein geistiges Elend so recht an, erst jetzt wusste ich, was es heisst, von den Eigenen verstossen, verachtet, von einem lieben Mann getrennt, der jede Laune, jeden Wunsch seines eigensinnigen Weibes respektierte und befolgte.»
Katrin Luchsinger schreibt: «Diskret gab Anna Z. in ihrem Bericht an, was unter anderem dazu geführt habe, dass sie diese «Privilegien eingebüsst und nach Rheinau spediert worden sei: sie habe sich im weitläufigen bewaldeten Anstaltspark, dem Burghölzli mit einem Mann getroffen und sei schwanger geworden. Solche Freiheiten wurden im «psychiatrischen Kloster», welche des Burghölzli angeblich unter Eugen Bleuler für Ärzte und Patienten darstellte, nicht gewährt.» (4)
Bei ihrer Ankunft in Rheinau verhielt sich Anna Z, wie sie schreibt «wie eine Furie». Zeitweise wurde sie zur Strafe in die Abteilung L.1 verbracht, «wo die schlimmsten Patienten untergebracht sind. Die ekelhaftesten Geschöpfe die man sich je denken kann, die jeder Beschreibung spotten, tierische Gewohnheiten pflegen, das muss ein Mensch selbst mitmachen, um begreifen zu können, also unterlasse ich weitere Schilderung meiner nun bedauernserster Lage, die ich mir ja allerdings selbst herauf beschworen, habe ich mich doch unmöglich gemacht durch mein sinnloses Benehmen auf der anderen Abteilung?» «8 Monate hielt ich aus, oder musste vielmehr.» Anna Z. schmuggelte dann einen Brief an ihren Onkel, «Herr Bankdirektor Z. in Schopfeim, ein Bruder meines verstorbenen Vaters!» Sie erreichte dann mit der Hilfe ihrer Schwester und des Arztes Dr. Jung, dass sie in die Abteilung K., verlegt wurde, «wo nur ruhige, arbeitsfähige Patienten sich aufhalten.» (Dr. Jung in Rheinau war nicht der bekannte C.G. Jung)
Psychoanalyse, Sigmund Freud, C.G. Jung
Eugen Bleuler war der erste europäische Klinikleiter, der sich mit der Psychoanalyse von Sigmund Freud auseinandersetzte. Im Gegensatz zu den meisten Gelehrten seiner Zeit ging Bleuler nicht von einer klaren Trennung zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit aus. Seine Arbeiten beruhen auf einer um Details bemühten Betrachtung jedes einzelnen Falls und der Entwicklung der Person des Kranken. Einer seiner Mitarbeiter am Burghölzli war von 1900 bis 1909 Carl Gustav Jung. Bleuler vertrat allerdings auch – wie sein Vorgänger Auguste Forel im Burghölzli eugenische und rassistische Ansichten. So propagierte und initiierte er Zwangssterilisationen und Kastrationen von psychiatrischen Patienten. (Eugenik: Erbgesundheitslehre, Anteil positiv oder bewerteter Erbanlagen mit Maßnahmen zu vergrößern oder zu verkleinern) (3) https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Bleuler
1909 und 1914 Familienpflege bei ihrer Schwester Berta
Wie Katrin Luchsinger schreibt, war Anna Z. eine der ersten Patientinnen im Kanton Zürich, die in Familienpflege entlassen wurde, zu ihrer Schwester Berta. Dieses Instrument der Familienpflege wurde erst 1909 eingeführt. Die Familienpflege weckte neue Hoffnungen die überfüllten Anstalten könnten so entlastet werden. Für Anna Z. waren die zwei Aufenthalte bei ihrer Schwester keine echte Alternative zur Anstalt. Die beiden Schwestern stritten sich und Anna Z. musste nach beiden Aufenthalten bei Berta wieder nach Rheinau zurück.
Ein verhängnisvoller Zirkusbesuch
Die Wohnsitznahme bei ihrer Schwester Berta in Richterswil bedeutete auch, dass sie wieder als Schneiderin arbeiten konnte, auch bei Kundschaft auf der Stör. Die Rechnungen kassierte ihre Schwester. Nach den vielen Streitereien mit der Schwester gelang es Anna Z. mit der Erlaubnis von Dr. Riklin in Zürich, der für die Familienpflege zuständig war, im Confessionsgeschäft Spörri in Zürich eine Stelle als Schneiderin zu finden, wo sie früher schon einmal gearbeitet hatte. Mit «4 Fr. Taglohn» wurde sie eingestellt «im Saal 50 für seidene Blusen». Täglich pendelte sie nun «Morgens um 7 Uhr von Richterswil nach Zürich und Abends mit dem 6 Uhr 30 Mi., gewöhnlich mit dem Arbeiterzug, der stets bis auf den letzten Platz überfüllt war, wieder retour nach Richterswil!»
«4 ½ Monate arbeitete ich mit grossem Fleiss u. Zufriedenheit, ich war ruhig und verträglich mit meinen Nebenkollegen.» Ein Besuch im Zirkus Sarrassini der in Zürich gastierte mit einer Arbeitskollegin wurde Anna Z. zum Verhängnis. Ihre Schwester Berta bei der sie immer noch wohnte, hatte ihre strikte diesen Zirkusbesuch verboten und Anna Z. versprach ihr nicht zu gehen. Das Fräulein das in der Schneiderwerkstatt neben ihre arbeitete, «eine junge leichtfertige Person setzte mir hartnäckig zu: «Was haben denn Sie ihrer Schwester nachzufragen, Sie sind doch gewiss ihr eigener Meister, den ganzen Tag arbeiten und dabei nicht das kleinste Vergnügen sich leisten, …» Anna Z. ließ sich trotz aller Bedenken von der Kollegin überreden und besuchte mit ihr den Zirkus. Dort lernte sie nach der Vorstellung den Kapellmeister des Zirkus kennen. Sie verpasste den letzten Zug nach Richterswil und verbrachte zwei Nächte mit dem Kapellmeister in Zürich. Vor ihrer Rückkehr hatte ihre Schwester bereits mit den Behörden vereinbart, dass Anna Z. wieder in die Anstalt nach Rheinau zurückgeschickt werde. Zurück bei ihrer Schwester in Richterswil ergriff Anna Z. deshalb in der Nacht die Flucht und reiste nach Zürich an ihren Arbeitsplatz. Dort wollte man ihr helfen, und riet ihr in Luzern eine Stelle in einem Zweiggeschäft der Firma anzutreten, dort werde niemand sie suchen. Doch noch bevor sie nach Luzern reisen konnte wurde sie von der Polizei verhaftet und nach Rheinau gebracht.
Zweiter Aufenthalt in Rheinau
In Rheinau wurde Anna Z. nach ihrer Rückkehr nicht auf die geschlossene Abteilung verbracht, wie dies für rückfällige Patienten üblich war. Sie wurde «wie ehemals vorm Verlassen der Anstalt» «auf die beste, ruhigste Abteilung und wieder in mein trautes, nett möbliertes, sonniges Zimmerchen untergebracht,» … »was mich aussöhnte mit meinem Missgeschick.» Anna Z. fühlte sich bald wieder in Rheinau zu Hause. «Ich fing, gleich wie zu früheren Zeiten, wieder fleißig an zu arbeiten an der Anstalts-Nähmaschine.» «Drei Jahr sind dann wieder so ziemlich ruhig verlaufen.» Dann schrieb sie wieder «Brief um Brief» an ihre Schwester und an ihren Vormund, «diesen bestürmend zu veranlassen, mich wieder aus der Anstalt zu entlassen.»
Wieder konnte sie für kurze Zeit bei ihrer Schwester leben, was aber kein gutes Ende nahm. Die beiden Schwestern stritten sich wie früher. Anna Z hatte sich inzwischen mit Wilhelm W. verlobt und wollte ihn heiraten. Das Zerwürfnis mit ihrer Schwester, der Misserfolg dieses Aufenthaltes außerhalb der Klinik, führte dazu, dass Anna Z. nach der Flucht zu ihrer Tante Sch. in Seebach wieder nach Rheinau gebracht wurde in die grässliche Abteilung L.1, wo die kränksten Patientinnen lebten.
Wie Anna Z. schreibt, hatte der Vormund ihr 4 Monate Anstalt «zudiktiert», in der sie sich gut verhalten musste: «also Kopf hoch bewähre dich Unglücksopfer, trotz aller Gefangenschaft, trotz aller Demütigungen, die noch auf dich warten während diesen mir noch unendlich langen Wochen. Ist der Winter noch so lang, es muss doch Frühling werden.»
Die Aufzeichnungen von Anna Z. schließen: «Also ende ich meine Schrift mit dem festen Entschluss, mich in Geduld zu fassen bis meine Erlösungsstunde auf die festgesetzte Zeit schlägt, mit der bestimmten Hoffnung, mein guter Wille halte stand, mich vor Rückfall zu bewahren» (Neu Rheinau den 1. März 1916, Frau Anna Z. Schneiderin.)
Entlassung aus Rheinau und Heirat
Katrin Luchsinger recherchierte: «1919 wurde Anna Z. aus Rheinau entlassen. 1921 heiratete sie Heinrich H. 1932 starb ihr Mann. 1933 trat sie freiwillig in die Pflegeanstalt Neu-Rheinau als Pensionärin ein und starb am 27.Dezember 1938 in Neu-Rheinau.»
Anna Z. wäre vermutlich nie aus der Pflegeanstalt Rheinau entlassen worden, hätte sie nicht für ihre Freiheit gekämpft und hätten sich nicht Ärzte in der Klinik und gut gestellte Verwandte für sie eingesetzt. Damals wurden Psychiatriepatienten oft für ihr ganzes Leben verwahrt. (5)
Fußnoten:
(1) Karin Luchsinger (Herausgeberin) Anna Z., Schneiderin, Chronos Verlag, Zürich 2013, 127 Seiten, 11 Abbildungen s/w., ISBN 978-3-0340-1158-7, CHF 28.00 / EUR 25.00
(2) http://suneboge.ch/
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Bleuler
(4) So klösterlich ging es im Burghölzli auch nicht immer zu und her. Der Psychiater C.G. Jung verliebte sich damals im Burghölzli in seine Patientin in die junge Russin Sabina Spielrein. Spielrein wurde später Ärztin und Psychoanalytikerin und arbeitete in der Sowjetunion. Sie wurde 1942 nach der Einnahme der Stadt Rostow durch die deutsche Wehrmacht von SS-Sonderkommandos mit 25'000 jüdischen Einwohnern der Stadt in der Smijowskaja Balka („Schlangenschlucht“) erschossen.
https://biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/242-spielrein-sabina-nikolajewna
(5) Ich erlebte einen solchen «Fall» des Versuches eine Frau in Rheinau zu versenken vor bald fünfzig Jahren: Damals wollte man Ruth Mäder, die Freundin meines Freundes Heinrich Hugentobler auf Grund einer Intervention der Fürsorge in Rheinau «versorgen». Sie wurde polizeilich ausgeschrieben und gesucht. Mein Freund und Ruth lebten zusammen meist in Abbruchliegenschaften, in Schuppen. In Notschlafstellen der Stadt Zürich, im Bunker unter dem Hallenbad oder an der Rieterstrasse, konnten sie nicht zusammen übernachten und mussten tagsüber die Schlafstelle immer verlassen. Als junge Frau wurde Ruth im Burghölzli einer Hirnoperation unterzogen, einer Leukotomie und wurde so invalid. https://de.wikipedia.org/wiki/Lobotomie Im Burghölzli wurde Ruth, da sie sich vermutlich mit Hand und Fuß wehrte ans Bett gefesselt. Die Narben an ihren Handgelenken zeugten noch davon. Es ging nicht lange bis Ruth in einem Versteck aufgestöbert wurde und von der Polizei nach Rheinau verfrachtet wurde. Nur dank der Intervention eines Prominenten, eines Herr Dr. Weiss eines Bekannten meines Freundes, der dort auf der Direktion in Rheinau resolut vorsprach, wurde Ruth wieder entlassen. Später konnte auch durch einen Psychiater in Zürich erreicht werden, dass die Vormundschaft von Ruth aufgehoben wurde und das Paar, «die Erlaubnis» bekam zu heiraten. Pfarrer Ernst Sieber beschaffte dem Paar eine Wohnung. Siehe auch:
https://ifor-mir.ch/zum-tod-von-pfarrer-ernst-sieber-obdachlosigkeit-und-500000-zweitwohnungen/
Online-Flyer Nr. 751 vom 12.08.2020
Zu den Lebenserinnerungen von "Anna Z, Schneiderin"
Zehn Jahre im Irrenhaus
Von Heinrich Frei
Kürzlich lieh mir eine Kollegin unseres Seebacher Katzenbach-Lauftreffs ein eindrückliches Buch: «Anna Z, Schneiderin», die «Lebensbeschreibung einer (Unglücklichen!) sowie die Schilderung der Erlebnisse während zehn Jahren im Irrenhaus». (1) Die Schneiderin Anna Z. (1867-1938) schrieb ihre Lebenserinnerungen 1916 in der Psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau in zwei schwarze Wachstuchhefte. 2013 veröffentlichte Katrin Luchsinger im Chronos Verlag die hinterlassenen Lebenserinnerungen von Anna Z. Die Aufzeichnungen von Anna Z. geben Einblick in das Leben dieser Frau während ihrer Aufenthalte im Burghölzli (heute Psychiatrische Universitätsklinik Zürich), der Pflegeanstalt Rheinau und dem Leben in dieser Zeit unserer Urgroßmütter und Urgroßväter. In der Psychiatrischen Pflegeanstalt.
Kloster Rheinau (Luftbildaufnahme von Werner Friedli, 1953, aus der Sammlung der ETH-Bibliothek, CC BY-SA 4.0)
Wie die Herausgeberin Katrin Luchsinger schreibt, ist Anna Z. «eine ausgezeichnete Beobachterin und versucht ihr Handeln selbstreflexiv in den Kontext ihrer Zeit einzuschreiben. Eine große Kraft gewinnt der Text daraus, dass sie die von ihren Geschwistern als «aus dem Geleise Geschlagene» bezeichnet wird, stets die Vision eines selbständigen Lebens in Freiheit behält, für dies sie kämpft.» Sie konnte im Burghölzli und auch in Rheinau zu gewissen Zeiten als selbständige Schneiderin arbeiten, was ihr viel Anerkennung von den Wärterinnen brachte.
Als 12-jährige kommt Anna Z. in eine Mädchenerziehungsanstalt
Anna Z. war schon als Kind ein sehr rebellisches, widerspenstiges, und wie sie schreibt, ein «gewalttätiges» Mädchen. Als 12-jährige wurde sie in ein Mädchenerziehungsheim in Wangen verbracht.
«In der Anstalt war ich in der so genannten Wohn- und Nähstube beschäftigt; denn ich war zu klein und zu schwach, um wie die anderen Anstaltsmädchen in der Fabrik beschäftigt zu werde.» Die Mädchen des Erziehungsheimes in Wangen arbeiteten in der Seidenzwirnerei. Der Unternehmer Appenzeller, der auch das Heim führte in das Anna Z. gebracht wurde, eröffnete schon 1874 auch eine Knabenerziehungsanstalt in Brüttisellen, später wurde dies die Schuhfabrik Walder mit Erziehungsheim.
Nach diesem Anstaltsaufenthalt machte Anna Z. eine Lehre als Schneiderin und verliebte sich im dritten Lehrjahr in einen jungen Mann, in Albert H. Sie wurde schwanger und heiratete ihn, um die Schande für die Familie aus der Welt zu schaffen. Anna Z.: «Wir lebten nach unserer Verheiratung in dem kleinen unansehnlichen, langweiligen Bauernnest 11 Jahre lang. Die fremde Einbürgerin war nicht beliebt, es spannte eben manch’ reiche Bauerntochter auf meinen Albert, den ich ja jetzt gern abgetreten hätte, wären die Umstände nicht so schwierig gewesen.»
Auf Grund der Recherchen von Katrin Luchsinger, der Herausgeberin des Buches, heiratete Anna Z. Albert H. erst mit 25 Jahren. Sie vermählte sich nicht mit 18 Jahren, sondern löste damals ihre Verlobung mit einem anderen Mann, von dem sie ein Kind erwartete. Ihren Sohn Ernst brachte sie bei ihrer Schwester Berta zur Welt; er verstarb mit 14 Monaten.
Anna Z. wird verhaftet und kommt ins Gefängnis Oetenbach
1903, im Alter von 36 Jahren wurde Anna Z. wegen Hochstapelei, Betrugs und unwahren Angaben verhaftet und im Gefängnis Oetenbach in der Stadt Zürich in Untersuchungshaft gesetzt und vor Gericht gestellt. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie ein Dokument einer Bürgschaft gefälscht. Der Vater von Anna Z. hatte den entstandenen Schaden jedoch später beglichen.
Die Untersuchungshaft im Gefängnis Oetenbach brachte Anna Z. vollkommen aus dem Geleise. Nach der Haft: «Mit meiner Ruhe war es zur Stunde vorbei, ich konnte mit dem besten Willen meinem Beruf nicht mehr obliegen, ich verließ ohne alle Ursache meinen armen Mann u. wanderte ruhelos, ohne Gedanken zu machen, planlos in der Welt herum. Mit einer größeren Summe in der Tasche reiste ich von Hotel zu Hotel, legitimierte mich an einem Ort als Pfarrersfrau mit falschen Namen, am anderen als Fräulein Gesellschafterin wieder mit Namenveränderung begreiflich, bis in meiner Casse Ebbe und Flut!»
Im Untersuchungsgefängnis Selnau
Anna Z. wurde schließlich in Zürich in einem Hotel verhaftet und wurde ins Untersuchungsgefängnis Selnau gebracht. (Heute befindet sich in diesem Haus der «Suneboge» eine von Pfarrer Ernst Sieber gegründete Wohn- und Arbeitsgemeinschaft) (2) Im Untersuchungsgefängnis Selnau tobte sie: «Der Gefangenwart Herr Rüegger kam, um zu sehen was ich für ein Spektakel vorführe. Mich in meiner Wuth wie ein wildes Thier um sich schlagend vorfindend, zog er es ebenfalls vor zu verschwinden.» In der Folge wurde Anna Z. in die Irrenanstalt Burghölzli gebracht. «Ab ins Burghölzli, wo ich hingehöre!», schrieb sie in ihren Erinnerungen.
1904: Aufnahme ins Burghölzli
Wie Kathrin Luchsinger schreibt erhielt «Anna Z. 1904 und 1905 im Burghölzli keine abschließende Diagnose. Da sie aber wegen Hochstapelei, Betrugs und unwahrer Angaben angeklagt worden war und keine Wahnvorstellungen aufwies, zielte ihre psychiatrische Begutachtung auf das breite Feld der «Psychopathie». - «Psychopathen» wurden mit strengen erzieherischen Maßnahmen behandelt.» - «Für die Pflegeanstalt Rheinau, wohin die vom Burghölzli als «unheilbar» begutachteten Patienten – zunehmend solche mit der Diagnose «Psychopathie» verlegt wurden, spielte diese Diagnose eine zentrale Rolle.»
Kontakt mit dem Psychiater Eugen Bleuler
1904, als Anna Z. ins Burghölzli kam, wurden die Insassen in Kliniken oft vernachlässigt und roh behandelt. In Rheinau, eine Anstalt für «Unheilbare» waren damals über tausend Menschen untergebracht, mit wenigen Ärzten und wenig Pflegepersonal, das keine Ausbildung hatte und ständig wechselte. Die unruhigen Patienten wurden noch nicht mit Medikamenten ruhiggestellt. Als Anna Z. im Burghölzli in Zürich interniert war, wurde die Anstalt von Paul Eugen Bleuler geleitet. (3)
Sie schreibt in ihren Aufzeichnungen: «Im Burghölzli wurde ich die zwei Jahr sehr gut gehalten. Herr Direktor Bleuler war stets bedacht, mich in seinen speziellen Schutz zu nehmen was mich weit zugänglicher machte als die schnauzige Art wie mich die Oberwärterin behandelte vor lauter Neid u. Hass, dass Herr Direktor mich jeweils mitnahm auf die Visite auf alle Abteilungen was mich ablenkte u. dazu beitrug, meine Verstocktheit zu dämmen, was ich niemand anvertraute, brachte er, durch sein liebevolles Wesen u. Betragen gegen mich heraus, u. das bezweckte doch der einsichtsvolle Herr Direktor, kein anderer Grund lag vor. Trotzdem habe ich auch gegen ihn in unzufriedenen Zeiten bitter meine Launen an ihm ausgelassen.» … «Auch war ich in den besten Abteilungen im E.3, wo nur I. und II Cl. Damen waren!» Anna Z. wurde dann auf ihren Wunsch hin auf die Stephansburg versetzt, einer Dépendance im Park der Irrenanstalt Burghölzli, die Privatpatienten vorbehalten war. «…eine eigene schöne Nähmaschine wurde mir auf die Burg gebracht. Neue Kleider durfte ich machen für die anderen, besseren Patienten; persönlich diese ausmessen, anprobieren…» «Ein ganzes Jahr war ich auf der Stephansburg, dann trieb ich es wieder zu bunt, wurde zügellos und ungehorsam.»
1906: Anna Z. in der Pflegeanstalt Rheinau
«Nach Verfluss von gut 2 Jahren wurde ich alsdann als völlig unheilbar erklärt u. nach Rheinau Ct. Zürich spediert, wo nur die vollständig Unheilbaren hinkommen. Erst jetzt gieng mein geistiges Elend so recht an, erst jetzt wusste ich, was es heisst, von den Eigenen verstossen, verachtet, von einem lieben Mann getrennt, der jede Laune, jeden Wunsch seines eigensinnigen Weibes respektierte und befolgte.»
Katrin Luchsinger schreibt: «Diskret gab Anna Z. in ihrem Bericht an, was unter anderem dazu geführt habe, dass sie diese «Privilegien eingebüsst und nach Rheinau spediert worden sei: sie habe sich im weitläufigen bewaldeten Anstaltspark, dem Burghölzli mit einem Mann getroffen und sei schwanger geworden. Solche Freiheiten wurden im «psychiatrischen Kloster», welche des Burghölzli angeblich unter Eugen Bleuler für Ärzte und Patienten darstellte, nicht gewährt.» (4)
Bei ihrer Ankunft in Rheinau verhielt sich Anna Z, wie sie schreibt «wie eine Furie». Zeitweise wurde sie zur Strafe in die Abteilung L.1 verbracht, «wo die schlimmsten Patienten untergebracht sind. Die ekelhaftesten Geschöpfe die man sich je denken kann, die jeder Beschreibung spotten, tierische Gewohnheiten pflegen, das muss ein Mensch selbst mitmachen, um begreifen zu können, also unterlasse ich weitere Schilderung meiner nun bedauernserster Lage, die ich mir ja allerdings selbst herauf beschworen, habe ich mich doch unmöglich gemacht durch mein sinnloses Benehmen auf der anderen Abteilung?» «8 Monate hielt ich aus, oder musste vielmehr.» Anna Z. schmuggelte dann einen Brief an ihren Onkel, «Herr Bankdirektor Z. in Schopfeim, ein Bruder meines verstorbenen Vaters!» Sie erreichte dann mit der Hilfe ihrer Schwester und des Arztes Dr. Jung, dass sie in die Abteilung K., verlegt wurde, «wo nur ruhige, arbeitsfähige Patienten sich aufhalten.» (Dr. Jung in Rheinau war nicht der bekannte C.G. Jung)
Psychoanalyse, Sigmund Freud, C.G. Jung
Eugen Bleuler war der erste europäische Klinikleiter, der sich mit der Psychoanalyse von Sigmund Freud auseinandersetzte. Im Gegensatz zu den meisten Gelehrten seiner Zeit ging Bleuler nicht von einer klaren Trennung zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit aus. Seine Arbeiten beruhen auf einer um Details bemühten Betrachtung jedes einzelnen Falls und der Entwicklung der Person des Kranken. Einer seiner Mitarbeiter am Burghölzli war von 1900 bis 1909 Carl Gustav Jung. Bleuler vertrat allerdings auch – wie sein Vorgänger Auguste Forel im Burghölzli eugenische und rassistische Ansichten. So propagierte und initiierte er Zwangssterilisationen und Kastrationen von psychiatrischen Patienten. (Eugenik: Erbgesundheitslehre, Anteil positiv oder bewerteter Erbanlagen mit Maßnahmen zu vergrößern oder zu verkleinern) (3) https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Bleuler
1909 und 1914 Familienpflege bei ihrer Schwester Berta
Wie Katrin Luchsinger schreibt, war Anna Z. eine der ersten Patientinnen im Kanton Zürich, die in Familienpflege entlassen wurde, zu ihrer Schwester Berta. Dieses Instrument der Familienpflege wurde erst 1909 eingeführt. Die Familienpflege weckte neue Hoffnungen die überfüllten Anstalten könnten so entlastet werden. Für Anna Z. waren die zwei Aufenthalte bei ihrer Schwester keine echte Alternative zur Anstalt. Die beiden Schwestern stritten sich und Anna Z. musste nach beiden Aufenthalten bei Berta wieder nach Rheinau zurück.
Ein verhängnisvoller Zirkusbesuch
Die Wohnsitznahme bei ihrer Schwester Berta in Richterswil bedeutete auch, dass sie wieder als Schneiderin arbeiten konnte, auch bei Kundschaft auf der Stör. Die Rechnungen kassierte ihre Schwester. Nach den vielen Streitereien mit der Schwester gelang es Anna Z. mit der Erlaubnis von Dr. Riklin in Zürich, der für die Familienpflege zuständig war, im Confessionsgeschäft Spörri in Zürich eine Stelle als Schneiderin zu finden, wo sie früher schon einmal gearbeitet hatte. Mit «4 Fr. Taglohn» wurde sie eingestellt «im Saal 50 für seidene Blusen». Täglich pendelte sie nun «Morgens um 7 Uhr von Richterswil nach Zürich und Abends mit dem 6 Uhr 30 Mi., gewöhnlich mit dem Arbeiterzug, der stets bis auf den letzten Platz überfüllt war, wieder retour nach Richterswil!»
«4 ½ Monate arbeitete ich mit grossem Fleiss u. Zufriedenheit, ich war ruhig und verträglich mit meinen Nebenkollegen.» Ein Besuch im Zirkus Sarrassini der in Zürich gastierte mit einer Arbeitskollegin wurde Anna Z. zum Verhängnis. Ihre Schwester Berta bei der sie immer noch wohnte, hatte ihre strikte diesen Zirkusbesuch verboten und Anna Z. versprach ihr nicht zu gehen. Das Fräulein das in der Schneiderwerkstatt neben ihre arbeitete, «eine junge leichtfertige Person setzte mir hartnäckig zu: «Was haben denn Sie ihrer Schwester nachzufragen, Sie sind doch gewiss ihr eigener Meister, den ganzen Tag arbeiten und dabei nicht das kleinste Vergnügen sich leisten, …» Anna Z. ließ sich trotz aller Bedenken von der Kollegin überreden und besuchte mit ihr den Zirkus. Dort lernte sie nach der Vorstellung den Kapellmeister des Zirkus kennen. Sie verpasste den letzten Zug nach Richterswil und verbrachte zwei Nächte mit dem Kapellmeister in Zürich. Vor ihrer Rückkehr hatte ihre Schwester bereits mit den Behörden vereinbart, dass Anna Z. wieder in die Anstalt nach Rheinau zurückgeschickt werde. Zurück bei ihrer Schwester in Richterswil ergriff Anna Z. deshalb in der Nacht die Flucht und reiste nach Zürich an ihren Arbeitsplatz. Dort wollte man ihr helfen, und riet ihr in Luzern eine Stelle in einem Zweiggeschäft der Firma anzutreten, dort werde niemand sie suchen. Doch noch bevor sie nach Luzern reisen konnte wurde sie von der Polizei verhaftet und nach Rheinau gebracht.
Zweiter Aufenthalt in Rheinau
In Rheinau wurde Anna Z. nach ihrer Rückkehr nicht auf die geschlossene Abteilung verbracht, wie dies für rückfällige Patienten üblich war. Sie wurde «wie ehemals vorm Verlassen der Anstalt» «auf die beste, ruhigste Abteilung und wieder in mein trautes, nett möbliertes, sonniges Zimmerchen untergebracht,» … »was mich aussöhnte mit meinem Missgeschick.» Anna Z. fühlte sich bald wieder in Rheinau zu Hause. «Ich fing, gleich wie zu früheren Zeiten, wieder fleißig an zu arbeiten an der Anstalts-Nähmaschine.» «Drei Jahr sind dann wieder so ziemlich ruhig verlaufen.» Dann schrieb sie wieder «Brief um Brief» an ihre Schwester und an ihren Vormund, «diesen bestürmend zu veranlassen, mich wieder aus der Anstalt zu entlassen.»
Wieder konnte sie für kurze Zeit bei ihrer Schwester leben, was aber kein gutes Ende nahm. Die beiden Schwestern stritten sich wie früher. Anna Z hatte sich inzwischen mit Wilhelm W. verlobt und wollte ihn heiraten. Das Zerwürfnis mit ihrer Schwester, der Misserfolg dieses Aufenthaltes außerhalb der Klinik, führte dazu, dass Anna Z. nach der Flucht zu ihrer Tante Sch. in Seebach wieder nach Rheinau gebracht wurde in die grässliche Abteilung L.1, wo die kränksten Patientinnen lebten.
Wie Anna Z. schreibt, hatte der Vormund ihr 4 Monate Anstalt «zudiktiert», in der sie sich gut verhalten musste: «also Kopf hoch bewähre dich Unglücksopfer, trotz aller Gefangenschaft, trotz aller Demütigungen, die noch auf dich warten während diesen mir noch unendlich langen Wochen. Ist der Winter noch so lang, es muss doch Frühling werden.»
Die Aufzeichnungen von Anna Z. schließen: «Also ende ich meine Schrift mit dem festen Entschluss, mich in Geduld zu fassen bis meine Erlösungsstunde auf die festgesetzte Zeit schlägt, mit der bestimmten Hoffnung, mein guter Wille halte stand, mich vor Rückfall zu bewahren» (Neu Rheinau den 1. März 1916, Frau Anna Z. Schneiderin.)
Entlassung aus Rheinau und Heirat
Katrin Luchsinger recherchierte: «1919 wurde Anna Z. aus Rheinau entlassen. 1921 heiratete sie Heinrich H. 1932 starb ihr Mann. 1933 trat sie freiwillig in die Pflegeanstalt Neu-Rheinau als Pensionärin ein und starb am 27.Dezember 1938 in Neu-Rheinau.»
Anna Z. wäre vermutlich nie aus der Pflegeanstalt Rheinau entlassen worden, hätte sie nicht für ihre Freiheit gekämpft und hätten sich nicht Ärzte in der Klinik und gut gestellte Verwandte für sie eingesetzt. Damals wurden Psychiatriepatienten oft für ihr ganzes Leben verwahrt. (5)
Fußnoten:
(1) Karin Luchsinger (Herausgeberin) Anna Z., Schneiderin, Chronos Verlag, Zürich 2013, 127 Seiten, 11 Abbildungen s/w., ISBN 978-3-0340-1158-7, CHF 28.00 / EUR 25.00
(2) http://suneboge.ch/
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Bleuler
(4) So klösterlich ging es im Burghölzli auch nicht immer zu und her. Der Psychiater C.G. Jung verliebte sich damals im Burghölzli in seine Patientin in die junge Russin Sabina Spielrein. Spielrein wurde später Ärztin und Psychoanalytikerin und arbeitete in der Sowjetunion. Sie wurde 1942 nach der Einnahme der Stadt Rostow durch die deutsche Wehrmacht von SS-Sonderkommandos mit 25'000 jüdischen Einwohnern der Stadt in der Smijowskaja Balka („Schlangenschlucht“) erschossen.
https://biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/242-spielrein-sabina-nikolajewna
(5) Ich erlebte einen solchen «Fall» des Versuches eine Frau in Rheinau zu versenken vor bald fünfzig Jahren: Damals wollte man Ruth Mäder, die Freundin meines Freundes Heinrich Hugentobler auf Grund einer Intervention der Fürsorge in Rheinau «versorgen». Sie wurde polizeilich ausgeschrieben und gesucht. Mein Freund und Ruth lebten zusammen meist in Abbruchliegenschaften, in Schuppen. In Notschlafstellen der Stadt Zürich, im Bunker unter dem Hallenbad oder an der Rieterstrasse, konnten sie nicht zusammen übernachten und mussten tagsüber die Schlafstelle immer verlassen. Als junge Frau wurde Ruth im Burghölzli einer Hirnoperation unterzogen, einer Leukotomie und wurde so invalid. https://de.wikipedia.org/wiki/Lobotomie Im Burghölzli wurde Ruth, da sie sich vermutlich mit Hand und Fuß wehrte ans Bett gefesselt. Die Narben an ihren Handgelenken zeugten noch davon. Es ging nicht lange bis Ruth in einem Versteck aufgestöbert wurde und von der Polizei nach Rheinau verfrachtet wurde. Nur dank der Intervention eines Prominenten, eines Herr Dr. Weiss eines Bekannten meines Freundes, der dort auf der Direktion in Rheinau resolut vorsprach, wurde Ruth wieder entlassen. Später konnte auch durch einen Psychiater in Zürich erreicht werden, dass die Vormundschaft von Ruth aufgehoben wurde und das Paar, «die Erlaubnis» bekam zu heiraten. Pfarrer Ernst Sieber beschaffte dem Paar eine Wohnung. Siehe auch:
https://ifor-mir.ch/zum-tod-von-pfarrer-ernst-sieber-obdachlosigkeit-und-500000-zweitwohnungen/
Online-Flyer Nr. 751 vom 12.08.2020