SUCHE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Druckversion
Kultur und Wissen
Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Die Welt zerschlagen (1)
Von Ute Bales
Ute Bales hat einen biografischen Roman zur Lebensgeschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle geschrieben, die keine 24 Jahre alt wird. Ihr Schicksal ist Krieg, der Erste Weltkrieg, die Liebe, die Tuberkulose, die Künstlergruppe Dada. Mit Kunst die Welt verändern!? Die NRhZ bringt Auszüge aus dem Roman. Teil 1: Die Szene spielt während des Ersten Weltkrieges. Angelikas Mutter möchte für ihren vom Krieg traumatisierten Sohn Richard einen Musikabend veranstalten. Willy, Angelikas Bruder, bringt den Maler Heinrich Hoerle mit nach Hause.
In Pesch spielen Kinder in einer Kiesgrube mit einer liegen gebliebenen Fliegerbombe. Die Bombe explodiert, die Kinder sterben. Es gibt kaum noch Essen. Das Brot, das man nur auf Karte bekommt, ist mit Kleie vermischt; die Rationen werden immer kleiner, die Milch wird immer wässriger. Die Mutter kocht Steckrübensuppe, Kohlrübengemüse, manchmal Graupensuppe. Ständig sind alle hungrig.
Richard kommt auf Urlaub. Er sieht müde aus und spricht kaum. Um ihn aufzuheitern, will die Mutter für ihn einen Musikabend veranstalten. „Alles soll so sein wie früher“, sagt sie und bittet Willy, ein paar Freunde mitzubringen.
Am Nachmittag kochen Angelika und Maria eine dünne Suppe aus Kartoffeln. Schmand und Speck gibt es nicht mehr. Dafür ist die Tischdekoration gelungen: Stoffstreifen in hellen Rosa- und Pfirsichtönen, dazwischen vier kleine Kerzenhalter, die der Vater gedrechselt hat mit kurzen, weißen Kerzen.
Später sitzt Angelika neben der Mutter am Klavier und übt Stücke für vier Hände: die Sonate Nr. 2 fis-Moll op. 2, die Variation über ein Thema von Robert Schumann, dann zwei Sarabanden im dreiteiligen Taktmaß, die alle Aufmerksamkeit erfordern. Angelika ist lustlos. Die Mutter liegt ihr in den Ohren: „Reiß dich zusammen, Angelika! Disziplin, Angelika!“ Sie ist froh, als die Mutter die Probe abbricht.
Endlich kommt Willy und bringt Marta mit. Angelika fällt Marta um den Hals, will sie gleich zur Seite ziehen und für sich beanspruchen, aber Willy zupft sie am Ärmel. „Nicht jetzt, Geli. Ich habe noch jemand mitgebracht.“ Hinter Marta betritt ein junger Mann die Wohnung. Ein Hut verdeckt sein halbes Gesicht. Er ist auffallend hager; bewegt sich sicher und weltmännisch. Er hängt Hut und Mantel an den Haken der Garderobe und jetzt erst kann Angelika ihn sehen: braune, kurze Haare, eine hohe Stirn, ein entschlossenes Gesicht. Sie sieht ihm an, dass er einen scharfen Verstand hat und weder weich noch schmiegsam oder angenehm ist. Willy stellt ihn zuerst der Mutter vor, dann allen anderen: „Das ist Heinrich Hoerle. Wir nennen ihn Heinz. Er wohnt in der Erftstraße. Ich kenne ihn von der Gewerbeschule.“ Heinrich geht herum und gibt jedem die Hand. Angelika kennt seinen Namen aus Gesprächen mit Willy. Er ist fast einen Kopf kleiner als sie. Sie weiß nicht, weshalb ihr Atem sich verändert, als er näher kommt und ist froh, dass Willy weiter redet. „Er zeichnet hervorragende Karikaturen. Vor dem Krieg hat er eine Studienreise unternommen, ist ein bisschen auf die Walz gegangen.“ Heinrich lacht: „Ja, drei Monate bin ich bettelnd durch Holland gezogen und hab es sehr geschätzt, dass die Klöster an der Landstraße lagen. Dann hab ich für einen Zirkus den Werbekram übernommen: Handzettel, Plakate, all das. Ja, und dann die Kunstschule.“ Sie setzen sich. Die Mutter kommt mit einer Flasche selbstgemachtem Mirabellenlikör. Maria holt Gläser und schenkt ein. „Prosit!“ „Zum Wohl!“ Willy will von Marta wissen, wie es in Düsseldorf ist, aber Marta erzählt wenig von der Akademie, sondern bringt das Gespräch immer wieder auf Anton. „Jetzt sind es drei Wochen, seit er zuletzt geschrieben hat. Die Post ist zu langsam“, sagt sie, „wenn ein Brief kommt, ist man immer nur kurz beruhigt. In der Zwischenzeit kann alles passieren.“ Heinrich fängt von Verdun an und dass die Oberste Heeresleitung jetzt eine Wende erzwingen will. Die Stimmen gehen durcheinander, nur Richard sitzt teilnahmslos da. Keiner traut sich, ihn zu fragen, wie der Krieg wirklich ist. Willy lenkt ab, indem er von Heinrichs Künstlerdasein anfängt. „Ein Semester hat er durchgehalten“, lacht er, „dann hat er sich mit den Lehrern verkracht.“ Die Mutter sieht irritiert aus, auch der Vater. Maria und Willy lachen. Angelika weiß nicht, was sie von ihm halten soll. Heinrich kippt das Glas in einem Zug, knallt es auf den Tisch, wischt sich den Mund mit dem Ärmel und schlägt die Beine übereinander: „Zu Ihrer persönlichen Orientierung: Am ersten Tag meines Schuleintritts erklärte mein erster Lehrer, Professor Zimmer, ich hätte gar kein Talent und der Schulbesuch für mich keinen Zweck. Mein zweiter Lehrer setzte mich am ersten Morgen vor die Tür wegen groben Unfugs. Das war Herr Professor Bernadelli. Von da an bin ich regelmäßig ins Ostasiatische Museum und hatte dort einen Anschauungsunterricht, der mir immer noch zugute kommt. Und ja, seither bin ich, was die Kunst betrifft, auf mich selbst gestellt. Ich weiß, was ich lernen will und muss. Gott sei Dank konnte ich meine Eltern überzeugen. Sie haben mir in unserer Wohnung ein Atelier eingerichtet.“ „Ja, ja, sein Atelier ist berühmt! Die schrulligsten Leute sind dort“, schreit Willy und lacht. Sogar Richard ringt sich ein Grinsen ab. Die Mutter rückt ein Stück zurück mit dem Stuhl, der Vater bewegt unruhig die Hände. Angelika muss Heinrich immer wieder ansehen. Wie er da sitzt, wie er sich bewegt, wie er spricht. Alles so selbstsicher, aber auch arrogant. Sie weiß nicht, ob sie ihn mögen soll.
Maria bringt Suppe und verteilt Teller und Löffel, während Heinrich ausführt, was er sich unter Kunst vorstellt. Er spricht über Kontraste, Negerkunst, über Kinderzeichnungen, über die Kunst primitiver Völker, deren Ursprünglichkeit ihm gefällt. Außer Willy scheint ihm keiner folgen zu können. Niemand sagt etwas. Löffel klappern in den Tellern. Richard kaut und sieht dabei stur geradeaus. Er ist mit den Gedanken weit weg.
Als sie mit Essen fertig sind, gibt die Mutter Angelika ein Zeichen. Sie stehen auf und setzen sich ans Klavier. Schön sieht Angelika aus, groß und zart, mit ihren seelenvollen Augen. 17 Jahre ist sie jetzt alt, hat eine sehr weibliche, schlanke Figur und trägt die Tunika mit der bestickten Bordüre, die ihr Maria genäht hat. Das Kleid darunter ist ein bisschen kurz geworden, besonders an den Armen, aber es geht noch. Das Haar hat sie mit einer Spange zu einem schneckenartigen Gebilde eingerollt. Immer wieder betastet sie die Spange und schiebt den Knoten zurecht. Heinrichs Anwesenheit verunsichert sie. Er schüchtert sie ein, sie fürchtet, von ihm beurteilt zu werden.
Die Mutter nickt Angelika zu. Es wird ganz still, alle lauschen. Mit einer Sonate von Brahms fangen sie an. Die Mutter spielt konzentriert. Es ist ein temperamentvolles Stück. Immer wieder berühren sich ihre Schultern, ihre Arme. Einmal greift Angelika falsch, verzögert in der zweiten Strophe, so dass das Stück ein wenig ins Stolpern gerät. Nach dem letzten Ton traut sie sich nicht aufzusehen. Aber dann klatschen alle und die Mutter kündigt das zweite Stück an, dann das dritte. Beim letzten kommt Maria hinzu und singt eine Arie von Rossini. Sie hat eine schöne, klare Sopranstimme, für Kirchengesang geschaffen.
Die ganze Zeit spürt Angelika Heinrichs Blick im Rücken. Es kommt ihr vor, als ob er durch sie hindurch sieht. Später, am Tisch, vertiefen sie sich in ein langes Gespräch über Kunst. Es geht um Kunstvereine, um französische Malerei und um die Sonderbundausstellung, die alle gesehen haben. Endlich kann Angelika mitreden und erzählt von den Frauenskulpturen der Milly Steger, von den Bildern der Marie Laurencin. Sie will, dass er ihr zuhört, aber er geht nur knapp auf sie ein, redet mit Willy und Marta über van Gogh, Cézanne und Gauguin.
Dann geht es wieder um den Krieg, um Verdun, um die Sicherung der Rheinbrücken, um Frauen in Rüstungsbetrieben, um knappe Lebensmittel. Marta erwähnt Adelheid Popp und die sozialistische Frauenbewegung, lobt deren Engagement gegen Militarismus und Krieg, was Willy dazu veranlasst, ihr einen Vogel zu zeigen. „Was willst du denn damit? Die Frauenbewegung mag gut und recht sein, aber was wird sie schon ausrichten können?“ Heinrich ist seiner Meinung. „Ich denke auch. Die Friedensideen der Damen sind löblich, aber was meint ihr, wer sich davon beeindrucken lässt? Es ist nur ein Verpulvern von Energie.“ Er stupst Richard in die Seite. „Was meinst du dazu?“ Richard zuckt mit den Schultern. „Ich meine gar nichts. Es ist sowieso alles zu spät.“ Angelika sagt über den Tisch: „Ich hab was von Adelheid Popp gelesen. Sie schreibt, wie viel Geld schon in diesen Krieg geflossen ist und kämpft gegen diesen Unsinn und diese Verschwendung. Schaut euch doch mal um. So viele sind krank vor Hunger, ganz zu schweigen von dem, was die Soldaten im Feld ertragen müssen. Mit dem Geld könnte man ganz andere Dinge tun, vielen Menschen helfen, keiner müsste mehr hungern …“ „Ja, das könnte man, aber man tut es nicht. Wenn bloß die SPD … Aber das ist eine Verräterpartei, ein Bäumchenwechseldichkabinett.“ Der Vater will Angelikas Hand tätscheln, aber sie zieht sie zurück. „Dann muss uns eben was anderes helfen! Es ist ungerecht, dass ich nicht mitmachen kann, nur, weil ich zu jung bin. Ich habe doch eine Meinung!“ Heinrich sieht sie überrascht an. „Was machen Sie? Ich meine, was arbeiten Sie?“ „Ich mache eine Lehre als Hutmacherin. Und ich zeichne. Willy zeigt mir alles. Und Marta. Wenn ich könnte, würde ich auf die Zeichenschule gehen. Wenn wir keinen Krieg hätten.“ „Eine Künstlerin also“, lacht Heinrich, „ich bin also in eine Künstlerfamilie hineingeraten.“ Dann will er genau wissen, was sie malt, wie sie malt und warum. Angelika ziert sich, als er sie auffordert, ihre Mappe zu holen. Sie hat etwas Widerspenstiges. Das gefällt ihm.
Ute Bales: Die Welt zerschlagen – Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle, Gebundene Ausgabe, 280 Seiten, Rhein-Mosel-Verlag, 2015, 19,80 Euro
Siehe auch:
Die Welt zerschlagen – Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Auszug 2: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22791
Auszug 3: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22808
Auszug 4: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22827
Auszug 5: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22845
Auszug 6: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22864
Filmclip
Lesung aus einem Roman zur Lebensgeschichte von Angelika Hoerle
Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
NRhZ 552 vom 09. März 2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22599
Online-Flyer Nr. 560 vom 04.05.2016
Druckversion
Kultur und Wissen
Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Die Welt zerschlagen (1)
Von Ute Bales
Ute Bales hat einen biografischen Roman zur Lebensgeschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle geschrieben, die keine 24 Jahre alt wird. Ihr Schicksal ist Krieg, der Erste Weltkrieg, die Liebe, die Tuberkulose, die Künstlergruppe Dada. Mit Kunst die Welt verändern!? Die NRhZ bringt Auszüge aus dem Roman. Teil 1: Die Szene spielt während des Ersten Weltkrieges. Angelikas Mutter möchte für ihren vom Krieg traumatisierten Sohn Richard einen Musikabend veranstalten. Willy, Angelikas Bruder, bringt den Maler Heinrich Hoerle mit nach Hause.
In Pesch spielen Kinder in einer Kiesgrube mit einer liegen gebliebenen Fliegerbombe. Die Bombe explodiert, die Kinder sterben. Es gibt kaum noch Essen. Das Brot, das man nur auf Karte bekommt, ist mit Kleie vermischt; die Rationen werden immer kleiner, die Milch wird immer wässriger. Die Mutter kocht Steckrübensuppe, Kohlrübengemüse, manchmal Graupensuppe. Ständig sind alle hungrig.
Richard kommt auf Urlaub. Er sieht müde aus und spricht kaum. Um ihn aufzuheitern, will die Mutter für ihn einen Musikabend veranstalten. „Alles soll so sein wie früher“, sagt sie und bittet Willy, ein paar Freunde mitzubringen.
Am Nachmittag kochen Angelika und Maria eine dünne Suppe aus Kartoffeln. Schmand und Speck gibt es nicht mehr. Dafür ist die Tischdekoration gelungen: Stoffstreifen in hellen Rosa- und Pfirsichtönen, dazwischen vier kleine Kerzenhalter, die der Vater gedrechselt hat mit kurzen, weißen Kerzen.
Später sitzt Angelika neben der Mutter am Klavier und übt Stücke für vier Hände: die Sonate Nr. 2 fis-Moll op. 2, die Variation über ein Thema von Robert Schumann, dann zwei Sarabanden im dreiteiligen Taktmaß, die alle Aufmerksamkeit erfordern. Angelika ist lustlos. Die Mutter liegt ihr in den Ohren: „Reiß dich zusammen, Angelika! Disziplin, Angelika!“ Sie ist froh, als die Mutter die Probe abbricht.
Endlich kommt Willy und bringt Marta mit. Angelika fällt Marta um den Hals, will sie gleich zur Seite ziehen und für sich beanspruchen, aber Willy zupft sie am Ärmel. „Nicht jetzt, Geli. Ich habe noch jemand mitgebracht.“ Hinter Marta betritt ein junger Mann die Wohnung. Ein Hut verdeckt sein halbes Gesicht. Er ist auffallend hager; bewegt sich sicher und weltmännisch. Er hängt Hut und Mantel an den Haken der Garderobe und jetzt erst kann Angelika ihn sehen: braune, kurze Haare, eine hohe Stirn, ein entschlossenes Gesicht. Sie sieht ihm an, dass er einen scharfen Verstand hat und weder weich noch schmiegsam oder angenehm ist. Willy stellt ihn zuerst der Mutter vor, dann allen anderen: „Das ist Heinrich Hoerle. Wir nennen ihn Heinz. Er wohnt in der Erftstraße. Ich kenne ihn von der Gewerbeschule.“ Heinrich geht herum und gibt jedem die Hand. Angelika kennt seinen Namen aus Gesprächen mit Willy. Er ist fast einen Kopf kleiner als sie. Sie weiß nicht, weshalb ihr Atem sich verändert, als er näher kommt und ist froh, dass Willy weiter redet. „Er zeichnet hervorragende Karikaturen. Vor dem Krieg hat er eine Studienreise unternommen, ist ein bisschen auf die Walz gegangen.“ Heinrich lacht: „Ja, drei Monate bin ich bettelnd durch Holland gezogen und hab es sehr geschätzt, dass die Klöster an der Landstraße lagen. Dann hab ich für einen Zirkus den Werbekram übernommen: Handzettel, Plakate, all das. Ja, und dann die Kunstschule.“ Sie setzen sich. Die Mutter kommt mit einer Flasche selbstgemachtem Mirabellenlikör. Maria holt Gläser und schenkt ein. „Prosit!“ „Zum Wohl!“ Willy will von Marta wissen, wie es in Düsseldorf ist, aber Marta erzählt wenig von der Akademie, sondern bringt das Gespräch immer wieder auf Anton. „Jetzt sind es drei Wochen, seit er zuletzt geschrieben hat. Die Post ist zu langsam“, sagt sie, „wenn ein Brief kommt, ist man immer nur kurz beruhigt. In der Zwischenzeit kann alles passieren.“ Heinrich fängt von Verdun an und dass die Oberste Heeresleitung jetzt eine Wende erzwingen will. Die Stimmen gehen durcheinander, nur Richard sitzt teilnahmslos da. Keiner traut sich, ihn zu fragen, wie der Krieg wirklich ist. Willy lenkt ab, indem er von Heinrichs Künstlerdasein anfängt. „Ein Semester hat er durchgehalten“, lacht er, „dann hat er sich mit den Lehrern verkracht.“ Die Mutter sieht irritiert aus, auch der Vater. Maria und Willy lachen. Angelika weiß nicht, was sie von ihm halten soll. Heinrich kippt das Glas in einem Zug, knallt es auf den Tisch, wischt sich den Mund mit dem Ärmel und schlägt die Beine übereinander: „Zu Ihrer persönlichen Orientierung: Am ersten Tag meines Schuleintritts erklärte mein erster Lehrer, Professor Zimmer, ich hätte gar kein Talent und der Schulbesuch für mich keinen Zweck. Mein zweiter Lehrer setzte mich am ersten Morgen vor die Tür wegen groben Unfugs. Das war Herr Professor Bernadelli. Von da an bin ich regelmäßig ins Ostasiatische Museum und hatte dort einen Anschauungsunterricht, der mir immer noch zugute kommt. Und ja, seither bin ich, was die Kunst betrifft, auf mich selbst gestellt. Ich weiß, was ich lernen will und muss. Gott sei Dank konnte ich meine Eltern überzeugen. Sie haben mir in unserer Wohnung ein Atelier eingerichtet.“ „Ja, ja, sein Atelier ist berühmt! Die schrulligsten Leute sind dort“, schreit Willy und lacht. Sogar Richard ringt sich ein Grinsen ab. Die Mutter rückt ein Stück zurück mit dem Stuhl, der Vater bewegt unruhig die Hände. Angelika muss Heinrich immer wieder ansehen. Wie er da sitzt, wie er sich bewegt, wie er spricht. Alles so selbstsicher, aber auch arrogant. Sie weiß nicht, ob sie ihn mögen soll.
Maria bringt Suppe und verteilt Teller und Löffel, während Heinrich ausführt, was er sich unter Kunst vorstellt. Er spricht über Kontraste, Negerkunst, über Kinderzeichnungen, über die Kunst primitiver Völker, deren Ursprünglichkeit ihm gefällt. Außer Willy scheint ihm keiner folgen zu können. Niemand sagt etwas. Löffel klappern in den Tellern. Richard kaut und sieht dabei stur geradeaus. Er ist mit den Gedanken weit weg.
Als sie mit Essen fertig sind, gibt die Mutter Angelika ein Zeichen. Sie stehen auf und setzen sich ans Klavier. Schön sieht Angelika aus, groß und zart, mit ihren seelenvollen Augen. 17 Jahre ist sie jetzt alt, hat eine sehr weibliche, schlanke Figur und trägt die Tunika mit der bestickten Bordüre, die ihr Maria genäht hat. Das Kleid darunter ist ein bisschen kurz geworden, besonders an den Armen, aber es geht noch. Das Haar hat sie mit einer Spange zu einem schneckenartigen Gebilde eingerollt. Immer wieder betastet sie die Spange und schiebt den Knoten zurecht. Heinrichs Anwesenheit verunsichert sie. Er schüchtert sie ein, sie fürchtet, von ihm beurteilt zu werden.
Die Mutter nickt Angelika zu. Es wird ganz still, alle lauschen. Mit einer Sonate von Brahms fangen sie an. Die Mutter spielt konzentriert. Es ist ein temperamentvolles Stück. Immer wieder berühren sich ihre Schultern, ihre Arme. Einmal greift Angelika falsch, verzögert in der zweiten Strophe, so dass das Stück ein wenig ins Stolpern gerät. Nach dem letzten Ton traut sie sich nicht aufzusehen. Aber dann klatschen alle und die Mutter kündigt das zweite Stück an, dann das dritte. Beim letzten kommt Maria hinzu und singt eine Arie von Rossini. Sie hat eine schöne, klare Sopranstimme, für Kirchengesang geschaffen.
Die ganze Zeit spürt Angelika Heinrichs Blick im Rücken. Es kommt ihr vor, als ob er durch sie hindurch sieht. Später, am Tisch, vertiefen sie sich in ein langes Gespräch über Kunst. Es geht um Kunstvereine, um französische Malerei und um die Sonderbundausstellung, die alle gesehen haben. Endlich kann Angelika mitreden und erzählt von den Frauenskulpturen der Milly Steger, von den Bildern der Marie Laurencin. Sie will, dass er ihr zuhört, aber er geht nur knapp auf sie ein, redet mit Willy und Marta über van Gogh, Cézanne und Gauguin.
Dann geht es wieder um den Krieg, um Verdun, um die Sicherung der Rheinbrücken, um Frauen in Rüstungsbetrieben, um knappe Lebensmittel. Marta erwähnt Adelheid Popp und die sozialistische Frauenbewegung, lobt deren Engagement gegen Militarismus und Krieg, was Willy dazu veranlasst, ihr einen Vogel zu zeigen. „Was willst du denn damit? Die Frauenbewegung mag gut und recht sein, aber was wird sie schon ausrichten können?“ Heinrich ist seiner Meinung. „Ich denke auch. Die Friedensideen der Damen sind löblich, aber was meint ihr, wer sich davon beeindrucken lässt? Es ist nur ein Verpulvern von Energie.“ Er stupst Richard in die Seite. „Was meinst du dazu?“ Richard zuckt mit den Schultern. „Ich meine gar nichts. Es ist sowieso alles zu spät.“ Angelika sagt über den Tisch: „Ich hab was von Adelheid Popp gelesen. Sie schreibt, wie viel Geld schon in diesen Krieg geflossen ist und kämpft gegen diesen Unsinn und diese Verschwendung. Schaut euch doch mal um. So viele sind krank vor Hunger, ganz zu schweigen von dem, was die Soldaten im Feld ertragen müssen. Mit dem Geld könnte man ganz andere Dinge tun, vielen Menschen helfen, keiner müsste mehr hungern …“ „Ja, das könnte man, aber man tut es nicht. Wenn bloß die SPD … Aber das ist eine Verräterpartei, ein Bäumchenwechseldichkabinett.“ Der Vater will Angelikas Hand tätscheln, aber sie zieht sie zurück. „Dann muss uns eben was anderes helfen! Es ist ungerecht, dass ich nicht mitmachen kann, nur, weil ich zu jung bin. Ich habe doch eine Meinung!“ Heinrich sieht sie überrascht an. „Was machen Sie? Ich meine, was arbeiten Sie?“ „Ich mache eine Lehre als Hutmacherin. Und ich zeichne. Willy zeigt mir alles. Und Marta. Wenn ich könnte, würde ich auf die Zeichenschule gehen. Wenn wir keinen Krieg hätten.“ „Eine Künstlerin also“, lacht Heinrich, „ich bin also in eine Künstlerfamilie hineingeraten.“ Dann will er genau wissen, was sie malt, wie sie malt und warum. Angelika ziert sich, als er sie auffordert, ihre Mappe zu holen. Sie hat etwas Widerspenstiges. Das gefällt ihm.
Ute Bales: Die Welt zerschlagen – Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle, Gebundene Ausgabe, 280 Seiten, Rhein-Mosel-Verlag, 2015, 19,80 Euro
Siehe auch:
Die Welt zerschlagen – Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Auszug 2: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22791
Auszug 3: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22808
Auszug 4: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22827
Auszug 5: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22845
Auszug 6: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22864
Filmclip
Lesung aus einem Roman zur Lebensgeschichte von Angelika Hoerle
Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
NRhZ 552 vom 09. März 2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22599
Online-Flyer Nr. 560 vom 04.05.2016
Druckversion
NEWS
KÖLNER KLAGEMAUER
FILMCLIP
FOTOGALERIE