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Rezension des Krimis „Grafeneck“ von Rainer Gross
Vergangenheit ist nie vorbei
Von Ulrich Klinger
Hermann Mauser ist 61 Jahre alt, Grundschullehrer in Buttenhausen im Württembergischen. Ein Eigenbrötler, wie es viele gibt in diesem Landstrich. Trotzdem zufrieden mit seinem Leben, seiner Liebe zur 15 Jahre jüngeren Töpferin Veronika, die erst seit ein paar Jahren dort lebt. Aber auch hier wahrt er Distanz, genießt die Nähe und zieht sich bei Bedarf zurück in seine Welt. Außerdem ist er in seiner Freizeit begeisterter Höhlenforscher.
Und Zeit hat er jetzt, es sind Osterferien, wir schreiben das Jahr 1997. Mauser erforscht eine kleine Nebenhöhle des „Münzlochs“, die Lehmkammerhöhle. Und macht einen entscheidenden Fund: die mumifizierte Leiche eines Mannes in einem Anzug. Er verschweigt den Fund zuerst, will näheres selbst herausfinden. Am nächsten Tag kommt er wieder, ausgerüstet mit Kamera, getrieben von seiner Neugier. Er findet heraus, dass der Mann erschossen worden ist, der Anzug stammt aus der Produktion eines kurz vor Kriegsende geschlossen Textilbetriebes in Reutlingen. Der Tote wurde nicht in der Höhle erschossen. Es ist ein Rätsel, wie er hier hineingebracht wurde. Die Tatzeit müsste also kurz vor Ende der Nazibarbarei in Deutschlands liegen. Er hat die Zeit zwar als kleiner Junge erlebt, aber keine Erinnerungen daran. Er kennt sie nur aus den Erzählungen seines Vaters, einem Dorfpolizisten, und erinnert sich dunkel an seine geistig behinderte Schwester Mutz. Sie wurde von zu Hause abgeholt, in der nahe gelegenen Anstalt Grafeneck ermordet und verbrannt – wie viele andere auch. Seine Mutter hatte sich aus Kummer darüber aufgehängt.
Dies alles ist Geschichte geworden, traurig für die Angehörigen, aber man redet nicht öffentlich darüber. Für die offizielle Trauer gibt es die Gedenkstätte Grafeneck. Das Gebäude wird heute wieder als psychiatrische Anstalt genutzt.
Mauser meldet zwar den Leichenfund verspätet bei der Polizei, verschweigt aber seine schon angelaufenen eigenen Ermittlungsversuche. Er steigert sich in die Aufklärung des Falles hinein, hat eine vage Ahnung, dass seine Geschichte, seine Familiengeschichte mit dieser Angelegenheit zu tun haben könnte. Er lädt sich die Schuld auf, die plötzlich in sein Leben trat, die nicht seine ist, die er aber zu seiner macht. Und je mehr er forscht, erfährt, sich zurückzieht von seinem gewohnten Leben, desto mehr nähert er sich der Wahrheit. Aber was ist Wahrheit, was ist Schuld? Kann diese jemals vergeben werden? Brauchen wir als Menschen nicht eigentlich eher Erbarmen?
Es ist faszinierend, wie der Autor uns in den Sog dieser Erfahrung hineinzieht. Wunderschöne Landschaftsbeschreibungen, stimmige Menschenportraits wechseln sich ab mit der Beschreibung tiefer menschlicher Melancholie. Bilder die genau stimmen, melancholisch, ein düsterer „Heimatroman“ über die dunkelste Zeit Deutschlands und seine immer noch nicht zufriedenstellende Verarbeitung in der Gesellschaft. Er zeichnet ein Bild des Verschweigens, der geschlossenen und verschworenen Dorfgemeinschaft, gefangen in Täter-Opferrollen. Schuld sind immer die anderen und kommen sie auch nur aus dem Nachbardorf. Nazis gab es bei uns keine, wir haben nichts gewusst. Aber auch ein Bild der Befreiung für die Betroffenen, wenn die verhärtete Kruste des Schweigens endlich aufgebrochen wird und man sich nach so vielen Jahren der Wahrheit stellt. Vorsichtig zwar, vertraulich, aber immerhin.
Cover des Buchs
Rainer Gross wurde 1962 in Reutlingen/Baden-Württemberg geboren. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Tübingen, danach Studium an einem theologischen Seminar. Dieser Debütroman überzeugt in jeder Hinsicht, auf weitere Veröffentlichungen des Autors können wir als Leser nur gespannt sein.
„Grafeneck“ von Rainer Gross erschien als Taschenbuch im Pendragon Verlag, hat 92 Seiten, und kostet 9,90 Euro.
Online-Flyer Nr. 91 vom 18.04.2007
Rezension des Krimis „Grafeneck“ von Rainer Gross
Vergangenheit ist nie vorbei
Von Ulrich Klinger
Hermann Mauser ist 61 Jahre alt, Grundschullehrer in Buttenhausen im Württembergischen. Ein Eigenbrötler, wie es viele gibt in diesem Landstrich. Trotzdem zufrieden mit seinem Leben, seiner Liebe zur 15 Jahre jüngeren Töpferin Veronika, die erst seit ein paar Jahren dort lebt. Aber auch hier wahrt er Distanz, genießt die Nähe und zieht sich bei Bedarf zurück in seine Welt. Außerdem ist er in seiner Freizeit begeisterter Höhlenforscher.
Und Zeit hat er jetzt, es sind Osterferien, wir schreiben das Jahr 1997. Mauser erforscht eine kleine Nebenhöhle des „Münzlochs“, die Lehmkammerhöhle. Und macht einen entscheidenden Fund: die mumifizierte Leiche eines Mannes in einem Anzug. Er verschweigt den Fund zuerst, will näheres selbst herausfinden. Am nächsten Tag kommt er wieder, ausgerüstet mit Kamera, getrieben von seiner Neugier. Er findet heraus, dass der Mann erschossen worden ist, der Anzug stammt aus der Produktion eines kurz vor Kriegsende geschlossen Textilbetriebes in Reutlingen. Der Tote wurde nicht in der Höhle erschossen. Es ist ein Rätsel, wie er hier hineingebracht wurde. Die Tatzeit müsste also kurz vor Ende der Nazibarbarei in Deutschlands liegen. Er hat die Zeit zwar als kleiner Junge erlebt, aber keine Erinnerungen daran. Er kennt sie nur aus den Erzählungen seines Vaters, einem Dorfpolizisten, und erinnert sich dunkel an seine geistig behinderte Schwester Mutz. Sie wurde von zu Hause abgeholt, in der nahe gelegenen Anstalt Grafeneck ermordet und verbrannt – wie viele andere auch. Seine Mutter hatte sich aus Kummer darüber aufgehängt.
Dies alles ist Geschichte geworden, traurig für die Angehörigen, aber man redet nicht öffentlich darüber. Für die offizielle Trauer gibt es die Gedenkstätte Grafeneck. Das Gebäude wird heute wieder als psychiatrische Anstalt genutzt.
Mauser meldet zwar den Leichenfund verspätet bei der Polizei, verschweigt aber seine schon angelaufenen eigenen Ermittlungsversuche. Er steigert sich in die Aufklärung des Falles hinein, hat eine vage Ahnung, dass seine Geschichte, seine Familiengeschichte mit dieser Angelegenheit zu tun haben könnte. Er lädt sich die Schuld auf, die plötzlich in sein Leben trat, die nicht seine ist, die er aber zu seiner macht. Und je mehr er forscht, erfährt, sich zurückzieht von seinem gewohnten Leben, desto mehr nähert er sich der Wahrheit. Aber was ist Wahrheit, was ist Schuld? Kann diese jemals vergeben werden? Brauchen wir als Menschen nicht eigentlich eher Erbarmen?
Es ist faszinierend, wie der Autor uns in den Sog dieser Erfahrung hineinzieht. Wunderschöne Landschaftsbeschreibungen, stimmige Menschenportraits wechseln sich ab mit der Beschreibung tiefer menschlicher Melancholie. Bilder die genau stimmen, melancholisch, ein düsterer „Heimatroman“ über die dunkelste Zeit Deutschlands und seine immer noch nicht zufriedenstellende Verarbeitung in der Gesellschaft. Er zeichnet ein Bild des Verschweigens, der geschlossenen und verschworenen Dorfgemeinschaft, gefangen in Täter-Opferrollen. Schuld sind immer die anderen und kommen sie auch nur aus dem Nachbardorf. Nazis gab es bei uns keine, wir haben nichts gewusst. Aber auch ein Bild der Befreiung für die Betroffenen, wenn die verhärtete Kruste des Schweigens endlich aufgebrochen wird und man sich nach so vielen Jahren der Wahrheit stellt. Vorsichtig zwar, vertraulich, aber immerhin.
Cover des Buchs
Rainer Gross wurde 1962 in Reutlingen/Baden-Württemberg geboren. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Tübingen, danach Studium an einem theologischen Seminar. Dieser Debütroman überzeugt in jeder Hinsicht, auf weitere Veröffentlichungen des Autors können wir als Leser nur gespannt sein.
„Grafeneck“ von Rainer Gross erschien als Taschenbuch im Pendragon Verlag, hat 92 Seiten, und kostet 9,90 Euro.
Online-Flyer Nr. 91 vom 18.04.2007