Dubiose Graumarktgeschäften und unmoralische Rüstungsproduktion
Brisanter Daimler/Chrysler Wirtschaftskrimi
Von Peter Kleinert
Zetsche-Anwalt forderte 50.000 Euro Schmerzensgeld
Bereits Jürgen Grässlins letzte Dokumentation von Macht und Intrigen der DaimlerChrysler AG, die er detailreich und akribisch im Bestsellerbuch "Das Daimler-Desaster" veröffentlichte, hatte den Konzern aus Stuttgart mächtig geärgert. Zeigt sie doch - schonungslos und erschütternd zugleich - den Verfall des einstigen schwäbischen Musterunternehmens zu einem Konzern, dem offensichtlich jede Moral abhanden gekommen ist. Doch Versuche von DaimlerChrysler, das Erscheinen des Buches oder einzelner Inhalte selbst zu verhindern, scheiterten durch umfassende Schutzschriften, die durch den Verlag bei den zuständigen Landgerichten eingereicht wurden. Zuletzt forderte der Rechtsanwalt des Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche ein Schmerzensgeld von nicht weniger als 50.000 Euro. Das nun vorliegende Werk ist eine überarbeitete und in Teilen stark erweiterte Neuauflage des Vorgängers. In Stuttgart scheint man nervös zu werden. Angesichts der vorliegenden Veröffentlichungen ist das allerdings auch wenig verwunderlich.
Jürgen Schrempp und Jürgen Grässlin
Graumarktgeschäfte vernichteten Existenzen
Neben den Teilen, die ausführlich auf die gescheiterte Welt AG, das Produkt-Desaster und die Umstände des Rücktritts von Jürgen Schrempp eingehen, spielen dabei drei Kapitel des über 350 Seiten starken Taschenbuchs eine herausragende Rolle. Nichts macht den moralischen Verfall des einstigen Vorzeigeunternehmens deutlicher als die hochbrisante Dokumentation systematisch betriebener Graumarktgeschäfte in den Kapiteln fünf bis sieben des Buches. Hier wurden über Jahre hinweg ganze Existenzen vernichtet. Der Verkauf von Pkw am eigenen Vertriebssystem vorbei wäre an sich wohl nicht mehr als verwerflich, würde hier nicht offensichtlich neben Vorgaben der Konzernführung auch noch EU-Recht gebrochen.
Zum einen sind DaimlerChrysler auf Grund einer Europäischen Richtlinie solche „Parallelmarktgeschäfte“ untersagt, zum anderen - und an dieser Stelle wird das Buch zum wahren Wirtschaftskrimi - verklagt der Konzern reihenweise Händler, die den Konzern angeblich zu Lasten der DaimlerChrysler AG betrogen haben sollen. Viele von Ihnen, darunter auch der inzwischen vom BGH wiederholt freigesprochene ehemalige Spediteur Gerhard Schweinle, mussten und müssen noch heute dafür ins Gefängnis.
Versuche, den Autor mundtot zu machen, gescheitert
Die Hintergründe hierzu sind so tiefgreifend und folgenschwer, dass sich DaimlerChrysler dazu veranlasst sieht, den bekannten Konzernkritiker gleich mehrfach auf Unterlassung von Aussagen zur möglichen Verwicklung des neuen Daimler-Vorsitzenden in Graumarktgeschäfte und dessen diesbezügliche Rolle als Zeuge in einem Strafprozess zu verklagen. Ob die offensichtliche Strategie des Konzerns aufgeht, den Kritiker mundtot zu machen, darf angezweifelt werden.
Grässlin bei der Aktion „Ich kaufe keinen Mercedes. Boykottiert Streumunition!“
Fotos:Privat
Denn Jürgen Grässlin argumentiert mit Fakten und belegt akribisch, wie Daimler über Jahre am eigenen Vertrieb vorbei Autos ins Ausland verkaufte. Mit Faksimiles und Aktennotizen wird diese Praxis im nun vorliegenden neuen Taschenbuch präzise dokumentiert. Brisant ist hier insbesondere die Frage, welche Rolle der damalige Vertriebsvorstand und heutige Vorstandsvorsitzende Dieter Zetsche dabei spielte. Dieser hatte am 9. Dezember 2002 bei seiner Zeugenvernehmung vor dem Landgericht Stuttgart Angaben zu Graumarktgeschäften der DaimlerChrysler AG und der Firmengruppe Schweinle gemacht.
Mitproduzent von Streumunition
Aus Konzernsicht sicherlich ebenso unerquicklich sollten Grässlins Recherchen über die Verwicklung des Autokonzerns in moralisch bedenkliche Waffenproduktion sein. So dürfte vielen Mercedes-Fahrern bisher nicht bewusst sein, dass der Daimler-Stern nicht nur die Kühlerhauben von Luxuslimousinen ziert. DaimlerChrysler, so Grässlins Vorwurf, ist über seine 15-prozentige Beteiligung am zweitgrößten europäischen Rüstungsgiganten EADS zugleich „der größte deutsche Rüstungsproduzent und -exporteur“. Die von ihm mitinitiierte Mercedes-Boykottaktion „Wir kaufen keinen Mercedes. Boykottiert Streumunition!“ (siehe www.wir-kaufen-keinen-mercedes.de) zeigt den Leserinnen und Lesern eine weitere Schattenseite auf: Daimler als Mitproduzent von Streumunition, Atomwaffenträgern, Militärhubschraubern und Kampfjets. Mit Grässlins „Abgewirtschaftet“-Buch und dem möglichen Verlust Abertausender Mercedes-Kunden - die sich zukünftig Fahrzeuge von rüstungsfreien Konzernen kaufen - muss der Daimler-Vorstand abwägen, wie viel verlorene Autokäufer ihm das eigene „Rüstungs-Desaster“ wert ist.
Mutige Staatsanwälte und Journalisten gesucht
Jürgen Grässlin hat sich mit seiner inzwischen über 15 Jahre andauernden unermüdlichen Recherchearbeit zu einem der profiliertesten Kenner der DaimlerChrysler AG entwickelt. Das in weiten Teilen spannend zu lesende Buch ist Ergebnis dieser akribischen Arbeit, die in großen Teilen von einem inzwischen offensichtlich wachsenden Netzwerk von Informanten gespeist werden dürfte. Jürgen Grässlin treibt die Suche nach der Wahrheit. Das mag für viele heutige Opfer am Ende lediglich eine Genugtuung sein. Für einige Manager dürfte es weit mehr bedeuten. Bleibt zu hoffen, dass sich für die hochbrisanten, akribisch recherchierten Machenschaften des Stuttgarter Konzerns endlich Staatsanwaltschaften und Gerichte sowie - nicht minder wichtig - ein paar mutige Journalisten interessieren.
„Abgewirtschaftet?! Das Daimler-Desaster geht weiter“ von Jürgen Grässlin, Knaur Taschenbuch Verlag Broschiert),
9,95 Euro
Online-Flyer Nr. 95 vom 16.05.2007