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Medien
Wie die SPIEGEL-Redaktion mit dem Thema Mobilfunk umgeht
„Journalismus – im Dienst der Herrschenden“
Von Dr. med. Markus Kern und Prof. Dr. Karl Richter

In einem Offenen Brief an Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust reagierte die Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und Demokratie auf einen Artikel zum Thema „Mobilfunk – Der Hamster ist Zeuge“, zu dem in NRhZ 97 bereits ein Bericht erschien. Wir stellen die Argumente der Kompetenzinitiative gegen den offenkundigen Gefälligkeitsjournalismus des Spiegel gegenüber der Mobilfunkindustrie zur Diskussion. Die Zwischenüberschriften wurden von uns nachtäglich eingefügt. – Die Redaktion.

Sehr geehrter Herr Aust,

im Namen zahlreicher Menschen wenden wir uns gegen ein Niveau der Berichterstattung in dem Beitrag von Manfred Dworschak „Mobilfunk. Der Hamster ist Zeuge“ (im Heft vom 30. April 2007), das wir in keiner Weise mit dem kritischen Anspruch des Spiegel in Einklang bringen können. Wir geben gern zu, dass die Materie, um die es darin geht, kompliziert ist. Die einen versichern, dass unterhalb geltender Grenzwerte alles unbedenklich ist; die anderen sehen die gesundheitliche Schädlichkeit von Mobilfunk und anderweitigen elektromagnetischen Belastungen weit unterhalb geltender Grenzwerte „mit überwältigender wissenschaftlicherEvidenz als erwiesen“ an (so z. B. Dr. med. Hans-Christoph Scheiner, der Verfasser desBuches Mobilfunk - die verkaufte Gesundheit in einem am 30. April 2007 in Kempten gehaltenenVortrag). Ergänzend muss man auch noch wissen, wer welche Forschungen finanziert hat. Denn wo die Industrie (mit)finanziert, überwiegen die Versicherungen der Harmlosigkeit; in industrieunabhängiger Forschung die der Gefährdung und Schädigung.

Stefan Aust
War auch mal ein Linker – Stefan Aust
Quelle: www.spiegelgruppe.de


Leitfaden der Mobilfunkindustrie

Ein unabhängiger Journalismus wird sich in einer solchen Situation ausgewogen informieren und entsprechend differenziert äußern. Dem Beitrag von Manfred Dworschak gehen beide journalistischen Tugenden ab. Wenn er nacheinander versichert, die „Harmlosigkeit der Funktechnik“ sei „so gut wie gesichert“, die Grenzwerte würden meist nur zu drei, vier Prozent ausgeschöpft, die Erwärmung der Körper sei minimal, wahre Ursache der Beschwerden folglich die „Angst“, so liest sich das wie ein kritiklos übernommener Leitfaden der Mobilfunkindustrie. Die Fragen nicht-thermischer Wirkungen oder Langzeiteffekte, die die unabhängige Forschung beschäftigen und beunruhigen, werden nicht erst gestellt. Und wenn sich Herr D. hämisch über fotografische Reihen kranker Bäume auslässt, so beweist er auch da den fehlenden Kontakt zu einer unabhängigen internationalen Forschung, die elektromagnetische Schädigungen auch von Pflanzen und Tieren verlässlich nachgewiesen hat - z. T. sogar mit staatlichen Fördermitteln (ein Beispiel anbei).

Prof. Richter
Prof. Dr. Karl Richter

Kritische Mediziner
diffamiert

Doch Herr D. braucht solche Einseitigkeit und Uninformiertheit, um mit der gewünschten Deutlichkeit und Arroganz gegen kritische Ärzte zu Felde ziehen zu können, die den Mobilfunkverantwortlichen schon lange ein Dorn im Auge sind. Die Bamberger Ärztin Dr. med. C. Waldmann-Selsam, die „2000 Leidende [...] befragt“, wird geringschätzig zur „Wanderärztin“ und schlecht informierten „Schutzpatronin des Widerstands“ herabgestuft. Mobilfunkkritische Mediziner sehen sich pauschal als Gruppe vorwiegend von „Naturheilern, Homöopathen und Seelenkundlern“ und als „Fundamentalisten des Einzelfalls“ diffamiert, die gegen die„herrschende Wissenschaft“ eine fragwürdige „Gegenwissenschaft“ durchzusetzen versuchen.

Und mit den Ärzten werden die eigentlichen Opfer der Mobilfunkentwicklung diffamiert. Zu „Mobilfunkgegnern“ sind sie durch „Krankheit oder eine Lebenskrise“ geworden. Ursache ihrer Beschwerden ist die „Angst“. Und ihre Angst nutzen sie wiederum als „Beweis ihrer Berechtigung“. Zynischer kann man mit Menschen nicht umgehen, denen im Licht unabhängiger Forschung schwerste gesundheitliche und materielle Opfer zugemutet werden – gegen die Schutzversprechen des Grundgesetztes und europäischer Gesetze.

Die folgende Fotoserie dokumentiert, wie eine Linde nach dem Aufstellen eines Mobilfunkmastes stirbt
Die folgende Fotoserie dokumentiert, wie eine Linde nach dem Aufstellen eines Mobilfunkmastes stirbt

Vertrauen einer Idealistin mißbraucht


Herr D. nutzt das Vertrauen einer gutgläubigen und offenherzigen Idealistin, um sie überallhin begleiten zu dürfen - entschlossen, jede unbedachte und überzogene Äußerung von ihr zu ihrer Demontage zu nutzen. Warum würdigt er in einer Welt, in der zu viel mit Geld geregelt wird, nicht z. B. ihre Selbstlosigkeit, ihren Mut; oder ihre Gutachten? Warum recherchiert er nicht gegen einen Verbraucherschutz, der solche Gutachten mit Messtechnikern entsorgt, die mit den eingehaltenen Grenzwerten gleich die Einheitsdiagnose eingebildeter Krankheit stellen? Warum begleitet er nicht die politik- und industriegefälligen Verharmloser auf ihren Wegen, protokolliert den Stand ihrer biowissenschaftlichen und medizinischen (Un)Kenntnis, ihre Tricks der Verharmlosung, aber auch die Summen, die sie mit ihrem Einsatz erwirtschaften?

In den Augen des Herrn D. verkommen die fachlich mit der Wirkung elektromagnetischer Felder befassten Kritiker im wesentlichen zu einem Restposten spleeniger Einzelkämpfer. Er zeigt sich auch da einigermaßen uninformiert. „Markus Kern, ein Psychotherapeut in Kempten“, wie es in dem Text leichtfüßig heißt, ist genau besehen „Doktor der Medizin“, den er wie auch seinen Facharzt „Psychosomatische Medizin“ durch Studium und wissenschaftliche Arbeit erlangt hat. Er ist aber auch Initiator einer starken Allgäuer Ärzteinitiative, Mitinitiator des Mobilfunk Ärzteappells Allgäu --Bodensee – Oberschwaben mit aktuell über 260 Unterzeichnern, auch Leiter des ärztlichen Qualitätszirkels „Elektromagnetische Felder in der Medizin...“. Er ist Mitbegründer einer Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und Demokratie, die sich soeben im Rahmen einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit vorgestellt hat und deren Erstunterzeichner/innen Tausende von Fachkräften repräsentieren (die Gründungserklärung mit Unterzeichnerliste anbei).

Die Schwester der sterbenden Linde
Die Schwester der sterbenden Linde steht von der Strahlung geschützt und kann deshalb überleben

70 Jahre unabhängiger Forschung ignoriert


Zu den Ärzten und Professoren der Medizin, die dieser Initiative angehören, zählen auch Umweltmediziner, Internisten, Gynäkologen und Hals-Nasen-Ohren-Ärzte. Dies nicht etwa, weil sie dem Mobilfunk pauschal ein „Sammelsurium mittelschlimmer Beschwerden“ zuschreiben, wie Herr D. annimmt. Vielmehr können sie von ihren jeweiligen Fächern aus gemeinsam das breite Spektrum von schädigenden Wirkungen ausleuchten. Sie überschauen 70 Jahre an unabhängiger Forschung - einschließlich gewichtiger Langzeitforschungen z. B. von Prof. Karl Hecht -, die von zu vielen Vertretern der „herrschenden Wissenschaft“ ignoriert und geleugnet werden. Und sie sehen mit den Erkenntnissen dieser Forschung eine drastische Zunahme chronischer Erkrankungen und eine entsprechende Kostenlawine auf den Sozialstaat zukommen, die jede Vorstellung von technisch-wirtschaftlichem Fortschritt ad absurdum führt. Sie verstehen sich durchaus als Vertreter einer „Gegenwissenschaft“, dies nur in einem etwas anderenSinne. Sie fordern Unabhängigkeit und berufsethische Verantwortung gegen um sich greifende Instrumentalisierung und Korruption. Sie wenden sich gegen eine „herrschende Wissenschaft“, die sich immer häufiger zum Instrument der Herrschenden macht.

Filmausschnitt
Siehe http://www.puls-schlag.org/05_baumschaeden.html
Fotos: www.puls-schlag.org


Auch die Tabakindustrie unterwanderte Wissenschaft und Medien


Die Unterzeichner/innen der Kompetenzinitiative wenden sich auch gegen einen instrumentalisierten Journalismus, der um nichts besser ist. Sie sehen ihn mitverantwortlich für die Geschichte des Umweltversagens. Die Risiken des Rauchens z. B. waren seit über sechzigJahren bekannt, bevor die Politik gegenwärtig über wirksame Schutzmaßnahmen nachdenkt. Der Spiegel konnte kürzlich immerhin mit darauf hinweisen, wie weit Bestechungen von Wissenschaftlern zur Geschichte dieser Verspätung beigetragen haben. Aber gilt dies für die unterbliebenen rechtzeitigen journalistischen Recherchen nicht ganz analog?

Der soeben im Ärzteblatt 12/104 vom 23.3.2007 erschienene Artikel von Th. Grüning und N. Schönfeld Tabakindustrie und Ärzte: „Vom Teufel bezahlt...“ zeigt geradezu schockierend, wie weit die Tabakindustrie Politik und Universitäten mit ihrem Geld unterwandern konnte. 60 Funktions- und Würdenträger aus Wissenschaft und Politik sind namentlich bekannt, die sich bereit fanden, den immer deutlicher werdenden Risiken des Rauchens mit einem Projekt „Rauchen und Gesundheit“ entgegenzuwirken. Umweltjuristen wie z. B. Prof. Erich Schöndorf, einst Staatsanwalt im Holzschutzmittelprozess, schließen längst auf ein analoges Projekt „Gesundheit  und Mobilfunk“, dem starke gesellschaftliche Kräfte zu Diensten sind - auch Journalisten.

Politik in Geschäfte der Industrie verstrickt

Bürger brauchen keine „Schutzheiligen“, wo sie sich auf die Unabhängigkeit von Politik und Wissenschaft, die gesetzlichen Schutzzusagen, auf eine funktionierende Gewaltenteilung und den vorgesehenen Schutz der Demokratie durch unabhängige Medien verlassen können. Doch noch nie in der Nachkriegzeit hat eine brüchige Demokratie betroffene Bürger in einer so industriegefälligen Weise entrechtet und entmachtet. Der Staat, der das Profitstreben der Industrie kontrollieren müsste, ist auf vielen Wegen selbst in deren Geschäfte verstrickt. Seit der Annahme von 100 Milliarden DM hat er sich zum Auftraggeber der Entwicklung gemacht, der Gesichtsverluste und Regressforderungen fürchten muss. Die Industrie finanziert zu über zwei Dritteln die Bewertung der Risiken. Sie hat sich den Einfluss auf die genehme Vergabe wissenschaftlicher Projekte auch dort gesichert, wo der Staat für ergänzende Finanzierungen sorgt (so Prof. Frentzel-Beyme in öffentlichen Interviews). Von der Mobilfunkindustrie veranstaltete und finanzierte Ärzteschulungen sollen die Mitwirkung am Verbraucherschutz so direkt wie möglich regeln. Die Justiz orientiert sich an Grenzwerten, die millionenfach über geforderten Vorsorgewerten liegen.

Diktatur kommerzieller Interessen

Wo nun noch Medien, oft eigene geschäftliche Interessen deutlich erkennbar im Blick, die unheiligen Allianzen stützen, ist die neuartige ökonomische Gleichschaltung perfekt. Die Demokratie der Bürger ist damit aber auch endgültig zur Diktatur kommerzieller Interessen verkommen. In dem Artikel Funkstille über Strahlungsschäden..., in dem die Zeitschrift Message (1/2007) erstmals das Verhalten der Medien zum Thema Mobilfunk kritisch unter die Lupe genommen hat, schneidet der Spiegel nicht grundsätzlich besser ab als die Bildzeitung. Wo Herr D. die einseitige Meinungsmache des Spiegel nun zu rechtfertigen glaubt, beweist er die Richtigkeit des kritischen Urteils nur überzeugender denn je zuvor.

Spiegel-Recherche im Dienst der Herrschenden

Der Journalist Dagobert Lindlau hat kürzlich den Verfall des investigativen Journalismus kritisiert. Herr D. eröffnet ihm ein neues Feld. Er recherchiert im Dienst der Herrschenden gegen ihre Opfer - eine Umkehrung dessen, was man vom Spiegel vor Jahrzehnten erwarten durfte. Wo einst Skandale der Macht aufgedeckt wurden, werden sie heute gedeckt oder gar mitgemacht. Das S. 8 abgedruckte Titelblatt eines Spiegel vor 50 Jahren - mit Franz Josef Strauß im Visier - berührt wie ein rührender Gruß aus versunkenen Tagen.

Was ein Journalismus, wie ihn der Artikel des Herrn D. praktiziert, einbringt, wird die Öffentlichkeit nicht erfahren. Umgekehrt scheint der Spiegel den Preis nicht zu kennen, den er für einen Journalismus dieser Art bezahlt. Den Ruf eines einst höchst angesehenen kritischen Organs hat er für immer mehr Intellektuelle längst eingebüßt - auf dem Mobilfunksektor und über ihn hinaus. Für kritische Demokraten ist er zu einem Organ von durchschnittlicher Abhängigkeit, durchschnittlicher Anpassungsbereitschaft, auch durchschnittlichem Opportunismus geworden.

Von vielen Seiten dazu angeregt, schreiben Ihnen die beiden Unterzeichner dies im Namen der Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und Demokratie. Sie bringen Ihnen gern Tausende von Unterschriften bei, die Ihnen bezeugen, dass sie nicht nur für sich selbst urteilen. Vielleicht wäre die journalistische Durchleuchtung eines industriegesponserten Systems, von dem sich immer mehr Bürger verraten fühlen, der richtigere Weg, der von Herrn D. kritisierten Panikbereitschaft entgegenzuwirken. Auch eine Chance für den Spiegel, wieder an sein kritisches Format von vor 50 Jahren anzuknüpfen und Standards für andere Zeitungen und Magazine zu setzen.

Mit freundlichen Grüßen

    i. A.
    Dr. med. Markus Kern und Prof. Dr. Karl Richter

Anlagen:
- Gründungerklärung der Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und Demokratie
- T. Grüning und N. Schönfeld: Tabakindustrie und Ärzte...
- Projektbericht: Studies on the Effects of Radio-Frequency Fields on Conifers
unter www.kompetenzinitiative.de
Kontakte:
manfred_dworschak@spiegel.de, chefredaktion@spiegel.de

Online-Flyer Nr. 98  vom 06.06.2007



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