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Die radikalen Thesen des Karl Lauterbach
Die Privilegien der einen sind die Armut der anderen
Von Wolfgang Bittner
Karl Lauterbach
Foto: Bundestag
Lauterbach ist glaubwürdig, auch wenn er selbst zahlreiche Privilegien genießt. Als Mediziner und Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Epidemiologie an der Universität zu Köln sowie als Mitglied der Legislative hat er Einblick in die komplexen gesellschaftlichen Systeme, die für Außenstehende nur schwer durchschaubar sind. Denn zumeist fehlt es an der genauen Kenntnis der Sachverhalte; obwohl dieses ungute Gefühl, das Lauterbach mit „Zweiklassenstaat“ umschreibt, bei der weitaus überwiegenden Bevölkerung mehr oder weniger ausgeprägt vorhanden ist. Die anderen gehören sowieso zu denen, die in Bildung, medizinischer Versorgung, Altersabsicherung und Pflege nicht zu knapp profitieren, und zwar dadurch, dass die nicht privilegierte Mehrheit zurückzustehen und außerdem noch den Hauptanteil für die Infrastruktur zu zahlen hat.
Nichtsdestoweniger – so schreibt Lauterbach – seien die meisten Deutschen nach wie vor „der Überzeugung, dass Bildung und Gesundheitsversorgung nicht vom Einkommen abhängen sollten“, wohingegen die Amerikaner schon seit jeher glaubten „dass jeder für sich selbst verantwortlich sei und nur auf das Anspruch habe, was er sich selbst verdient hat: die beste Behandlung für Wohlhabende, eine Basisversorgung oder weniger für Arme“. Ob auch die vielen Armen in den USA derart ideologisch verblendet sind, ist zweifelhaft; dass jedoch die deutsche Bevölkerung vielfach noch dem Irrglauben an eine soziale und gerechte Gesellschaft anhängt, ist unbestreitbar.
Lauterbach schreibt: „In der Tat sind alle Bereiche unserer sozialen Sicherung ungerecht, also neben dem Gesundheitswesen auch das Rentensystem und die Pflegeversicherung. Selbst der deutsche Arbeitsmarkt ist nicht neutral, sondern schreibt systematisch die durch das ungerechte Schulsystem bedingten Nachteile fort. Von der Wiege bis zur Bahre wird in Deutschland die Chancengleichheit verwehrt. Stattdessen herrscht der Zweiklassenstaat.“ Zwar erscheine unser Staat noch immer gerechter als er ist, doch diese Illusion sei bald durchschaut. Und das berge die große Gefahr nicht nur einer Schwächung der Wirtschaftskraft in sich, sondern darüber hinaus einer Unterhöhlung der Akzeptanz von Demokratie. Ein Zweiklassenstaat, so führt Lauterbach weiter aus, „fördert die moralisch niedrigsten Verhaltensweisen in seiner Bevölkerung und hat gleichzeitig nicht die moralische Autorität, sich darüber zu erheben“.
Daraus resultiert unter anderem die Forderung nach einem Zwang zur Sprachförderung für Migrantenkinder sowie zur verpflichtenden ganztägigen Vorschule für Drei- bis Sechsjährige bei gleichzeitiger Abschaffung der Hauptschule zugunsten einer ganztägigen Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Vorbild. Lauterbach hält die Hauptschule in ihrer heutigen Form für einen Ort „der Vernachlässigung, Verrohung und Stigmatisierung der Kinder der anderen“. Er geht sogar so weit, für eine Frühförderung der Kleinkinder bis zu drei Jahren einzutreten sowie für eine akademische Ausbildung für Erzieherinnen.
Sprachförderung für Migrantenkinder
Foto: Ilse Dunkel, pixelio.de
Da fragt es sich allerdings, ob die studierten Erzieherinnen dann nicht lieber auf die besser dotierten Lehrberufe umsatteln würden und ob schon Ein- und Zweijährige unbedingt in den „Erziehungsknast“ gezwungen werden müssen, um ihre spätere Leistungsfähigkeit (für Industrie, Handel, Verwaltung) zu erhöhen. Nichts gegen eine Fachausbildung für die Menschen, die unsere Kinder betreuen, und überhaupt nichts gegen mehr Kindergartenplätze. Ob allerdings alles verpflichtend und akademisiert sein sollte, ist fraglich.
Natürlich müssen wir bei den Kindern anfangen, wenn wir uns eine gerechte und soziale Gesellschaft wünschen, die wir in der Tat nicht haben. Um jedoch einen Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein und damit auch bei den Eltern der zu erziehenden Kinder herbeizuführen, dürfte ein noch weiterer Weg zu beschreiten sein. Denn Bildungsnotstand und Kulturferne lassen sich nicht ohne ein grundsätzliches Umdenken in Politik und Gesellschaft beseitigen. Davon aber sind wir meilenweit entfernt.
Der ungebildete und perspektivlose Arbeitslose entwickele sich nicht selten vom Opfer zum Täter, und zwar gegenüber seinen Kindern und zugleich gegenüber der Gesellschaft, schreibt Lauterbach. Insbesondere Migrantenkinder ohne Schulabschluss und ohne Ausbildung, die vom Sozialstaat abhängig sind und ihn für ihr Überleben brauchen, hassten diesen Staat und würden zu einer potenziellen Bedrohung für die Gesellschaft. Sie begönnen ihre „Karriere“ als Opfer dieser Gesellschaft und endeten oft genug als Täter, weil sie ohne Perspektive ausgegrenzt seien.
Die Ausgrenzung weiter Teile der Bevölkerung wird besonders deutlich bei der medizinischen Versorgung. Lauterbach: „Der Verlierer dieses Systems ist der gesetzlich Versicherte – und die gesamte Gesellschaft durch den Niedergang der klinischen Forschung. Dabei wird fast die komplette Infrastruktur der Universitätskliniken von Beitragszahlern der Gesetzlichen Krankenversicherung und aus Steuermitteln bezahlt. Stärker als alle anderen profitieren davon die zehn Prozent privat Versicherten.“
„Das Zweikassen-System"
Karikatur: Christian Heinrici
Außerordentlich informativ sind in diesem Zusammenhang die zitierten Stellungnahmen von Ärzten aus dem Internet-Forum www.facharzt.de, wo zum Beispiel von „Kasslern“ oder von „Chipsletten“ (gemeint sind Kassenpatienten) die Rede ist, die „sich im Wartezimmer den Arsch plattdrücken“, von „Billigheimer-Kassen“ (AOK) oder von „Armenkässlern“, die nur „die Zeit stehlen“ und denen ein „Tritt in den Achtersteven“ gut täte. Kassenpatienten wortwörtlich als „unsere Gegner“, „diese feiste Unterschicht“, die man am besten „verrecken“ lässt, damit mehr Zeit für Privatpatienten bleibt.
Das muss nicht kommentiert werden. Ebenso wenig, dass niedergelassene Ärzte nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes im Durchschnitt 10.500 Euro vor Steuern und nach Abzug aller Personal- und Praxiskosten verdienen, während der durchschnittliche Arbeitnehmerbruttoverdienst bei 2190 Euro liegt.
Als die vier stärksten Lobbygruppen in der deutschen Gesundheitspolitik nennt Lauterbach die Private Krankenversicherung, die Pharmaindustrie, die Tabakindustrie und nicht zuletzt die Kassenärztlichen Vereinigungen, die über einen riesigen Verwaltungsapparat verfügen und nicht nur nach Meinung Lauterbachs abgeschafft gehören. Er plädiert zu Recht für eine einheitliche Gebührenordnung für alle Patienten, für eine vermehrte Einrichtung von Spezialkliniken und eine stärkere Arzneimittelkontrolle (53.659 verschiedene Medikamente sind auf dem Markt) sowie für eine Reduzierung der zurzeit zirka 240 Krankenkassen auf 30 bis 50.
Bei der Altersversicherung müssen dann in unserem System des Generationenvertrags nach Lauterbach die Erwerbstätigen „nicht nur die Lasten ihrer Eltern- generation tragen, sondern zugleich fürchten, dass ihnen später ein ähnliches Leistungs- niveau weder in der Rente noch in der Krankenversicherung zur Verfügung stehen wird“. Doch auf Jahre hinaus subventionieren die armen Rentner noch die reichen Rentner, weil sich die Höhe der Rente an dem früheren Einkom- men und der Beschäftigungdauer orientiert und die Besser- verdienenden, deren Einzahl- ungen nach oben begrenzt sind, nach der Statistik im Durch- schnitt einige Jahre länger leben.
Dass vom Staat zusätzliche private Absicherungen empfohlen werden, kann nicht verwundern, wenn man weiß, wie viele „Volksvertreter“ in der Versicherungsbranche nebentätig sind. Diese Empfehlung gilt allerdings nicht für Beamte, die auf Kosten des Steuerzahlers nicht nur eine umfänglichere Krankenversicherung und ärztliche Versorgung als die übrigen Arbeitnehmer genießen, sondern auch erkleckliche Pensionen. Während die durchschnittliche Rente in der gesetzlichen Rentenversicherung 769 Euro netto beträgt, liegt die Beamtenversorgung bei 1.992 Euro netto.
Erst recht enttäuschend sind die Bedingungen in der Pflege. Zehn Jahre nach ihrer Einführung, schreibt Lauterbach, sei die Pflegeversicherung mehr oder weniger pleite, sie werde völlig ungerecht finanziert, leide unter Ineffizienz und weise gravierende Qualitätsdefizite auf. „Abgezockt und totgepflegt“. Auch hier profitieren Beamte, die einen bis zu siebzigprozentigen Zuschuss zur Pflege erhalten. Lauterbach: „Es hat den Anschein, als ob die Beamten Gesetze nur für sich und die anderen Privilegierten in Deutschland gemacht hätten.“
Das Bildungs- und Forschungssystem in einer „massiven Dauerkrise“, eine angsterregende Zweiklassenmedizin, Rentenbetrug und Pflegenotstand – das sind kurz gefasst Lauterbachs Thesen, die er mit Zahlen, Fakten und Beispielen aus der Praxis untermauert. Zu jedem der genannten Komplexe gibt es Reformvorschläge, die fast alle vernünftig, aber wohl kaum durchsetzbar sind. Einerseits scheint Karl Lauterbach noch die Hoffnung zu haben, dass die Ungerechtigkeiten und Schäden zu beseitigen sind, andererseits führt er uns das Gemeinwesen, in dem wir leben, als durch und durch verlogen und morbide vor. Das ist umso deprimierender, als ihn niemand als durchgeknallten Linken, als Neidhammel oder Verschwörungstheoretiker diffamieren kann. Was also ist aus diesen Ausführungen eines Insiders zu lernen? Besser reich und gesund, als arm und krank, wird mancher sagen und sich damit schlitzohrig auf die Seite der Privilegierten schlagen wollen – wenn es denn möglich ist. Dabei heißt es schon in der Bibel bei Salomon: „Wer den Weg der Einsicht verlässt, begibt sich in die Gesellschaft von lebenden Toten.“ (CH)
Online-Flyer Nr. 119 vom 31.10.2007
Die radikalen Thesen des Karl Lauterbach
Die Privilegien der einen sind die Armut der anderen
Von Wolfgang Bittner
Karl Lauterbach
Foto: Bundestag
Nichtsdestoweniger – so schreibt Lauterbach – seien die meisten Deutschen nach wie vor „der Überzeugung, dass Bildung und Gesundheitsversorgung nicht vom Einkommen abhängen sollten“, wohingegen die Amerikaner schon seit jeher glaubten „dass jeder für sich selbst verantwortlich sei und nur auf das Anspruch habe, was er sich selbst verdient hat: die beste Behandlung für Wohlhabende, eine Basisversorgung oder weniger für Arme“. Ob auch die vielen Armen in den USA derart ideologisch verblendet sind, ist zweifelhaft; dass jedoch die deutsche Bevölkerung vielfach noch dem Irrglauben an eine soziale und gerechte Gesellschaft anhängt, ist unbestreitbar.
Lauterbach schreibt: „In der Tat sind alle Bereiche unserer sozialen Sicherung ungerecht, also neben dem Gesundheitswesen auch das Rentensystem und die Pflegeversicherung. Selbst der deutsche Arbeitsmarkt ist nicht neutral, sondern schreibt systematisch die durch das ungerechte Schulsystem bedingten Nachteile fort. Von der Wiege bis zur Bahre wird in Deutschland die Chancengleichheit verwehrt. Stattdessen herrscht der Zweiklassenstaat.“ Zwar erscheine unser Staat noch immer gerechter als er ist, doch diese Illusion sei bald durchschaut. Und das berge die große Gefahr nicht nur einer Schwächung der Wirtschaftskraft in sich, sondern darüber hinaus einer Unterhöhlung der Akzeptanz von Demokratie. Ein Zweiklassenstaat, so führt Lauterbach weiter aus, „fördert die moralisch niedrigsten Verhaltensweisen in seiner Bevölkerung und hat gleichzeitig nicht die moralische Autorität, sich darüber zu erheben“.
Daraus resultiert unter anderem die Forderung nach einem Zwang zur Sprachförderung für Migrantenkinder sowie zur verpflichtenden ganztägigen Vorschule für Drei- bis Sechsjährige bei gleichzeitiger Abschaffung der Hauptschule zugunsten einer ganztägigen Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Vorbild. Lauterbach hält die Hauptschule in ihrer heutigen Form für einen Ort „der Vernachlässigung, Verrohung und Stigmatisierung der Kinder der anderen“. Er geht sogar so weit, für eine Frühförderung der Kleinkinder bis zu drei Jahren einzutreten sowie für eine akademische Ausbildung für Erzieherinnen.
Sprachförderung für Migrantenkinder
Foto: Ilse Dunkel, pixelio.de
Da fragt es sich allerdings, ob die studierten Erzieherinnen dann nicht lieber auf die besser dotierten Lehrberufe umsatteln würden und ob schon Ein- und Zweijährige unbedingt in den „Erziehungsknast“ gezwungen werden müssen, um ihre spätere Leistungsfähigkeit (für Industrie, Handel, Verwaltung) zu erhöhen. Nichts gegen eine Fachausbildung für die Menschen, die unsere Kinder betreuen, und überhaupt nichts gegen mehr Kindergartenplätze. Ob allerdings alles verpflichtend und akademisiert sein sollte, ist fraglich.
Natürlich müssen wir bei den Kindern anfangen, wenn wir uns eine gerechte und soziale Gesellschaft wünschen, die wir in der Tat nicht haben. Um jedoch einen Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein und damit auch bei den Eltern der zu erziehenden Kinder herbeizuführen, dürfte ein noch weiterer Weg zu beschreiten sein. Denn Bildungsnotstand und Kulturferne lassen sich nicht ohne ein grundsätzliches Umdenken in Politik und Gesellschaft beseitigen. Davon aber sind wir meilenweit entfernt.
Der ungebildete und perspektivlose Arbeitslose entwickele sich nicht selten vom Opfer zum Täter, und zwar gegenüber seinen Kindern und zugleich gegenüber der Gesellschaft, schreibt Lauterbach. Insbesondere Migrantenkinder ohne Schulabschluss und ohne Ausbildung, die vom Sozialstaat abhängig sind und ihn für ihr Überleben brauchen, hassten diesen Staat und würden zu einer potenziellen Bedrohung für die Gesellschaft. Sie begönnen ihre „Karriere“ als Opfer dieser Gesellschaft und endeten oft genug als Täter, weil sie ohne Perspektive ausgegrenzt seien.
Die Ausgrenzung weiter Teile der Bevölkerung wird besonders deutlich bei der medizinischen Versorgung. Lauterbach: „Der Verlierer dieses Systems ist der gesetzlich Versicherte – und die gesamte Gesellschaft durch den Niedergang der klinischen Forschung. Dabei wird fast die komplette Infrastruktur der Universitätskliniken von Beitragszahlern der Gesetzlichen Krankenversicherung und aus Steuermitteln bezahlt. Stärker als alle anderen profitieren davon die zehn Prozent privat Versicherten.“
„Das Zweikassen-System"
Karikatur: Christian Heinrici
Außerordentlich informativ sind in diesem Zusammenhang die zitierten Stellungnahmen von Ärzten aus dem Internet-Forum www.facharzt.de, wo zum Beispiel von „Kasslern“ oder von „Chipsletten“ (gemeint sind Kassenpatienten) die Rede ist, die „sich im Wartezimmer den Arsch plattdrücken“, von „Billigheimer-Kassen“ (AOK) oder von „Armenkässlern“, die nur „die Zeit stehlen“ und denen ein „Tritt in den Achtersteven“ gut täte. Kassenpatienten wortwörtlich als „unsere Gegner“, „diese feiste Unterschicht“, die man am besten „verrecken“ lässt, damit mehr Zeit für Privatpatienten bleibt.
Das muss nicht kommentiert werden. Ebenso wenig, dass niedergelassene Ärzte nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes im Durchschnitt 10.500 Euro vor Steuern und nach Abzug aller Personal- und Praxiskosten verdienen, während der durchschnittliche Arbeitnehmerbruttoverdienst bei 2190 Euro liegt.
Als die vier stärksten Lobbygruppen in der deutschen Gesundheitspolitik nennt Lauterbach die Private Krankenversicherung, die Pharmaindustrie, die Tabakindustrie und nicht zuletzt die Kassenärztlichen Vereinigungen, die über einen riesigen Verwaltungsapparat verfügen und nicht nur nach Meinung Lauterbachs abgeschafft gehören. Er plädiert zu Recht für eine einheitliche Gebührenordnung für alle Patienten, für eine vermehrte Einrichtung von Spezialkliniken und eine stärkere Arzneimittelkontrolle (53.659 verschiedene Medikamente sind auf dem Markt) sowie für eine Reduzierung der zurzeit zirka 240 Krankenkassen auf 30 bis 50.
Bei der Altersversicherung müssen dann in unserem System des Generationenvertrags nach Lauterbach die Erwerbstätigen „nicht nur die Lasten ihrer Eltern- generation tragen, sondern zugleich fürchten, dass ihnen später ein ähnliches Leistungs- niveau weder in der Rente noch in der Krankenversicherung zur Verfügung stehen wird“. Doch auf Jahre hinaus subventionieren die armen Rentner noch die reichen Rentner, weil sich die Höhe der Rente an dem früheren Einkom- men und der Beschäftigungdauer orientiert und die Besser- verdienenden, deren Einzahl- ungen nach oben begrenzt sind, nach der Statistik im Durch- schnitt einige Jahre länger leben.
Dass vom Staat zusätzliche private Absicherungen empfohlen werden, kann nicht verwundern, wenn man weiß, wie viele „Volksvertreter“ in der Versicherungsbranche nebentätig sind. Diese Empfehlung gilt allerdings nicht für Beamte, die auf Kosten des Steuerzahlers nicht nur eine umfänglichere Krankenversicherung und ärztliche Versorgung als die übrigen Arbeitnehmer genießen, sondern auch erkleckliche Pensionen. Während die durchschnittliche Rente in der gesetzlichen Rentenversicherung 769 Euro netto beträgt, liegt die Beamtenversorgung bei 1.992 Euro netto.
Erst recht enttäuschend sind die Bedingungen in der Pflege. Zehn Jahre nach ihrer Einführung, schreibt Lauterbach, sei die Pflegeversicherung mehr oder weniger pleite, sie werde völlig ungerecht finanziert, leide unter Ineffizienz und weise gravierende Qualitätsdefizite auf. „Abgezockt und totgepflegt“. Auch hier profitieren Beamte, die einen bis zu siebzigprozentigen Zuschuss zur Pflege erhalten. Lauterbach: „Es hat den Anschein, als ob die Beamten Gesetze nur für sich und die anderen Privilegierten in Deutschland gemacht hätten.“
Das Bildungs- und Forschungssystem in einer „massiven Dauerkrise“, eine angsterregende Zweiklassenmedizin, Rentenbetrug und Pflegenotstand – das sind kurz gefasst Lauterbachs Thesen, die er mit Zahlen, Fakten und Beispielen aus der Praxis untermauert. Zu jedem der genannten Komplexe gibt es Reformvorschläge, die fast alle vernünftig, aber wohl kaum durchsetzbar sind. Einerseits scheint Karl Lauterbach noch die Hoffnung zu haben, dass die Ungerechtigkeiten und Schäden zu beseitigen sind, andererseits führt er uns das Gemeinwesen, in dem wir leben, als durch und durch verlogen und morbide vor. Das ist umso deprimierender, als ihn niemand als durchgeknallten Linken, als Neidhammel oder Verschwörungstheoretiker diffamieren kann. Was also ist aus diesen Ausführungen eines Insiders zu lernen? Besser reich und gesund, als arm und krank, wird mancher sagen und sich damit schlitzohrig auf die Seite der Privilegierten schlagen wollen – wenn es denn möglich ist. Dabei heißt es schon in der Bibel bei Salomon: „Wer den Weg der Einsicht verlässt, begibt sich in die Gesellschaft von lebenden Toten.“ (CH)
Online-Flyer Nr. 119 vom 31.10.2007