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Globales
Frankreich im Herbst 2007
Der Geist von 1995 erwacht – die Straße wird lebendig
Von Willi Hajek
Streik! | Foto: Fr@nçois Lafite
Équité statt égalité
Die Reform, die schon Juppé zu Fall brachte, besteht in der Verschlechterung der Rentenregelungen für die Eisenbahner. Statt 37,5 Jahre einzuzahlen und dann mit 55, bzw. als Lokführer mit 50 Jahren, und voller Rente in den Ruhestand zu gehen, sollen sie jetzt genauso wie die Beschäftigten in den anderen Bereichen vierzig Jahre einzahlen und ihr Renteneintrittsalter soll erhöht werden.
Sarkozy und seine Mannschaft nennen das Angleichung – nicht egalité, sondern équité – und Abschaffung von Privilegien. Die Eisenbahner dagegen fordern echte egalité, nämlich die Angleichung der Einzahlungszeiten aller Beschäftigten auf die 37,5 Jahre, die die Eisenbahner zahlen müssen, um die volle Rente zu erhalten.
Was wir für uns wollen, das wollen wir für alle
Das war die Parole der großen Solidaritätsbewegung 1995, und sie soll auch die Parole der beginnenden Oktoberstreik-Bewegung werden.
Am 18. Oktober 2007 fuhr in ganz Frankreich kaum ein Bus, eine U-Bahn oder ein Fern- oder Nahverkehrszug. Alle acht bei der Bahn agierenden Gewerkschaften hatten zu diesem Streiktag aufgerufen, um den Protest und den Widerstand gegen die geplante Reform sichtbar zu machen. Selbst ein Teil der mittleren und leitenden Angestellten der Bahn hatte einen Offenen Brief veröffentlicht, laut dem sie sich nicht zu „Knechten der Regierungspolitik“ degradieren lassen wollen. Fast achtzig Prozent der EisenbahnerInnen streikten, bei der U-Bahn und in anderen Bereichen des Öffentlichen Diensts war es ähnlich. Es war die erste erfolgreiche Massenaktion seit dem Wahlsieg von Sarkozy.
„37,5 für alle" | Foto: Fr@nçois Lafite
Der „grève reconductible“
Doch die Orientierung der beteiligten Gewerkschaften ist sehr unterschiedlich. So gab es Gewerkschaften, die diesen Streiktag streng begrenzt haben wollten auf 24 Stunden und keine Minute mehr. Sie wollten erst einmal jede von der Basis ausgehende und weiter treibende Dynamik verhindern.
Denn die Streikbewegung von 1995 war aus Aktionstagen entstanden, die die Gewerkschaftszentralen angekündigt hatten. Die Dynamik dieser Aktionstage hatte sich dann verselbstständigt, und es waren die Basisversammlungen der Streikenden, die über die Fortsetzung der Streiks entschieden. In diesem Konflikt entstand 1995 der Begriff des „grève reconductible“, er bezeichnet einen Streik, der beschlossen und getragen wird von den autonomen Basisversammlungen der Streikenden.
24 Stunden oder viele Tage?
Genau diesen „greve reconductible“ fordern heute drei der Eisenbahnergewerkschaften Während die sehr stark sozialpartnerschaftliche CFDT und vor allem die Leitung der stärksten Gewerkschaft bei der Bahn, die CGT, den 24-Stunden-Streik vor allem dazu nutzen wollten, gestärkt in die Verhandlungen mit der Regierung gehen zu können, fordern die Force ouvriere (FO), die autonome Gewerkschaft der Lokführer FGAAC, die linke Basisgewerkschaft SUD Rail sowie die lokalen Gliederungen der CGT, die über eine teilweise sehr kämpferische Basis verfügt, die Entscheidungsmacht für die Versammlungen der Bahnbeschäftigten. Sie sollen über die Dauer des Streiks entscheiden.
Von daher war die erste Phase der Streikbewegung von Uneinigkeit geprägt. Eine Reihe von Versammlungen hatte beschlossen, den Streik über den Freitag, den 18. Oktober, hinaus, teilweise bis zum Montag fortzusetzen. Richtig normal wurde der Verkehr in Frankreich erst wieder am Mittwoch. Gerade in den Zentren der Bahn, in den großen Städten wie Paris, Toulouse, Rouen, Marseille hatten die Basisversammlungen für die Fortsetzung über den Freitag hinaus entschieden.
„Verhandeln tötet und kann Ohnmacht verursachen"
Foto: Fr@nçois Lafite
Gewerkschaftliche Differenzen
Sichtbar wurden in dieser Phase zwei Momente der Bewegung: Bei den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und besonders bei den Eisenbahnern und U-Bahnern gibt es eine breite Ablehnung dieser „Reform von oben“; Differenzen bestehen derzeit hinsichtlich der einzuschlagenden Kampftaktik und der Ziele des Kampfes.
Während die einen verhandeln wollen über mögliche akzeptable kleine oder auch weniger kleine Verschlechterungen, ist sich ein relativ großer Teil der Streikenden der Tatsache bewusst, dass die „Reform von oben" nur durch radikale Streiks und andere Aktionsformen verhindert werden kann, die gerade von unten, von der Basis angenommen, diskutiert und praktisch umgesetzt werden müssen. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, ob es gelingt, die Spaltungslinie der Regierung, die versucht, Privilegierte des öffentlichen Diensts und benachteiligte Beschäftigte des privaten Sektors gegeneinander auszuspielen, durch die offensive Orientierung auf die Angleichung nach oben auszubremsen.
Genau darin liegt auch der wesentliche Unterschied zwischen den beteiligten Gewerkschaften – einige, wie die Sud-Rail und Teile der CGT – versuchen, auf der Linie der „Angleichung nach oben" die gesellschaftliche Solidarität zu organisieren, während andere – wie die CFDT – im Prinzip einer Reform der Rentengesetze zustimmen würden, wenn sie diese nur mitgestalten dürfen. Die CFDT hatte sich schon 1995 für die damals gescheiterte Reform stark gemacht.
Was wir für uns wollen, das wollen wir für alle
Foto: Fr@nçois Lafite
Streik auch bei Air France
Auf jeden Fall wird es spannend. Das soziale Klima verändert sich. Für Mitte November sind jetzt schon weitere Streiks im Erziehungssektor gegen die dortigen Personalkürzungen angekündigt und seit einigen Tagen streikt das Flugpersonal der Air France. Auch hier ist die Beteiligung an den Aktionen sehr hoch. Die Streikenden fordern Lohnerhöhungen sowie größere zeitliche Abstände zwischen den Flugeinsätzen. Ihre Forderungen ähneln denen der Lokführer hier in der BRD. Auch bei diesem Streik handeln die bei der Air France aktiven Gewerkschaften gemeinsam.
Für den politischen Massenstreik
Sarkozy braucht den Erfolg. Ein Zurückweichen vor den Forderungen der EisenbahnerInnen wäre die erste schwere Niederlage seiner Regierung. Deren Hoffnung richtet sich sicherlich auf einzelne Gewerkschaftszentralen, die bereit sind, in einen Verhandlungsprozess zur Verschlechterung der bestehenden Gesetze einzutreten. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, sich eine Dynamik von unten entfalten zu lassen, die Grundlagen schafft für den politischen Massenstreik.
Klar ist, dass der Geist von 1995 erwacht ist! Mal sehen, was sich daraus entwickelt! (YH)
Online-Flyer Nr. 119 vom 31.10.2007
Frankreich im Herbst 2007
Der Geist von 1995 erwacht – die Straße wird lebendig
Von Willi Hajek
Streik! | Foto: Fr@nçois Lafite
Équité statt égalité
Die Reform, die schon Juppé zu Fall brachte, besteht in der Verschlechterung der Rentenregelungen für die Eisenbahner. Statt 37,5 Jahre einzuzahlen und dann mit 55, bzw. als Lokführer mit 50 Jahren, und voller Rente in den Ruhestand zu gehen, sollen sie jetzt genauso wie die Beschäftigten in den anderen Bereichen vierzig Jahre einzahlen und ihr Renteneintrittsalter soll erhöht werden.
Sarkozy und seine Mannschaft nennen das Angleichung – nicht egalité, sondern équité – und Abschaffung von Privilegien. Die Eisenbahner dagegen fordern echte egalité, nämlich die Angleichung der Einzahlungszeiten aller Beschäftigten auf die 37,5 Jahre, die die Eisenbahner zahlen müssen, um die volle Rente zu erhalten.
Was wir für uns wollen, das wollen wir für alle
Das war die Parole der großen Solidaritätsbewegung 1995, und sie soll auch die Parole der beginnenden Oktoberstreik-Bewegung werden.
Am 18. Oktober 2007 fuhr in ganz Frankreich kaum ein Bus, eine U-Bahn oder ein Fern- oder Nahverkehrszug. Alle acht bei der Bahn agierenden Gewerkschaften hatten zu diesem Streiktag aufgerufen, um den Protest und den Widerstand gegen die geplante Reform sichtbar zu machen. Selbst ein Teil der mittleren und leitenden Angestellten der Bahn hatte einen Offenen Brief veröffentlicht, laut dem sie sich nicht zu „Knechten der Regierungspolitik“ degradieren lassen wollen. Fast achtzig Prozent der EisenbahnerInnen streikten, bei der U-Bahn und in anderen Bereichen des Öffentlichen Diensts war es ähnlich. Es war die erste erfolgreiche Massenaktion seit dem Wahlsieg von Sarkozy.
„37,5 für alle" | Foto: Fr@nçois Lafite
Der „grève reconductible“
Doch die Orientierung der beteiligten Gewerkschaften ist sehr unterschiedlich. So gab es Gewerkschaften, die diesen Streiktag streng begrenzt haben wollten auf 24 Stunden und keine Minute mehr. Sie wollten erst einmal jede von der Basis ausgehende und weiter treibende Dynamik verhindern.
Denn die Streikbewegung von 1995 war aus Aktionstagen entstanden, die die Gewerkschaftszentralen angekündigt hatten. Die Dynamik dieser Aktionstage hatte sich dann verselbstständigt, und es waren die Basisversammlungen der Streikenden, die über die Fortsetzung der Streiks entschieden. In diesem Konflikt entstand 1995 der Begriff des „grève reconductible“, er bezeichnet einen Streik, der beschlossen und getragen wird von den autonomen Basisversammlungen der Streikenden.
24 Stunden oder viele Tage?
Genau diesen „greve reconductible“ fordern heute drei der Eisenbahnergewerkschaften Während die sehr stark sozialpartnerschaftliche CFDT und vor allem die Leitung der stärksten Gewerkschaft bei der Bahn, die CGT, den 24-Stunden-Streik vor allem dazu nutzen wollten, gestärkt in die Verhandlungen mit der Regierung gehen zu können, fordern die Force ouvriere (FO), die autonome Gewerkschaft der Lokführer FGAAC, die linke Basisgewerkschaft SUD Rail sowie die lokalen Gliederungen der CGT, die über eine teilweise sehr kämpferische Basis verfügt, die Entscheidungsmacht für die Versammlungen der Bahnbeschäftigten. Sie sollen über die Dauer des Streiks entscheiden.
Von daher war die erste Phase der Streikbewegung von Uneinigkeit geprägt. Eine Reihe von Versammlungen hatte beschlossen, den Streik über den Freitag, den 18. Oktober, hinaus, teilweise bis zum Montag fortzusetzen. Richtig normal wurde der Verkehr in Frankreich erst wieder am Mittwoch. Gerade in den Zentren der Bahn, in den großen Städten wie Paris, Toulouse, Rouen, Marseille hatten die Basisversammlungen für die Fortsetzung über den Freitag hinaus entschieden.
„Verhandeln tötet und kann Ohnmacht verursachen"
Foto: Fr@nçois Lafite
Gewerkschaftliche Differenzen
Sichtbar wurden in dieser Phase zwei Momente der Bewegung: Bei den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und besonders bei den Eisenbahnern und U-Bahnern gibt es eine breite Ablehnung dieser „Reform von oben“; Differenzen bestehen derzeit hinsichtlich der einzuschlagenden Kampftaktik und der Ziele des Kampfes.
Während die einen verhandeln wollen über mögliche akzeptable kleine oder auch weniger kleine Verschlechterungen, ist sich ein relativ großer Teil der Streikenden der Tatsache bewusst, dass die „Reform von oben" nur durch radikale Streiks und andere Aktionsformen verhindert werden kann, die gerade von unten, von der Basis angenommen, diskutiert und praktisch umgesetzt werden müssen. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, ob es gelingt, die Spaltungslinie der Regierung, die versucht, Privilegierte des öffentlichen Diensts und benachteiligte Beschäftigte des privaten Sektors gegeneinander auszuspielen, durch die offensive Orientierung auf die Angleichung nach oben auszubremsen.
Genau darin liegt auch der wesentliche Unterschied zwischen den beteiligten Gewerkschaften – einige, wie die Sud-Rail und Teile der CGT – versuchen, auf der Linie der „Angleichung nach oben" die gesellschaftliche Solidarität zu organisieren, während andere – wie die CFDT – im Prinzip einer Reform der Rentengesetze zustimmen würden, wenn sie diese nur mitgestalten dürfen. Die CFDT hatte sich schon 1995 für die damals gescheiterte Reform stark gemacht.
Was wir für uns wollen, das wollen wir für alle
Foto: Fr@nçois Lafite
Streik auch bei Air France
Auf jeden Fall wird es spannend. Das soziale Klima verändert sich. Für Mitte November sind jetzt schon weitere Streiks im Erziehungssektor gegen die dortigen Personalkürzungen angekündigt und seit einigen Tagen streikt das Flugpersonal der Air France. Auch hier ist die Beteiligung an den Aktionen sehr hoch. Die Streikenden fordern Lohnerhöhungen sowie größere zeitliche Abstände zwischen den Flugeinsätzen. Ihre Forderungen ähneln denen der Lokführer hier in der BRD. Auch bei diesem Streik handeln die bei der Air France aktiven Gewerkschaften gemeinsam.
Für den politischen Massenstreik
Sarkozy braucht den Erfolg. Ein Zurückweichen vor den Forderungen der EisenbahnerInnen wäre die erste schwere Niederlage seiner Regierung. Deren Hoffnung richtet sich sicherlich auf einzelne Gewerkschaftszentralen, die bereit sind, in einen Verhandlungsprozess zur Verschlechterung der bestehenden Gesetze einzutreten. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, sich eine Dynamik von unten entfalten zu lassen, die Grundlagen schafft für den politischen Massenstreik.
Klar ist, dass der Geist von 1995 erwacht ist! Mal sehen, was sich daraus entwickelt! (YH)
Online-Flyer Nr. 119 vom 31.10.2007