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Aktueller Online-Flyer vom 21. November 2024  

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Literatur
Interview mit dem Lyriker und Herausgeber Axel Kutsch
Die lyrische Lage der Republik
Von Gerrit Wustmann

Lyrik ist nicht mehr zeitgemäß? Falsch! Die vielleicht älteste Literaturgattung erfährt gerade, auch durch viele Neuveröffentlichungen bei kleinen Verlagen, eine bemerkenswerte Renaissance. Über generationelle Unterschiede zwischen den Lyrikern und warum Poesie immer noch in der zweiten Reihe im Bücherregal großer Verlagshäuser steht, unterhält sich Gerrit Wustmann mit dem Lyriker und Herausgeber der Anthologie „Versnetze“, Axel Kutsch.


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Moderne Lyrik sieht ganz anders aus...
Foto: www.JenaFoto24.de
| Quelle: pixelio.de

Herr Kutsch, in den Jahren seit der Jahrtausendwende, die Sie mit der Anthologie „Unterwegs ins Offene“ einleiteten, haben Sie mehrere Themenanthologien herausgegeben, darunter Kurzlyrik, Stadtlyrik, Justizlyrik, Zeitlyrik. Mit Ihrem neuen Buch, das in diesen Tagen erscheint („Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik“), wagen Sie sich an ein Übersichtswerk der deutschen Gegenwartslyrik. Wollen Sie Carl Otto Conrady Konkurrenz machen?


Axel Kutsch
Axel Kutsch              
Nein, das ist nicht meine Absicht. Die fast schon legendäre Anthologie „Der neue Conrady“, in der auch ich mit drei Gedichten vertreten bin, gibt einen Überblick über die deutschsprachige Poesie von den althochdeutschen „Merseburger Zaubersprüchen“ bis in die Gegenwart. In „Versnetze“ werden nur Autorinnen und Autoren unserer Tage veröffentlicht Ingesamt sind es 200. Einige von ihnen sind auch im „Neuen Conrady“ publiziert worden. Da ich in meiner 328 Seiten umfassenden Anthologie ausschließlich heutige Lyriker aus dem deutschen Sprachraum, also auch aus Österreich und der Schweiz, mit neuen Gedichten vorstelle, kann ich ein breiter gefächertes Bild unserer aktuellen Poesie vermitteln. Ich betrachte „Versnetze“ keineswegs als Konkurrenz zur Conrady-Anthologie, sondern als Ergänzung. Der Idealfall wäre es, wenn sich Leser mit beiden Büchern beschäftigen würden.

Seit einigen Jahren ist ein verstärktes Interesse des Mainstream-Feuilletons an zeitgenössischer deutscher Lyrik zu beobachten. Neue Kleinverlage wie „kookbooks“ oder „yedermann“ und Literaturzeitschriften, in denen vor allem junge Poeten veröffentlicht werden, sorgen für eine Belebung der Lyrikszene. Dazu kommen Poetry-Slams, die manchmal hunderte von Zuschauern anlocken. Blüht das Interesse an Lyrik wieder auf?

Bei den Slams werden oft Texte vorgetragen, die sich kaum für eine Veröffentlichung in Büchern eignen. Hier wird ein legitimes Spaßbedürfnis des Publikums bedient. Zu einer gewissen Blüte haben vielmehr zahlreiche bemerkenswerte Talente beigetragen, deren Gedichtbände nach 2000 erschienen sind – meistens in kleineren Verlagen. Dabei sollte man allerdings nicht übersehen, dass die deutschsprachige Poesie der Gegenwart auch von Verfassern geprägt wird, die bereits seit Jahrzehnten Gedichte veröffentlichen.

In „Versnetze“ bieten Sie quer durch die Generationen und Regionen einen Überblick über Inhalte, Formen und Schreibweisen unserer Dichtung gegen Ende dieses Jahrzehnts. Die jüngsten Autoren sind 25 Jahre alt – etwa das Ausnahmetalent Ann Cotten, der älteste, „Akzente“-Mitbegründer Hans Bender, wurde 1919 geboren. Ein weites Feld...

Ob 25 oder 88 – entscheidend ist für mich die Qualität der Texte. Betrachtet man die Vielfalt heutiger lyrischer Schreibweisen und Formen, kann man tatsächlich von einem weiten Feld sprechen, das von Dichtern aller Altersgruppen „beackert“ wird. In meiner neuen Anthologie haben preisgekrönte neue Lyriker wie Nico Bleutge, Ann Cotten oder Ron Winkler ebenso ihren Platz wie längst etablierte Autoren – beispielsweise Ulla Hahn, Franz Hodjak, Günter Kunert und Martin Walser. Ich finde gerade die Vernetzung der Generationen spannend. Und dabei wird man feststellen, dass die Poesie älterer Jahrgänge genau so frisch und anregend ist wie die junger Talente.

Sie haben Ihre Anthologie in regionale Kapitel eingeteilt – vom Osten über den Norden, Westen, Südwesten bis in den Süden, wobei geographische Schwerpunkte zu erkennen sind, vor allem Berlin und Köln. Sind beide Großstädte die Hochburgen der neuen deutschen Lyrik?

Seit einigen Jahren zieht es viele junge Schriftsteller in die Hauptstadt. Diese Berlin-Zentrierung spiegelt sich in „Versnetze“ wider – ebenso die lebhafte literarische Szene Kölns. Aber auch zahlreiche Schriftsteller aus Frankfurt, Hamburg, Leipzig und München sind in meiner Anthologie vertreten, dazu Autoren, die in kleineren Städten oder auf dem platten Land leben. Nennenswerte Poesie entsteht nicht nur in den Metropolen.

Im Vorwort schreiben Sie, dass ein gemeinsamer Schreibansatz einer großen Anzahl von Lyrikern wie noch zu Zeiten der Neuen Subjektivität in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Alltagsparlando in den Gedichtbänden dominierte, nicht mehr zuerkennen sei. Kommt es da nicht zu einer gewissen Beliebigkeit?

Thomas Kling
Thomas Kling                 
Nein. Gerade die Vielfalt der Stimmen von leicht verständlicher Diktion über hermetisch verschlüsselte Schreibweisen bis hin zu einer heftigen, nicht gerade dudenkonformen Sprache, die den Einfluss des viel zu früh verstorbenen Neutöners Thomas Kling erkennen lässt, verleiht der deutschsprachigen Lyrik der Gegenwart eine spannende Vitalität, von der man sich in „Versnetze“ überzeugen kann.

Da sprechen Sie einen der letzten wirklich großen Namen der deutschen Lyrik an – Thomas Kling. Wenn man in die Siebziger zurückschaut, da denkt man auch an Brinkmann, Fauser, Wondratschek, eine Szene junger Popliteraten, die ganz eigene Stile geprägt und, beeinflusst von Bukowski, Ferlinghetti, Ginsberg und Co, sehr nah am Leben geschrieben haben. Seit damals gab es keine so präsente und überzeugende junge Lyrikszene mehr, wie heute. Aber den heutigen Jungautoren wird immer wieder vorgeworfen, sie schrieben „Germanistenliteratur“ – eine Generation, die nichts zu sagen hat, weil sie nichts erlebt hat?

Die meisten Lyriker, die seit der Jahrtausendwende mit ihren Veröffentlichungen auf sich aufmerksam gemacht haben, verfügen über akademische Bildung. Ein Teil von ihnen hat am Literaturinstitut in Leipzig studiert. Aber kann man ihnen zum Vorwurf machen, dass sie gelehrt sind und sich bestens mit den literarischen Traditionen auskennen, was man manchem ihrer Texte anmerkt? Die herausragenden Talente haben ihre eigene, oft artistische Diktion entwickelt. Und wenn man genau hinschaut, wird man erkennen, dass auch sie in ihren Gedichten die Realität keineswegs aussparen – wenn sie auch nicht so nah am Leben schreiben wie beispielsweise Jörg Fauser oder das ungestüme Genie Rolf Dieter Brinkmann. Nebenbei: Genies sind knapp. Das war schon immer so.

„Versnetze“ erscheint im Verlag Ralf Liebe (Weilerswist), einem zwar renommierten, aber sehr kleinen Verlag. Blickt man sich in der Gegenwartslyrik um, so fällt auf, dass dies nirgendwo anders ist. Die großen Publikumsverlage haben im letzten Jahrzehnt fast gänzlich ihre Lyrikreihen eingestellt. Nur wenige Mutige – Hanser etwa, und natürlich Suhrkamp – machen weiter, allerdings auch selten ohne Förderungen. Ist Lyrik ein intellektuelles Nischenprodukt, das sich wirtschaftlich nicht mehr lohnt?

Lyrik hat sich in dieser Hinsicht selten gelohnt – weder für die Verlage noch für die Autoren. Nachdem er fünfzehn Jahre lang vorwiegend Gedichte veröffentlicht hatte, rechnete Gottfried Benn 1930 einmal nach, was er bis dahin mit seiner Literatur verdient hatte. Er kam auf vier Mark fünfzig pro Monat. Die Situation ist heute kaum anders. Sieht man einmal von Ausnahmen wie Robert Gernhardt und davor Erich Fried ab, so ist Lyrik nach wie vor die Literaturgattung der kleinen Auflagen. Obwohl sich mit Poesie bestenfalls spärliche Gewinne erwirtschaften lassen, waren die großen Verlage früher jedoch eher bereit, Gedichtbände zu veröffentlichen. Das Geld wurde mit Romanen verdient, Lyrik am Rande gepflegt – immerhin. Das hat sich in unserer Zeit des Turbo-Kapitalismus weitgehend geändert. Gedichte sind nicht profitträchtig genug, also verzichtet man in den meisten großen Häusern darauf. Lyrik wird heute in erster Linie in Kleinverlagen veröffentlicht – eine oft selbstausbeuterische Angelegenheit von „Überzeugungstätern“, deren Zahl in den vergangenen Jahren gewachsen ist. Mit ihrem Engagement haben sie maßgeblichen Anteil daran, dass man wieder von einer Blüte in der deutschsprachigen Poesie reden kann. Allerdings sollte man sich nichts vormachen: Die breite Öffentlichkeit nimmt keine Notiz davon.

Im Grunde eine traurige Entwicklung. Sie selbst haben zahlreiche Anthologien herausgegeben und auch eigene Lyrikbände publiziert – zuletzt 2005 „Ikarus fährt Omnibus“ (Landpresse Verlag), das bei der Kritik sehr gut ankam. Ist es da nicht mitunter auch frustrierend, zu wissen, dass man nur einen sehr kleinen Leserkreis erreicht?

Wer sich als Autor und Herausgeber ausschließlich der Lyrik widmet, muss schon fahrlässig naiv sein, wenn er mit einem großen Publikum rechnet. Auch Rezensionen in überregionalen Zeitungen tragen kaum dazu bei, dass mehr Gedichtbände verkauft werden. Das Interesse an Poesie ist minimal. Daran dürfte auch die momentane Blüte nichts ändern, die ja fast ausschließlich von Insidern wahrgenommen wird. Hans Magnus Enzensberger schrieb vor einiger Zeit, dass es in Deutschland 1354 intensive Lyrikleser gebe – und die kaufen bei weitem nicht jede Neuerscheinung. Thomas Kling hat deren Anzahl kurz danach sogar auf 300 heruntergerechnet. Fazit dieser durchaus realistischen Zahlenspielereien: Man kann nicht ansatzweise von Lyrik leben, aber man kann wunderbar mit Lyrik leben. Da ich das schon vor vielen Jahren verinnerlicht habe, ist mir Frustration erspart geblieben. Im Gegensatz zu Herrn Benn. Nachdem er 1930 sein karges monatliches Einkommen aus literarischen Veröffentlichungen ausgerechnet hatte, teilte er einem Freund mit, dass er nichts mehr schreibe, weil ihn nur ein sehr kleiner Kreis lese. Er hat dann doch weiter geschrieben und seine Brötchen als Arzt verdient.

Herr Kutsch, ich danke Ihnen für das Gespräch.

    „Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik“

    Verlag Ralf Liebe
    320 Seiten, 20 Euro
    ISBN: 978-3-935221-86-3



Axel KutschAxel Kutsch verbrachte seine Kindheit und Jugend in Stolberg/Rhld. und Aachen. Von 1969 bis 1999 war er bei verschiedenen Tageszeitungen als Redakteur tätig. Er veröffentlichte bis 2006 elf Gedichtbände und edierte Lyrikanthologien, u.a. 47 & 11. Echt Kölnisch Lyrik und Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik. Außerdem hat Axel Kutsch regionale Rhein-Erft-Kreis-Lesebücher herausgegeben. Axel Kutsch lebt heute in Bergheim/Erft. (CH)


Was Gedichte dürfen

Von Axel Kutsch

In diesem Gedicht sehen Sie
einen Eisberg versinken
und die Passagiere der Titanic
auf den Untergang trinken.

Nach der Ankunft erzählen sie
ihren Verwandten froh:
Stellt euch vor, wir reisten mit
Kate Winslet und Leonardo DiCaprio.

Doch die Verwandten
fragen sichtlich betroffen:
Ihr seid hier in New York
und nicht abgesoffen?

So ist es, wenn Eisberge
im Wege steh'n:
In Gedichten läßt
man sie untergeh'n.







Online-Flyer Nr. 121  vom 14.11.2007



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