SUCHE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Medien
Walter van Rossum schaltet die „Tagesshow“ ab
Instant-Weltordnung, unergründlich
Von Hans-Detlev v. Kirchbach
Walter van Rossum
Quelle: ww.siwikultur.de
Walter van Rossum heißt der Utopist,
der sich zu solchem Unterfangen erkühnt.
„Die Tagesshow – wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht“ – so betitelte der zugegebenermaßen hochprofessionelle Miesmacher, der uns schon Sabine Christiansen ausgetrieben hat, dieses sein neues, und noch viel ehrgeizigeres, Entzugs-Exerzitium.
Der Christiansen-Exorzismus war scheint's
nur eine bedachte Vorübung zu dem eigent- lichen Rossumschen Lebenswerk. Zertrüm- mern will er wohl die Trinität der wichtigsten deutschen Heiligtümer: Fußball, Bildzeitung und Tagesschau, nach dem Prinzip der Dreieinigkeit: Trifft man eines, trifft man alle. Das Aufräumen im deutschen Pantheon hat kaum begonnen, und schon hört man allerorten das Auf- heulen der öffentlich-rechtlichen und überhaupt abendländischen Gralshüter. Die schnell begriffen haben: Hier wird an den Grundfesten aller Ordnung die Axt angelegt. Doch wird das ein hartes Stück Arbeit werden, mit dem verglichen sich der steinrollende Sisyphos ein geradezu gemütliches Hobby ausgesucht hat.
„Meine Sonntage mit Sabine Christiansen“
Leider beim Verlag vergriffen
Narkotisierendes Gewißheits-Ritual
Denn eher wird der Papst evangelisch und Schäuble gar noch ein Demokrat, als daß es wirklich gelingen könnte, dem um zehn Millionen Menschen zählenden harten Kern der Sinn und Ergötzung suchenden Tagesshow-Gemeinde sein fast schon vegetatives 20-Uhr-Ritual auszutreiben. Es ist vielleicht eine der stärksten Drogen, die in Deutschland legal und, abgesehen von der GEZ-Gebühr, gratis zu haben ist. Dieses Halluzinogen gaukelt vor, live dabei zu sein, wenn Bedeutungsvollstes geschieht und versetzt zugleich in jene halbschläfrige Benommenheit, die sich ab 20 Uhr in deutschen Wohn- und Fernsehzimmern unvermeidlich einstellt. Daß dieser Zustand in Wirklichkeit ein Abschalten von der real existierenden Welt signalisiere statt des von den Tagesshow-MacherInnen behaupteten „Fitmachens“ für die Bewältigung eben jener, versucht der unermüdliche Aufklärer van Rossum dem nach seinem Befund hinters Licht geführten Publikum beizubringen.
Doch ist der normale Fernsehjunkie nach Einnehmen der Gewohnheits-Dosis Tagesshow-Narkose für solche Alarmierung kaum mehr zugänglich. Darum wollen wir Ihnen, meine Damen und Herren, Walter van Rossums Warnung rechtzeitig vor Beginn der alltäglichen Tagesshow-Hypnose zukommen lassen. Allerdings nur, um die Schockwirkung in Grenzen zu halten, als Probierration in sechs Schlückchen. Denn die 8 Euro 95, die Rossums ganzes Buch kostet, sollte Ihnen ein heilsamer Drogenentzug schon selber wert sein.
Mir hat die Investition dieses zurückhaltenden Betrages geholfen zu begreifen, was mir seit etwa 1960, sehr vorsichtig geschätzt, mindestens 180.000 Lebensminuten, also immerhin ein gutes halbes Jahr, ergo ca. 1,1 Prozent meiner ablaufenden Lebenszeit, wert war. Wenngleich auch die 20-Uhr-Gewohnheit in den letzten zehn Jahren auf etwa 20 Prozent im Vergleich zur ursprünglichen Tagesshow-Sucht zurückgefallen ist. Ganz aber kann man einfach nicht davon lassen. Manche leiden wirklich unter ihren Rückfällen, und es wäre vielleicht angebracht, eine bundesweite Selbsthilfeorganisation von Tagesshow-Dependenten zu gründen: „Ich heiße Gabi und ich bin Tagesshowloholikerin.“
Initiationsritus Tagesshow
Doch Regressionserscheinungen sind kaum vermeidbar, denn wenigstens die 1950er bis 1970er Jahrgänge sind ja mit der „Tagesshow“ aufgewachsen, haben sie eingesogen quasi als Muttermilch jeglicher Information. Und als Zeitmaß für rituelle Wiederholungszyklen, aber auch als Scheidelinie zwischen „Ab ins Bett“ und Erwachsensein. Für mich müßte die Tagesschau nach wie vor schwarz-weiß ausgestrahlt werden, dann wäre die Regression vollkommen. Ich denke wieder an Tante D. im Bayrischen, um 1880 geboren, die das gute Zimmer jeden Tag rechtzeitig vor 20 Uhr von der Hausange- stellten aufräumen ließ. Denn sie fand, der „nette Herr Köpcke“ habe ein „anständiges Zimmer“ verdient. Diese Vorstellung von zweiwegiger Kommunikation war geradezu visionär, wenn auch heute nicht mehr der sympathische Herr Köpcke in die gute Stube blickt, sondern der ätzende Herr Schäuble durch heimlichen Lauschangriff und Online-Durchsuchung.
Wenn alles ordentlich war, dann dröhnte – dröhnte, denn Tantes Hörgerät tat es nicht so gut – die berühmte Fanfare – „Leinen los“ – aus der Ebenholztruhe, damals noch mit vollem Orchester: daa – daa – dadada – daah! Kein Musikzitat aus klassischem deutschen Repertoire ist wohl unauslöschlicher in Gehör und Gehirn von Millionen eingebrannt als dieser kollektive Sammelruf zur Entgegennahme offiziöser Belehrung. Ausgenommen höchstens Beethovens Eingangshammer zur 5. Sinfonie: dadada daah! Doch Beethovens 5. war nur eine Vorübung zur Tagesschau-Fanfare, der eigentlichen deutschen Schicksalsmelodie.
Kritisch sehen lernen
So nahm man immerhin schon von Kindesbeinen irgendwie teil am Zeitgeschehen, das damals begann, aus der Glotze zu kommen so wie der Strom aus der Steckdose. Man hörte von der Mauer und vom bösen Spitzbart und sah Tränen laufen, als Kennedy, der Präsident von Amerika, ermordet wurde. Von den Roten, wie es im Familienkreise hieß, wer immer die auch sein mochten. Wenige Jahre später war wieder eitel Trauer angesagt, da ein viel älterer Mann verstorben war, unser aller Ur-Opa Konrad Adenauer. Im Internat wurde gemeinschaftliches Antreten im Fernsehraum angeordnet, Stille geboten, und nach der Tagesschau-Zeremonie mit Trauermusik und Grabesstimmenkommentar war Erheben und Gebet befohlen. Wenige Wochen später floß wieder Blut, doch keine Träne. Es war der 2. Juni 1967, und der beliebte Kaiser von Persien weilte in Berlin, zusammen mit seiner noch beliebteren Shahbanu. Doch einige pöbelnde Gestalten, darunter, so hieß es zuhause und in der Nachbarschaft, langhaariges Gesindel, randalierten gegen den Shah. Einer wurde erschossen, und darüber regte sich Onkel P. am nächsten oder übernächsten Tag bei der Tagesschau sehr auf. Des Getues und Geweses wegen nämlich, daß da um den „Lumpen“ gemacht werde. Benno Ohnesorg reichte Onkel P. noch nicht: Man hätte auf das Pack draufhalten sollen, bis Ruhe gewesen wäre. Doch da war der Rezensent schon 14 Jahre alt und löste den kompletten Familienzank mit der Bemerkung aus, das wäre doch wohl Massenmord.
Ja, es konnte einem bei der Tagesschau, direkt oder im Rückblick, schon manches Licht aufgehen. Aber oft doch ein solches, das einem die Tagesschau-Macher selbst gar nicht unbedingt aufstecken wollten. Und oft auch war, was sich vor dem Fernsehschirm als Reaktion auf die Nachrichten abspielte, lehrreicher als die Nachricht selber. Das zu begreifen hieß, die Tagesschau zunehmend gegen den offiziösen Verlautbarungstenor zu sehen.
Das Bestehende als Norm der Objektivität
Das auch kann man bei Rossum lernen: Nur wer versucht, das heraus zu hören, was hinter dem gravitätischen Gebrabbel, den halbamtlichen Sprachregelungen, den Selbstinszenierungen der Mächtigen und Eingebildeten jeweils stecken mag, wer die Ereignisse und Pseudoereignisse der schematisierten Nachrichtenwelt auf ihren Realgehalt hin abklopft, wird etwas von der „Tagesshow“ haben.
Denn die rituelle Aufführung des gesamten Welttheaters in 15 Minuten behindert das Verständnis der realen Welt, laut Rossum, nicht zuletzt durch ihre Wichtignahme offizieller Wichtig-Tuerei. Hingegen wird, was nicht amtlich dahergockeln kann oder mindestens die Polizei auf den Plan ruft, in den Orkus der Irrelevanz verbannt. Da haben, beispielsweise nur, die Acker- und die Bertelsmänner natürlich weitaus bessere Karten als ihre montags gegen Hartz IV demonstrierenden Opfer. Show-Chefredakteur Gniffke, einst bei Iring Fetscher promoviert, definiert nämlich „Relevanz“ u.a. folgendermaßen: „Sind die Leute, die da agieren, so einflußreich, daß es eine große Bedeutung für ein Land oder für eine Bevölkerung bekommen könnte?“ Was in diesem Sinne nicht vorkommt, ist in solcher Weltsicht eben nur „irrelevante“ Verschiebemasse für die großen Schachspieler.
Beihilfe zur Emanzipation
Walter van Rossum reißt aber die Blendkulissen der Machtgaukeleien gnadenlos nieder. Seine Aufklärung kann freilich auch verstören. Für Nicht-Rossumianer bleibt nämlich die Welt, wie sie sich im Halbblindspiegel der „Tagesshow“ reduziert, heute gerade in ihrer Unbegreiflichkeit immer noch so schön übersichtlich wie zu Köpckes frühen Zeiten. Denn, so beruhigt der halbamtliche Verkündigungsgestus unterschwellig: Es gibt ja diejenigen, die sie für uns im Griff haben, diese unbegreifliche Welt. So können wir uns doch behaglich zurücklehnen und darauf verzichten, uns die Welt anzueignen, geschweige denn, sie handfest zu verändern.
Die Rossum-infizierte Teilmenschheit muß allerdings hinfort ohne diesen existentiellen Anker auskommen, wenn sie sich vom Autor zu hedonistisch-unordentlichem Lebenswandel verleiten läßt. Sie haben die Wahl, meine Damen und Herren. Entweder um 20 Uhr wieder brav den Einschaltknopf drücken oder, verführt durch Walter van Rossum, aus der ewig feststehenden Ordnung der Welt ausbrechen. Guten Abend.
Die Tagesshow-Serie von Walter van Rossum beginnt in der nächsten NRhZ. (PK)
Online-Flyer Nr. 122 vom 21.11.2007
Walter van Rossum schaltet die „Tagesshow“ ab
Instant-Weltordnung, unergründlich
Von Hans-Detlev v. Kirchbach
Walter van Rossum
Quelle: ww.siwikultur.de
der sich zu solchem Unterfangen erkühnt.
„Die Tagesshow – wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht“ – so betitelte der zugegebenermaßen hochprofessionelle Miesmacher, der uns schon Sabine Christiansen ausgetrieben hat, dieses sein neues, und noch viel ehrgeizigeres, Entzugs-Exerzitium.
Der Christiansen-Exorzismus war scheint's
nur eine bedachte Vorübung zu dem eigent- lichen Rossumschen Lebenswerk. Zertrüm- mern will er wohl die Trinität der wichtigsten deutschen Heiligtümer: Fußball, Bildzeitung und Tagesschau, nach dem Prinzip der Dreieinigkeit: Trifft man eines, trifft man alle. Das Aufräumen im deutschen Pantheon hat kaum begonnen, und schon hört man allerorten das Auf- heulen der öffentlich-rechtlichen und überhaupt abendländischen Gralshüter. Die schnell begriffen haben: Hier wird an den Grundfesten aller Ordnung die Axt angelegt. Doch wird das ein hartes Stück Arbeit werden, mit dem verglichen sich der steinrollende Sisyphos ein geradezu gemütliches Hobby ausgesucht hat.
„Meine Sonntage mit Sabine Christiansen“
Leider beim Verlag vergriffen
Narkotisierendes Gewißheits-Ritual
Denn eher wird der Papst evangelisch und Schäuble gar noch ein Demokrat, als daß es wirklich gelingen könnte, dem um zehn Millionen Menschen zählenden harten Kern der Sinn und Ergötzung suchenden Tagesshow-Gemeinde sein fast schon vegetatives 20-Uhr-Ritual auszutreiben. Es ist vielleicht eine der stärksten Drogen, die in Deutschland legal und, abgesehen von der GEZ-Gebühr, gratis zu haben ist. Dieses Halluzinogen gaukelt vor, live dabei zu sein, wenn Bedeutungsvollstes geschieht und versetzt zugleich in jene halbschläfrige Benommenheit, die sich ab 20 Uhr in deutschen Wohn- und Fernsehzimmern unvermeidlich einstellt. Daß dieser Zustand in Wirklichkeit ein Abschalten von der real existierenden Welt signalisiere statt des von den Tagesshow-MacherInnen behaupteten „Fitmachens“ für die Bewältigung eben jener, versucht der unermüdliche Aufklärer van Rossum dem nach seinem Befund hinters Licht geführten Publikum beizubringen.
Doch ist der normale Fernsehjunkie nach Einnehmen der Gewohnheits-Dosis Tagesshow-Narkose für solche Alarmierung kaum mehr zugänglich. Darum wollen wir Ihnen, meine Damen und Herren, Walter van Rossums Warnung rechtzeitig vor Beginn der alltäglichen Tagesshow-Hypnose zukommen lassen. Allerdings nur, um die Schockwirkung in Grenzen zu halten, als Probierration in sechs Schlückchen. Denn die 8 Euro 95, die Rossums ganzes Buch kostet, sollte Ihnen ein heilsamer Drogenentzug schon selber wert sein.
Mir hat die Investition dieses zurückhaltenden Betrages geholfen zu begreifen, was mir seit etwa 1960, sehr vorsichtig geschätzt, mindestens 180.000 Lebensminuten, also immerhin ein gutes halbes Jahr, ergo ca. 1,1 Prozent meiner ablaufenden Lebenszeit, wert war. Wenngleich auch die 20-Uhr-Gewohnheit in den letzten zehn Jahren auf etwa 20 Prozent im Vergleich zur ursprünglichen Tagesshow-Sucht zurückgefallen ist. Ganz aber kann man einfach nicht davon lassen. Manche leiden wirklich unter ihren Rückfällen, und es wäre vielleicht angebracht, eine bundesweite Selbsthilfeorganisation von Tagesshow-Dependenten zu gründen: „Ich heiße Gabi und ich bin Tagesshowloholikerin.“
Initiationsritus Tagesshow
Doch Regressionserscheinungen sind kaum vermeidbar, denn wenigstens die 1950er bis 1970er Jahrgänge sind ja mit der „Tagesshow“ aufgewachsen, haben sie eingesogen quasi als Muttermilch jeglicher Information. Und als Zeitmaß für rituelle Wiederholungszyklen, aber auch als Scheidelinie zwischen „Ab ins Bett“ und Erwachsensein. Für mich müßte die Tagesschau nach wie vor schwarz-weiß ausgestrahlt werden, dann wäre die Regression vollkommen. Ich denke wieder an Tante D. im Bayrischen, um 1880 geboren, die das gute Zimmer jeden Tag rechtzeitig vor 20 Uhr von der Hausange- stellten aufräumen ließ. Denn sie fand, der „nette Herr Köpcke“ habe ein „anständiges Zimmer“ verdient. Diese Vorstellung von zweiwegiger Kommunikation war geradezu visionär, wenn auch heute nicht mehr der sympathische Herr Köpcke in die gute Stube blickt, sondern der ätzende Herr Schäuble durch heimlichen Lauschangriff und Online-Durchsuchung.
Wenn alles ordentlich war, dann dröhnte – dröhnte, denn Tantes Hörgerät tat es nicht so gut – die berühmte Fanfare – „Leinen los“ – aus der Ebenholztruhe, damals noch mit vollem Orchester: daa – daa – dadada – daah! Kein Musikzitat aus klassischem deutschen Repertoire ist wohl unauslöschlicher in Gehör und Gehirn von Millionen eingebrannt als dieser kollektive Sammelruf zur Entgegennahme offiziöser Belehrung. Ausgenommen höchstens Beethovens Eingangshammer zur 5. Sinfonie: dadada daah! Doch Beethovens 5. war nur eine Vorübung zur Tagesschau-Fanfare, der eigentlichen deutschen Schicksalsmelodie.
Kritisch sehen lernen
So nahm man immerhin schon von Kindesbeinen irgendwie teil am Zeitgeschehen, das damals begann, aus der Glotze zu kommen so wie der Strom aus der Steckdose. Man hörte von der Mauer und vom bösen Spitzbart und sah Tränen laufen, als Kennedy, der Präsident von Amerika, ermordet wurde. Von den Roten, wie es im Familienkreise hieß, wer immer die auch sein mochten. Wenige Jahre später war wieder eitel Trauer angesagt, da ein viel älterer Mann verstorben war, unser aller Ur-Opa Konrad Adenauer. Im Internat wurde gemeinschaftliches Antreten im Fernsehraum angeordnet, Stille geboten, und nach der Tagesschau-Zeremonie mit Trauermusik und Grabesstimmenkommentar war Erheben und Gebet befohlen. Wenige Wochen später floß wieder Blut, doch keine Träne. Es war der 2. Juni 1967, und der beliebte Kaiser von Persien weilte in Berlin, zusammen mit seiner noch beliebteren Shahbanu. Doch einige pöbelnde Gestalten, darunter, so hieß es zuhause und in der Nachbarschaft, langhaariges Gesindel, randalierten gegen den Shah. Einer wurde erschossen, und darüber regte sich Onkel P. am nächsten oder übernächsten Tag bei der Tagesschau sehr auf. Des Getues und Geweses wegen nämlich, daß da um den „Lumpen“ gemacht werde. Benno Ohnesorg reichte Onkel P. noch nicht: Man hätte auf das Pack draufhalten sollen, bis Ruhe gewesen wäre. Doch da war der Rezensent schon 14 Jahre alt und löste den kompletten Familienzank mit der Bemerkung aus, das wäre doch wohl Massenmord.
Ja, es konnte einem bei der Tagesschau, direkt oder im Rückblick, schon manches Licht aufgehen. Aber oft doch ein solches, das einem die Tagesschau-Macher selbst gar nicht unbedingt aufstecken wollten. Und oft auch war, was sich vor dem Fernsehschirm als Reaktion auf die Nachrichten abspielte, lehrreicher als die Nachricht selber. Das zu begreifen hieß, die Tagesschau zunehmend gegen den offiziösen Verlautbarungstenor zu sehen.
Das Bestehende als Norm der Objektivität
Das auch kann man bei Rossum lernen: Nur wer versucht, das heraus zu hören, was hinter dem gravitätischen Gebrabbel, den halbamtlichen Sprachregelungen, den Selbstinszenierungen der Mächtigen und Eingebildeten jeweils stecken mag, wer die Ereignisse und Pseudoereignisse der schematisierten Nachrichtenwelt auf ihren Realgehalt hin abklopft, wird etwas von der „Tagesshow“ haben.
Denn die rituelle Aufführung des gesamten Welttheaters in 15 Minuten behindert das Verständnis der realen Welt, laut Rossum, nicht zuletzt durch ihre Wichtignahme offizieller Wichtig-Tuerei. Hingegen wird, was nicht amtlich dahergockeln kann oder mindestens die Polizei auf den Plan ruft, in den Orkus der Irrelevanz verbannt. Da haben, beispielsweise nur, die Acker- und die Bertelsmänner natürlich weitaus bessere Karten als ihre montags gegen Hartz IV demonstrierenden Opfer. Show-Chefredakteur Gniffke, einst bei Iring Fetscher promoviert, definiert nämlich „Relevanz“ u.a. folgendermaßen: „Sind die Leute, die da agieren, so einflußreich, daß es eine große Bedeutung für ein Land oder für eine Bevölkerung bekommen könnte?“ Was in diesem Sinne nicht vorkommt, ist in solcher Weltsicht eben nur „irrelevante“ Verschiebemasse für die großen Schachspieler.
Beihilfe zur Emanzipation
Walter van Rossum reißt aber die Blendkulissen der Machtgaukeleien gnadenlos nieder. Seine Aufklärung kann freilich auch verstören. Für Nicht-Rossumianer bleibt nämlich die Welt, wie sie sich im Halbblindspiegel der „Tagesshow“ reduziert, heute gerade in ihrer Unbegreiflichkeit immer noch so schön übersichtlich wie zu Köpckes frühen Zeiten. Denn, so beruhigt der halbamtliche Verkündigungsgestus unterschwellig: Es gibt ja diejenigen, die sie für uns im Griff haben, diese unbegreifliche Welt. So können wir uns doch behaglich zurücklehnen und darauf verzichten, uns die Welt anzueignen, geschweige denn, sie handfest zu verändern.
Die Rossum-infizierte Teilmenschheit muß allerdings hinfort ohne diesen existentiellen Anker auskommen, wenn sie sich vom Autor zu hedonistisch-unordentlichem Lebenswandel verleiten läßt. Sie haben die Wahl, meine Damen und Herren. Entweder um 20 Uhr wieder brav den Einschaltknopf drücken oder, verführt durch Walter van Rossum, aus der ewig feststehenden Ordnung der Welt ausbrechen. Guten Abend.
Die Tagesshow-Serie von Walter van Rossum beginnt in der nächsten NRhZ. (PK)
Online-Flyer Nr. 122 vom 21.11.2007