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Feiern Sie doch auch einmal wieder Weihnachten im Seniorenheim
Der zweite Feiertag
Von Christian Heinrici
Am ersten Advent schickt sie uns nochmal ein Erinnerungskärtchen samt selbstgestrickter Strümpfe. Traditionell stellen wir die Strümpfe, (keiner von uns trägt Schuhgröße 47) zu Nikolaus bei den Nachbarn vor die Türe – gefüllt mit Leckerein, die wir in Köln beim Rosenmontagszug ergattert haben.
Foto: Matthias Bozek | Quelle: pixelio.de
Am 26. kommen wir dann mit der kompletten Kernfamilie angestiefelt – sogar die unterbezahlten Pflegekräfte im Heim grüßen und grinsen an diesem Tag freundlich. Höchstwahrscheinlich weil sie sich ein fettes Feiertagstrinkgeld erhoffen. Tatsächlich müffelt es nicht ganz so wie sonst in dem Pflegeheim, diesmal vielmehr nach einer Mischung aus frischen Tannenzweigen, Weihnachtsgebäck und nur ein wenig Desinfektionsmittel.
Wie jedes Jahr stehen wir dann um den kleinen Plastikweihnachtsbaum herum und unsere Oma erzählt von den Bombennächten im Krieg, von Weihnachten 44, als es Fliegerangriffe auf Köln gab, aber man sich trotzdem froh um das letzte Glas eingemachter rote Beete versammelt hatte. Während sie die Geschichte zum 538. Mal erzählt, schauen die Urenkel verträumt zu, was aber vielmehr daran liegt, dass sie ihre Ohren vorher sicherheitshalber mit dem neusten mp3-Player verdrahtet haben. Damit sind sie mindestens genauso schwerhörig wie Oma – wie sich die Generationen doch gleichen!
Aber dann kommt der kritische Moment: Oma bittet ihre Enkel, tatsächlich sind es ihre Urenkel, denn ihre Enkel sind ja wir, und ihre Kinder hat sie längst überlebt, aber das ist der alten Dame nicht mehr beizubringen – sie bittet also ihre „Enkel“, ein Gedicht aufzusagen oder ein Weihnachtslied zu singen. Die sind zwar fast schon wieder aus der Pubertät raus, aber das einzige, was bei denen in Punkto Lyrik angesagt ist, sind Verse von amerikanischen Gangsterrappern. Und sowieso ist das alles schon peinlich genug, jetzt sollen sie auch noch singen...! Schon wieder!, so wie letztes Jahr! Bäh!
Vielleicht könnten wir ja versuchen, der alten Dame gut zuzureden... aber da kennen Sie unsere Oma nicht! Wenn die sich einmal etwas in ihren Kopf gesetzt hat, ist es trotz zunehmender Vergesslichkeit dort durch nichts mehr wieder herauszukriegen. Nein, Weihnachten ohne zu singen ist kein Weihnachten! Also es gibt wie jedes Jahr eine kleine Szene, man gießt Oma noch ein Gläschen Likör ein und Mami hält derweil vor der Türe Kriegsrat mit der Kernfamilie. Was sollen wir nur machen?! Sind Weihnachten und Oma noch zu retten?
Da gibt es nur eins: Singen wir uns doch den ganzen Frust vom letzten Jahr – den Weihnachtsstress inklusive – mal vom Leib. Oma wird den Unterschied nicht merken, da sie sowieso ziemlich schwerhörig ist.
Statt „Süßer die Glocken nie klingen“ singen wir einfach „Süßer die Kassen nie klingen“, natürlich inspiriert vom weihnachtlichen Konsumrausch, oder „Kling Münze, kling!“, und da Weihnachten morgen (hoffentlich) sowieso wieder vorbei ist: „Morgen Kinder wird’s nichts geben!“
Erstaunlich, was sich alles im Fundus der
alten Dame befindet...
Foto: Christian Steiner
Quelle: pixelio.de
Oma hört wahrscheinlich nicht mal unsere falschen Töne und Texte, denn sie klatscht begeistert in die Hände – entzückend diese Kleinen! Das habt ihr aber schön gemacht. Wir lächeln auch alle ganz brav, denn uns hat es ja wirklich Spaß gemacht. Oma bittet um einen weiteren Likör und… eine Zugabe! Uns steht der Schweiß auf der Stirn, und wir müssen uns erst mal setzen, auf das Bett ihrer Zimmergenossin, die Weihnachten unten im Speisesaal vor dem Fernseher verschläft. Jetzt können wir aber auch einen Schnaps gebrauchen. Gut, dass wir Oma dieses Jahr zwei Flaschen mitgebracht haben. Die Flasche geht reihum, und nun nehmen sogar die Kinder ihre Stöpsel aus den Ohren.
Um nicht sofort wieder ran zu müssen, bitten wir Oma noch ein paar alte Geschichten zu erzählen. Sie erzählt uns von einem Weihnachten aus den 50er Jahren, als Opa schon Wochen vorher eine Weihnachtsgans gekauft hatte, um sie selbst zu mästen, was auch hervorragend funktionierte: Die Gans bekam den Namen Emma und wurde fett und fetter. Am Ende hatte man sie natürlich viel zu lieb gewonnen, um sie dann noch schlachten zu können. Also dieses Weihnachten feierte man zeitweilig im Hühnerstall, wo das gute Tier eingesperrt war, und sang der Gans noch Weihnachtslieder vor, was jedes Jahr als Familientradition wiederholt wurde. Emma wurde 11 Jahre alt und verschied an Altersschwäche. Dass auch Gänse gut gedeihen, wenn man ihnen etwas vorsingt, ist allerdings nach wie vor nicht wissenschaftlich bewiesen.
Aber singen war das Stichwort! Oma bittet um das nächste Weihnachtslied, da ist wohl nichts zu machen. An dieser Stelle kommt traditioneller Weise „Es ist ein Ros entsprungen“. Gibt es denn ein Lied, das einfacher zu persiflieren wäre?! Oma stimmt selbst an und ich dichte frei mit „Es ist ein Spross entsprungen, aus einem Genlabor….“ und was mir gerade noch so einfällt. Dann kommt Mamis Solo bei „Reise lieselt der See, lill und larr stiegt der Schnee…“, bei dem sie einfach alle Buchstaben umdreht. Alex wundert sich über die Kreativität seiner Mutter und überlegt, ob er sie nicht zur seiner nächsten Rap-Session einladen soll. Am Ende müssen wir alle lachen, Oma, weil es ihr gefällt und wir, weil die erste Likörflasche leer ist.
Danach sitzen wir bestimmt noch zwei Stunden auf dem Zimmer. Die alte Dame gibt eine Runde nach der anderen, und jedes Jahr wundern wir uns aufs Neue, dass sie wohl einen geheimen Likörvorrat hat. Mir wird dann immer ganz flau von dem vielen Eier- und Schlehenlikör. Na ja, wir lassen das Auto dann üblicherweise stehen, und Oma bringt uns noch zur Tür. Sie hakt sich dazu bei mir unter, und ich weiß nie, wer am Ende wen stützt. Während wir aufs Taxi warten, flüstert uns die Pflegedienstleiterin noch zu, dass wir der alten Dame nicht jedes Mal so viel Alkohol geben sollen.
Ich unterdrücke meinen Schluckauf und sage, dass ja nur einmal im Jahr Weihnachten sei und denke dann bei mir: Oma hat recht, der zweite Feiertag ist der wichtigste!
Der Nachhauseweg könnte glitschig werden und der Ausblick dann so aussehen | Foto: Bernd Bast
Online-Flyer Nr. 126 vom 20.12.2007
Feiern Sie doch auch einmal wieder Weihnachten im Seniorenheim
Der zweite Feiertag
Von Christian Heinrici
Am ersten Advent schickt sie uns nochmal ein Erinnerungskärtchen samt selbstgestrickter Strümpfe. Traditionell stellen wir die Strümpfe, (keiner von uns trägt Schuhgröße 47) zu Nikolaus bei den Nachbarn vor die Türe – gefüllt mit Leckerein, die wir in Köln beim Rosenmontagszug ergattert haben.
Foto: Matthias Bozek | Quelle: pixelio.de
Am 26. kommen wir dann mit der kompletten Kernfamilie angestiefelt – sogar die unterbezahlten Pflegekräfte im Heim grüßen und grinsen an diesem Tag freundlich. Höchstwahrscheinlich weil sie sich ein fettes Feiertagstrinkgeld erhoffen. Tatsächlich müffelt es nicht ganz so wie sonst in dem Pflegeheim, diesmal vielmehr nach einer Mischung aus frischen Tannenzweigen, Weihnachtsgebäck und nur ein wenig Desinfektionsmittel.
Wie jedes Jahr stehen wir dann um den kleinen Plastikweihnachtsbaum herum und unsere Oma erzählt von den Bombennächten im Krieg, von Weihnachten 44, als es Fliegerangriffe auf Köln gab, aber man sich trotzdem froh um das letzte Glas eingemachter rote Beete versammelt hatte. Während sie die Geschichte zum 538. Mal erzählt, schauen die Urenkel verträumt zu, was aber vielmehr daran liegt, dass sie ihre Ohren vorher sicherheitshalber mit dem neusten mp3-Player verdrahtet haben. Damit sind sie mindestens genauso schwerhörig wie Oma – wie sich die Generationen doch gleichen!
Aber dann kommt der kritische Moment: Oma bittet ihre Enkel, tatsächlich sind es ihre Urenkel, denn ihre Enkel sind ja wir, und ihre Kinder hat sie längst überlebt, aber das ist der alten Dame nicht mehr beizubringen – sie bittet also ihre „Enkel“, ein Gedicht aufzusagen oder ein Weihnachtslied zu singen. Die sind zwar fast schon wieder aus der Pubertät raus, aber das einzige, was bei denen in Punkto Lyrik angesagt ist, sind Verse von amerikanischen Gangsterrappern. Und sowieso ist das alles schon peinlich genug, jetzt sollen sie auch noch singen...! Schon wieder!, so wie letztes Jahr! Bäh!
Vielleicht könnten wir ja versuchen, der alten Dame gut zuzureden... aber da kennen Sie unsere Oma nicht! Wenn die sich einmal etwas in ihren Kopf gesetzt hat, ist es trotz zunehmender Vergesslichkeit dort durch nichts mehr wieder herauszukriegen. Nein, Weihnachten ohne zu singen ist kein Weihnachten! Also es gibt wie jedes Jahr eine kleine Szene, man gießt Oma noch ein Gläschen Likör ein und Mami hält derweil vor der Türe Kriegsrat mit der Kernfamilie. Was sollen wir nur machen?! Sind Weihnachten und Oma noch zu retten?
Da gibt es nur eins: Singen wir uns doch den ganzen Frust vom letzten Jahr – den Weihnachtsstress inklusive – mal vom Leib. Oma wird den Unterschied nicht merken, da sie sowieso ziemlich schwerhörig ist.
Statt „Süßer die Glocken nie klingen“ singen wir einfach „Süßer die Kassen nie klingen“, natürlich inspiriert vom weihnachtlichen Konsumrausch, oder „Kling Münze, kling!“, und da Weihnachten morgen (hoffentlich) sowieso wieder vorbei ist: „Morgen Kinder wird’s nichts geben!“
Erstaunlich, was sich alles im Fundus der
alten Dame befindet...
Foto: Christian Steiner
Quelle: pixelio.de
Um nicht sofort wieder ran zu müssen, bitten wir Oma noch ein paar alte Geschichten zu erzählen. Sie erzählt uns von einem Weihnachten aus den 50er Jahren, als Opa schon Wochen vorher eine Weihnachtsgans gekauft hatte, um sie selbst zu mästen, was auch hervorragend funktionierte: Die Gans bekam den Namen Emma und wurde fett und fetter. Am Ende hatte man sie natürlich viel zu lieb gewonnen, um sie dann noch schlachten zu können. Also dieses Weihnachten feierte man zeitweilig im Hühnerstall, wo das gute Tier eingesperrt war, und sang der Gans noch Weihnachtslieder vor, was jedes Jahr als Familientradition wiederholt wurde. Emma wurde 11 Jahre alt und verschied an Altersschwäche. Dass auch Gänse gut gedeihen, wenn man ihnen etwas vorsingt, ist allerdings nach wie vor nicht wissenschaftlich bewiesen.
Aber singen war das Stichwort! Oma bittet um das nächste Weihnachtslied, da ist wohl nichts zu machen. An dieser Stelle kommt traditioneller Weise „Es ist ein Ros entsprungen“. Gibt es denn ein Lied, das einfacher zu persiflieren wäre?! Oma stimmt selbst an und ich dichte frei mit „Es ist ein Spross entsprungen, aus einem Genlabor….“ und was mir gerade noch so einfällt. Dann kommt Mamis Solo bei „Reise lieselt der See, lill und larr stiegt der Schnee…“, bei dem sie einfach alle Buchstaben umdreht. Alex wundert sich über die Kreativität seiner Mutter und überlegt, ob er sie nicht zur seiner nächsten Rap-Session einladen soll. Am Ende müssen wir alle lachen, Oma, weil es ihr gefällt und wir, weil die erste Likörflasche leer ist.
Danach sitzen wir bestimmt noch zwei Stunden auf dem Zimmer. Die alte Dame gibt eine Runde nach der anderen, und jedes Jahr wundern wir uns aufs Neue, dass sie wohl einen geheimen Likörvorrat hat. Mir wird dann immer ganz flau von dem vielen Eier- und Schlehenlikör. Na ja, wir lassen das Auto dann üblicherweise stehen, und Oma bringt uns noch zur Tür. Sie hakt sich dazu bei mir unter, und ich weiß nie, wer am Ende wen stützt. Während wir aufs Taxi warten, flüstert uns die Pflegedienstleiterin noch zu, dass wir der alten Dame nicht jedes Mal so viel Alkohol geben sollen.
Ich unterdrücke meinen Schluckauf und sage, dass ja nur einmal im Jahr Weihnachten sei und denke dann bei mir: Oma hat recht, der zweite Feiertag ist der wichtigste!
Der Nachhauseweg könnte glitschig werden und der Ausblick dann so aussehen | Foto: Bernd Bast
Online-Flyer Nr. 126 vom 20.12.2007