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Buchkritik
"Die Tochter des Schmieds"
Von Uli Klinger
Selim Özdogan hat einen wundervollen Erzählton gefunden. In diesem "Familien-Roman" schildert er in zwei Handlungssträngen das Leben von Timur, dem Vater, und seiner ältesten Tochter Gül. Die Handlung beginnt in den 40er Jahren in einem anatolischen Dorf, unberührt vom Zweiten Weltkrieg. Der dringt nicht bis dorthin vor.
Timur findet seine große Liebe, Fatma, mit der er drei Kinder zeugt. Alles Mädchen. Das Glück endet jäh, als Fatma stirbt. Gül, die Lieblingstochter des Vaters, ist die Älteste, Schutz ihrer Schwestern und Stütze des Vaters. Diese Rolle übernimmt sie ganz, als Timur erneut heiratet, denn die neue Frau ist anders als Fatma, nicht fürsorglich, nicht fleißig und nicht voller Liebe zu ihrem Mann und den Kindern.
Ein türkisches Sprichwort lautet: "Das Mädchen, dessen Mutter stirbt, hält sich für eine Mutter". Und genau diese Erwartungshaltung erfüllt Gül. Zeitig bricht sie die Schule ab und übernimmt Verantwortung. Sie übernimmt die Mutterrolle für ihre Schwestern, sorgt sich um die Familie, erlernt den Beruf der Schneiderin, verdient Geld, begegnet der Liebe ihres Lebens und träumt. Ja, von was eigentlich? Sie träumt von der Erfüllung ihres Lebens, ihrer Wünsche. Aber es bleibt beim Träumen, die Kraft zum Einfordern fehlt. Diese Fähigkeit ist nicht ausgebildet worden, ist gesellschaftlich in diesem engen Kosmos nicht erwünscht. Nur die Liebe des Vaters bleibt, der ihr zusteht, sich den Mann selbst zu wählen, der ihr eine Zwangsheirat erspart. Die sie dann selbst vollzieht, denn sie muss aus dem Haus, dann wird das Leben der Familie einfacher, es ist eine Esserin weniger zu versorgen. Und so heiratet sie mit fünfzehn Jahren einen ungeliebten Mann, führt für ihn den Haushalt, gebärt zwei Kinder. Das Leben wiederholt sich. Der Mann wandert nach Deutschland aus, sie folgt ihm ein paar Jahre später.
Eigentlich ein ernüchterndes Buch, wenn, ja wenn da nicht die Sprache von Selim Özdogan wäre. Er schildert die Person der Gül so poetisch, voller Respekt, ohne zu (ver-)urteilen. Und damit macht er eine starke, sympathische Frau aus ihr. Eine Frau, die damals unter diesen Umständen keine andere Chance hatte. Eine Frau, die unter patriarchalischen Umständen groß geworden ist, deren Leben aus Putzen, Sorgen und Träumen bestand. Nicht aus Kämpfen. Aber eine Frau, die trotzdem ihr Leben gelebt hat.
Und Özdogan lässt die Gründe der Sehnsucht nach einem anderen Leben sichtbar werden. Nach einem Leben im "gelobten" Deutschland. Das Land, das man nicht kennt, aber in dem sich alles ändern wird. Niemand ahnt, dass das Leben dadurch auch (noch) schwerer werden kann.
Und dies, nicht mehr und nicht weniger schildert er in diesem Buch. Voller Respekt, voller Sympathie, voller Poesie und Wärme, ohne zu urteilen. Das kann man verurteilen, aber er bleibt als Autor in der Rolle des Nacherzählers, er baut auf die Erinnerungen derjenigen, die ihm über ihre Erlebnisse berichteten und nimmt Abstand von der Haltung des Erforschenden.
Dadurch ist es Selim Özdogan gelungen, grandiose Bilder des Lebens und der menschlichen Beziehungen im Mikrokosmos des Kleinasiens der vierziger und fünfziger Jahre zu entwerfen und die Achtung für die Menschen einzufordern, die heute längst vom "Gast-" oder "Fremdarbeiter" zum Mitbürger geworden sind.
"Die Tochter des Schmieds"
von Selim Özdogan
Roman, gebunden, 318 S., 2005
Aufbau Verlag, 19,80 Euro
Foto 1: Selim Özdogan
NRhZ-Archiv
Online-Flyer Nr. 27 vom 17.01.2006
Buchkritik
"Die Tochter des Schmieds"
Von Uli Klinger
Selim Özdogan hat einen wundervollen Erzählton gefunden. In diesem "Familien-Roman" schildert er in zwei Handlungssträngen das Leben von Timur, dem Vater, und seiner ältesten Tochter Gül. Die Handlung beginnt in den 40er Jahren in einem anatolischen Dorf, unberührt vom Zweiten Weltkrieg. Der dringt nicht bis dorthin vor.
Timur findet seine große Liebe, Fatma, mit der er drei Kinder zeugt. Alles Mädchen. Das Glück endet jäh, als Fatma stirbt. Gül, die Lieblingstochter des Vaters, ist die Älteste, Schutz ihrer Schwestern und Stütze des Vaters. Diese Rolle übernimmt sie ganz, als Timur erneut heiratet, denn die neue Frau ist anders als Fatma, nicht fürsorglich, nicht fleißig und nicht voller Liebe zu ihrem Mann und den Kindern.
Ein türkisches Sprichwort lautet: "Das Mädchen, dessen Mutter stirbt, hält sich für eine Mutter". Und genau diese Erwartungshaltung erfüllt Gül. Zeitig bricht sie die Schule ab und übernimmt Verantwortung. Sie übernimmt die Mutterrolle für ihre Schwestern, sorgt sich um die Familie, erlernt den Beruf der Schneiderin, verdient Geld, begegnet der Liebe ihres Lebens und träumt. Ja, von was eigentlich? Sie träumt von der Erfüllung ihres Lebens, ihrer Wünsche. Aber es bleibt beim Träumen, die Kraft zum Einfordern fehlt. Diese Fähigkeit ist nicht ausgebildet worden, ist gesellschaftlich in diesem engen Kosmos nicht erwünscht. Nur die Liebe des Vaters bleibt, der ihr zusteht, sich den Mann selbst zu wählen, der ihr eine Zwangsheirat erspart. Die sie dann selbst vollzieht, denn sie muss aus dem Haus, dann wird das Leben der Familie einfacher, es ist eine Esserin weniger zu versorgen. Und so heiratet sie mit fünfzehn Jahren einen ungeliebten Mann, führt für ihn den Haushalt, gebärt zwei Kinder. Das Leben wiederholt sich. Der Mann wandert nach Deutschland aus, sie folgt ihm ein paar Jahre später.
Eigentlich ein ernüchterndes Buch, wenn, ja wenn da nicht die Sprache von Selim Özdogan wäre. Er schildert die Person der Gül so poetisch, voller Respekt, ohne zu (ver-)urteilen. Und damit macht er eine starke, sympathische Frau aus ihr. Eine Frau, die damals unter diesen Umständen keine andere Chance hatte. Eine Frau, die unter patriarchalischen Umständen groß geworden ist, deren Leben aus Putzen, Sorgen und Träumen bestand. Nicht aus Kämpfen. Aber eine Frau, die trotzdem ihr Leben gelebt hat.
Und Özdogan lässt die Gründe der Sehnsucht nach einem anderen Leben sichtbar werden. Nach einem Leben im "gelobten" Deutschland. Das Land, das man nicht kennt, aber in dem sich alles ändern wird. Niemand ahnt, dass das Leben dadurch auch (noch) schwerer werden kann.
Und dies, nicht mehr und nicht weniger schildert er in diesem Buch. Voller Respekt, voller Sympathie, voller Poesie und Wärme, ohne zu urteilen. Das kann man verurteilen, aber er bleibt als Autor in der Rolle des Nacherzählers, er baut auf die Erinnerungen derjenigen, die ihm über ihre Erlebnisse berichteten und nimmt Abstand von der Haltung des Erforschenden.
Dadurch ist es Selim Özdogan gelungen, grandiose Bilder des Lebens und der menschlichen Beziehungen im Mikrokosmos des Kleinasiens der vierziger und fünfziger Jahre zu entwerfen und die Achtung für die Menschen einzufordern, die heute längst vom "Gast-" oder "Fremdarbeiter" zum Mitbürger geworden sind.
"Die Tochter des Schmieds"
von Selim Özdogan
Roman, gebunden, 318 S., 2005
Aufbau Verlag, 19,80 Euro
Foto 1: Selim Özdogan
NRhZ-Archiv
Online-Flyer Nr. 27 vom 17.01.2006