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Aktueller Online-Flyer vom 19. Oktober 2024  

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Lokales
Provinzmuseum als Gegengewicht zum Berliner Vertreibungsmuseum
Eine Chance für Solingen und Europa
Von Karl Schem

Die ungleichen Städte Berlin und Solingen sind künftig miteinander verbandelt: Verknüpft durch die Darstellung von Vertreibung, wie sie zugleich unterschiedlicher nicht sein kann. In der Hauptstadt hat sich das schwarz-rote Kabinett im März für ein Museum entschieden, das - mißtrauisch beäugt vor allem vom Nachbarland Polen - die Geschichte der Vertreibung der Deutschen dokumentieren soll. In der bergischen Provinzstadt wird Ende März im Kunst-"Museum Baden" die Exil-Literatur-"Sammlung Jürgen Serke" der Öffentlichkeit übergeben: Sie ist neben der bereits vorhandenen Bilder-"Sammlung Gerhard Schneider" die zweite Säule des „Zentrums der verfolgten Künste“.
Mit „Staatsknete“ inszeniert

Was in der Hauptstadt mit "Staatsknete" inszeniert wird - die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten des Reiches" - geht auf Pläne der Vertriebenenpräsidentin Jutta Steinbach zurück. Einer ihrer Sympathisanten, der streitbare jüdische Publizist Ralph Giordano, hatte sich schließlich von ihr losgesagt - wegen der Einseitigkeit ihrer Sicht der "Vertreibung". Denn die Millionen, die 1945 aus ihrer Heimat flüchteten, hatten mitgemacht oder zumindest unter der Hitler-Diktatur stillgehalten, solange es ihnen gut ging und die Wehrmacht siegte.


„Museum Baden“ in Solingen
Quelle: ELSG

Aber die nun vom Kabinett beschlossene Lösung entspricht nicht mehr ganz den Vorstellungen der CDU-Bundestagsabgeordneten Steinbach: Ein typischer Kompromiss eben, der nun auch Rücksicht auf die Gefühle jener Völker nehmen soll, die Opfer der deutschen Aggression waren.
 
Naiv auf Bayer AG gehofft
Seit fast 20 Jahren kämpft auch der frühere WDR-Redakteur Hajo Jahn (66) für ein "Zentrum". Er hatte deshalb sogar einen Verein gegründet - ganz gegen seine Berufsauffassung, dass Journalisten nicht in Parteien oder Verbände gehen, geschweige denn Vorsitzende von Vereinen werden sollten. Den Berliner hatte sein Beruf nach Wuppertal verschlagen, Geburtsstadt der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler, aber auch von Friedrich Engels und Friedrich Bayer. Letzterer war als Kaufmann Gründer des Bayer-Konzerns, der einst zur "IG Farben" gehörte, die kriegswichtig waren, aber auch das KZ-Giftgas Zyklon B produzierten.


Else Lasker-Schüler
Quelle: www.osnabrück.de
"Es war sicherlich naiv, darauf zu hoffen, dass die Bayer AG ein Centrum der verfolgten Künstler und anderen Intellektuellen mitfinanzieren würde", erzählt Jahn im Rückblick. Er kannte durch seine Reporter- und Kommentatorentätigkeit für den WDR die Topmanager von Bayer, "die nichts mit den Handlungen ihrer Vorgänger zu tun hatten, aber in der Verantwortung stehen wie das übrige Deutschland auch". Der Wuppertaler Studioleiter war zudem von der Überlegung ausgegangen: "Wenn sich eine Weltfirma eine Bundesliga-Fußballmannschaft leistet, warum sollte sie nicht auch eine Art Museum finanzieren, mit dem sich intelligent Werbung mit politischer Aussage und zugleich wunderbare Kultur verknüpfen ließe.“

Gegen Vergessen und für Toleranz

Schließlich, so Jahn, habe der Bayer-Konzern in vielen Ländern eigene Fabriken oder exportiere dorthin, wo "die Besten aus unserer deutschen und damit abendländischen Kultur als 'Vertriebene' Gastrecht erhalten hatten, die heute Vorbilder sein können für kommende Generationen". Er erinnert daran, dass zum Beispiel der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, aus Nazi-Deutschland in die Türkei geflohen war, wo exilierte deutsch-jüdische Professoren an den Universitäten des Landes lehrten.
 
Der Journalist fragt sich, warum nicht gegen das Vergessen, gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, aber für Toleranz gearbeitet werden kann - mit den Biografien weltberühmter Exilanten wie dem Politiker Willy Brandt, dem Filmemacher Billy Wilder, dem Naturwissenschaftler Albert Einstein, dem Architekten Walter Gropius, den Komponisten Paul Hindemith oder Paul Abraham, mit Schauspielern wie Peter Lorre, Geisteswissenschaftlern wie Sigmund Freud oder Malern wie Max Ernst und George Grosz, Schriftstellern wie Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht oder Else Lasker-Schüler und Tausenden, die heute mehr oder weniger vergessen sind, wie beispielsweise der Schlagertexter von MArlene Dietrich, Friedrich Holländer.

Die Antwort, warum man in Deutschland Tapeten-, Öfen- und Puppenmuseen einrichtet, den Verbrechen der Nazizeit aber nur monumentale Gedenkstätten oder relativ konventionelle Museen einrichtet, während man die, auf die man stolz sein kann, links liegen lässt, könnte laut Jahn lauten: "Weil es widerspenstige Menschen waren, oppositionelle Unruhegeister, vor denen sich Machthaber aller Zeiten gefürchtet haben und fürchten werden. Sie lieben die Opportunisten, nicht die Oppositionellen."

„Else-Lasker-Schüler-e.V.“
 
Deshalb mußte Jahn einen gemeinnützigen Verein schaffen, denn - so hatten ihm seine Gesprächspartner bei Bayer damals bedeutet - nur so könne er für sein Vorhaben Finanzhilfe erhalten, die gegen Spendenquittung steuerlich absetzbar sei. So gründete der Journalist den „Else-Lasker-Schüler-e.V." mit inzwischen weltweit rund 1.400 Mitgliedern. Else Lasker-Schüler steht für all das, was Intellektuellen in der Nazizeit angetan wurde und "gewiss immer wieder angetan wird, solange es machtgierige Politiker gibt": Die Kleist-Preisträgerin Lasker-Schüler mußte im April 1933 ins Schweizer Exil fliehen, nachdem SS-Horden sie in Berlin zusammengeschlagen hatten - in ihrer Geburtsstadt waren am 1. April Tausende von Büchern verbrannt worden, sechs Wochen vor den reichsweiten Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933.

Hajo Jahn, Vorsitzender der ELSG
Foto: Manfred Brusten/ELSG

75 Jahre danach ist in der Solinger Ausstellung Else Lasker-Schüler ein besonderer Platz gewidmet: Gezeigt werden rund ein Dutzend ELS-Originalzeichnungen, die zu einem Konvolut von 104 Exemplaren gehörten, die 1937 als "entartet" aus der Berliner Nationalgalerie entfernt und verkauft worden waren. Paul Hindemith war der erste prominente Komponist, der Lasker-Schüler-Lyrik vertont hatte. Über ihn, der ebenfalls Deutschland verlassen mußte, hatte Propagandaminister Goebbels ein zynisches Wortspiel geprägt: "Hindemith. Her damit. Weg damit!" Weil der Dichterin als Asylbewerberin zum Schluß die Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz verwehrt wurde, mußte sie in Palästina bleiben, wo sie "die Sprache dieses kühlen Landes" nie erlernt hat - ein Schicksal, das sie mit vielen Exilanten damals und heute teilte. Für Dichter existentiell.
 
„Himmel und Hölle zwischen 1918 und 1989“

Das Solinger Zentrum unter dem Dach des kommunalen „Museum Baden“ ist das erste seiner Art in Europa und politisch in Warschau und Prag unstrittig. Führt es doch (auf 2.500 Quadratmetern) die deutsche Literatur des Widerstands und des Exils von 1933 bis 1945, die verfemte Malerei und die Fotografie unter dem Titel „Himmel und Hölle zwischen 1918 und 1989. Die verbrannten Dichter" zusammen. Damit wird realisiert, was 1994 mit dem Stiftungs-Aufruf für ein „Zentrum der verfolgten Künste/Dichter“ begonnen hat, initiiert von der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, Wuppertal, und dem PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland, London.

Angelehnt an die Idee des interdisziplinären „Folkwangmuseums“ des Hagener Kunstmäzens Karl-Ernst Osthaus während der Weimarer Republik, soll das „Zentrum“ mit Werken und Biografien jener tausenden Dichter, Musiker, Schauspieler, Filmemacher oder Architekten, aber auch Geisteswissenschaftler arbeiten, die als Opfer und Gegner des NS-Regimes ins Exil flüchten mussten. Den Aufruf dafür hatten mehr als 50 Intellektuelle unterzeichnet, darunter Günter Grass, Siegfried Lenz, Wolf Biermann, Herta Müller, Sarah Kirsch und Salman Rushdie, aber auch Israelis wie Staatsarchivar Prof. Paul Alsberg, Yehuda Amichai, Israel-Staatspreisträger Tuvia Rübner und Jakob Hessing.

Landschaftsverband „mit im Boot“

Der frühere NRW-Kultusminister Vesper (Grüne) hatte bei einem Else-Lasker-Schüler-Forum im Solinger Museum die Bereitschaft des Bundeslandes für einen technisch durchaus möglichen Anbau erklärt. Die Realisierung scheitert bislang an den Folgekosten. Wenn jedoch Nordrhein-Westfalen und die Bundesrepublik die Chance erkennen, mit dieser Art der Erinnerung an die "Vertreibung des Geistigen" Reputation zu erlangen, müßte die Aufstockung der vorhandenen "Bürgerstiftung" das Finanzproblem lösen, meint Hajo Jahn.

Der Landschaftsverband Rheinland ist bereits "mit im Boot". Ein virtuelles Zentrum arbeitet im Internet unter www.exil-archiv.de mit den Biografien verfolgter Künstler und anderer Intellektueller (und sogar von Sportlern). Das Medienzentrum des LV Rheinland steht in Verhandlungen mit dem Museum und der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, um zu kooperieren. Intern laufen auch erste Gespräche mit dem Kinderfunk eines öffentlich-rechtlichen Senders - als eine andere Form der Erinnerungsarbeit, die über die Internationalität und Aktualität des Themas auch die Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den deutschen Schulen einbinden würde, erklärt Jahn. Und fügt hinzu: "Das 21. Jahrhundert wird das Zeitalter des massenhaften Exils. Weniger aus politischen als aus Armutsgründen."  

„Die verbrannten Dichter"

Im Mittelpunkt der Solinger Eröffnungsausstellung steht das Buch „Die verbrannten Dichter" (1977), mit dem der Journalist und Schriftsteller Jürgen Serke die Wiederentdeckung der von den Nazis verfolgten Dichter einleitete und durchsetzte. Der Buchtitel wurde zum Gattungsbegriff für eine ganze Literatur. Die Else-Lasker-Schüler-Stiftung in Wuppertal, die die Sammlung Serke mit Erstausgaben, Handschriften, Originalmanuskripten, Originalfotos und Nachlässen erworben hat, stellt sie für eine ständige Ausstellung in Solingen zur Verfügung, inklusive Publikationen und Original-Zeichnungen von Else Lasker-Schüler


Heide und Jürgen Serke, mit Staatssekretärin
Monika Beck (r.)
Foto: Brendan Botheroyd
Damit hat Solingen, das bereits über die „Sammlung Gerhard Schneider“ mit Gemälden und Graphiken verfolgter Künstler zwischen 1933 und 1945 verfügt, ein einzigartiges Ensemble der Künste zu diesem Thema. Christoph Stölzl, Begründer des Deutschen Historischen Museums Berlin, spricht von einem „Institut, für das es keine europäische Parallele gibt". Angesichts des Werteverfalls eines Teils der heutigen Elite ist es der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft ein besonderes Anliegen, dass die Elite von einst, die Besten aus der deutschen und damit abendländischen Kultur, die stillen Heldinnen und Helden, eine Heimstatt erhalten.

Zentrum der verfolgten Künste

Kurator der Ausstellung ist Jürgen Kaumkötter von der Berliner Agentur Damm und Lindlar, der die Sammlung Schneider neu ausgerichtet hat auf die verfolgte Literatur. Kaumkötter setzt mit seiner Sicht auf ein Zentrum der verfolgten Künste seine Arbeit an der Kunst der Katastrophe des 20. Jahrhunderts fort, die 2005 mit der Berliner Ausstellung „Kunst in Auschwitz 1940 - 1945" einen vorläufigen Höhepunkt fand.

Drei temporäre Ausstellungen ab 30. März sind: Ein Fotopanorama von Stefan Moses, Robert Lebeck, Wilfried Bauer und Christian G. Irrgang, die Serke zu den Verfolgten des vergangen Jahrhunderts begleiteten. Das Panorama reicht von Armin T. Wegner zu Czeslaw Milosz, von Irmgard Keun, Joseph Brodsky und Ilse Aichinger zu Milan Kundera, von Rose Ausländer zu Václav Havel.

In einem weiteren Bereich werden die Bilder des Dichters und Malers Peter Kien im Original gezeigt, der 1940 ins Ghetto Theresienstadt kam und 1944 im Alter von 25 Jahren in Auschwitz umkam. Malerei ist bei ihm der Traum von einer befreiten Welt, Literatur antwortet auf die direkte Todesbedrohung.



„Mussolini in Theben“ - Dauerleihgabe von Jonathan Meese
Quelle: ELSG

Die dritte Ausstellung zeigt den Blick junger Künstler auf das vergangene Jahrhundert. Die 1969 in Jerusalem geborene Sigalit Landau, die 1979 in Ostberlin geborene Sarah Schönfeld reagieren mit ihren Arbeiten auf Kien und den Zivilisationsbruch des NS-Terrors - ebenso wie der 37jährige Jonathan Meese. (PK)

Ausstellungsprogramm

Online-Flyer Nr. 139  vom 26.03.2008



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