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Literatur
Der neue Fortsetzungsroman in der NRhZ – Folge 1
Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben
Von Wolfgang Bittner
Außer als Buch im Horlemann-Verlag können Sie seit dieser Ausgabe exklusiv in der NRhZ die überarbeitete Neuausgabe von Wolfgang Bittners 1978 erstmals erschienenen Roman „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“ lesen – eine Rezension des Werks finden sie in der NRhZ 139: „Ein Roman über einen ‚Helden’ von unten, aus der Sicht von unten und deshalb wichtig für alle – und sogar mit nicht allzu viel Fantasie lässt sich auch der Roman auf heutige Verhältnisse übertragen.“, schreibt Rezensent und Buchhändler Uli Klinger über „Der Aufsteiger“.
„Es wäre mir leichter zu schweigen,
als meine Gedanken zu verschleiern.“
Denis Diderot
1) Auf Maloche
Die Starfighter starteten kurz nacheinander. Kaum hatten die vier Maschinen abgehoben, zogen sie mit gewaltiger Geschwindigkeit in den blauen Himmel hinein. Hinter ihren Triebwerken flimmerte die Luft. Wie die gespreizten Finger einer Hand fuhren sie zuerst auseinander und strebten dann langsam wieder auf einander zu, um in großer Höhe zum Formationsflug überzugehen. Erich Wegner stand auf seinen Spaten gestützt im Graben und sah den glänzenden Vögeln hinterher, bis ihn die Sonne blendete. Er malte sich aus, wie er am Steuerknüppel eines Düsenjägers feindlichen Bomberschwärmen entgegen flog, die er mit seiner Leuchtspurmunition spuckenden Bordkanone beharkte. Bei jedem Einsatz würde er mindestens zehn oder sogar zwanzig Abschüsse machen, wie dieser Jagdflieger in den Landserheften, das war klar. Und dafür würde ihm der General einen Orden verleihen und die Kameraden würden ihm auf die Schulter klopfen.
Frauen wären kein Problem, die würden ihm, einem gut aussehenden Luftwaffenoffizier in einer Uniform voller Orden, zu Dutzenden hinterherlaufen. Natürlich hätte er dann außer seiner Jagdmaschine auch noch einen rassigen Sportwagen.
Pilot müsste man sein, dachte er und fluchte beim Weiterarbeiten vor sich hin, weil er andauernd auf Felsbrocken stieß. Wie sollte man bei so einer mistigen Strecke den Akkord schaffen. Er stellte den Spaten beiseite, nahm die Spitzhacke und schlug, weit ausholend, auf die Steinbrocken ein, bis sie zersprangen. Aber kaum hatte er einen weggeräumt, kam schon der nächste zum Vorschein. Scheißmaloche. Er richtete sich auf. Vor ihm war nichts als Heidekraut und niedriges Buschwerk, durch das sich eine Schnur spannte. Hinter ihm befand sich ein Stück Graben, 40 cm breit und 90 cm tief. Im Abstand von je 50 Metern hackten, schaufelten, gruben, wühlten die anderen. Wie die Maulwürfe, dachte er. Immer im Dreck und blind drauflos. Immer in diesen verfluchten Gummistiefeln. Nach ein paar Monaten hatte man garantiert Schweißfüße. Aber besser Schweißfüße, als ständig Wasser in den Schuhen. Der Brocken vor ihm wog ein paar Zentner. Den bekommst du so nicht raus, überlegte er. Er versuchte, ihn mit der Spitzhacke zu spalten, aber es ging nicht. Der Presslufthammer musste her. Als er hochblicke, stand Willi da, breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen. „Na, Erich“, sagte er, „hast wohl gestern wieder zentnerschwere Weiber gestemmt? Keinen Mumm, was?“ „Ach leck mich doch am Arsch“, knurrte er, „der Presslufthammer muss her.“
„He, Hannes“, brüllte Willi nach hinten, „komm mal mit dem Massageschwengel her!“
Sie waren insgesamt fünfzehn Mann. Willi Beckmann war der Vorarbeiter. Er arbeitete aber nicht vor, sondern passte auf, dass die anderen etwas taten. Das war wirklich seine Stärke. Er wusste genau, was er sich erlauben konnte und was nicht. Erlauben konnte er sich beispielsweise, diesem oder jenem in den Hintern zu treten, die Arbeitszeiten, die er eintrug, nach unten hin abzurunden oder selber nicht mitzuarbeiten. Nicht erlauben konnte er sich, die Arbeitszeiten nach oben hin aufzurunden, längere Pausen zuzulassen oder, wenn sie nicht auf Akkord, sondern nach Stundenlohn arbeiteten, ein gemütlicheres Arbeitstempo zu dulden. Würde er sich so etwas leisten, wäre er die längste Zeit Vorarbeiter gewesen. Das hätten sich der dicke Mönkeberg oder sein Ingenieur, die genau wussten, was bei einem Auftrag herausspringen musste, nicht lange mit angesehen. Und deswegen war Willi Beckmann ein hervorragender Aufpasser. Er feuerte jeden, der nicht spurte. Ungelernte Arbeiter gab es wie Sand am Meer. Ein Anruf beim Arbeitsamt genügte.
Hannes Tammen zog den Kompressor heran, an den sie zwei Presslufthämmer anschlossen. Er war ein alter Fuchs, schon Ende Vierzig, aber zäh wie eine Schuhsohle. Im Krieg war er Unterscharführer, also so etwas wie Unteroffizier, bei der Waffen-SS gewesen. Gemeinsam zerlegten sie den Brocken in einzelne Stücke, die sich ohne Schwierigkeiten beiseite schaffen ließen. Willi stand daneben und gab gute Ratschläge, bis Hannes sagte, er solle nicht so viel reden, sondern lieber mal mit anfassen. Da hatte er plötzlich etwas aus dem Auto zu holen und trollte sich. „Klogschieter“, brummte Hannes hinter ihm her. Er half noch, das Geröll wegzuschaufeln, bevor er mit dem Kompressor wieder abzog.
Erich Wegner arbeitete gern mit Hannes zusammen. Seit sein Vater vor einem Jahr gestorben war, hatte er manchmal das Bedürfnis, jemanden um Rat zu fragen oder auch nur eine vernünftige Ansicht über etwas zu hören. Bei den anderen drehte sich fast alles um Saufen, Weiber und die Abzahlungsraten. Mit Hannes konnte man reden. Obwohl er mehr als dreißig Jahre älter war. Er genoss in der Gruppe ein paar Vorrechte. Zum Beispiel ging er mit der Schnapsflasche herum. Einmal hatte das ein anderer gemacht. Der war hinterher besoffen gewesen, und der Schnaps hatte gerade für fünf Mann gereicht.
Der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Er stach mit dem Spaten entlang der Schnur eine neue Strecke ab. Dann fuhr er, im Graben stehend, mit der Schaufel unter die seitlich gelösten Heidekrautsoden und warf sie zur Seite. Anschließend ging es mit dem Spaten und der Spitzhacke weiter bis auf eine Tiefe von 90 cm. Zum Abmessen hatte er sich am Spatenstiel einen Strich angebracht.
War der Boden nicht steinig, ließ sich die Erde manchmal würfelförmig herausschachten, als handele es sich um Kuchen. Jeder Stich saß. Das konnte regelrecht Spaß machen. Aber heute war die Arbeit, trotz des guten Wetters, eine einzige Schinderei.
Die Anstrengung trieb das Blut aus dem Kopf und in die Muskeln.
War er das wirklich, er, hier in einem Graben in der Nähe eines Militärflugplatzes mitten in der Heide? Lebte er wirklich in diesem Moment an dieser Stelle, einen Spaten in der Hand, Gummistiefel an den Füßen, in diesen dreckigen Kordhosen, in dieser abgetragenen Joppe, mit diesem speckigen Filzhut auf dem Kopf? Oder träumte er das nur? War er vielleicht nur die Ausgeburt einer fehlgeleiteten Phantasie? Flog er in Wirklichkeit mit einem Düsenjäger in zehntausend Meter Höhe über die Erde?
Saß er womöglich in einer warmen, gemütlichen Stube und las in einem Roman, in dem er selber vorkam? Er hat Macht über mich, überlegte er. Jemand beherrscht mich. Er muss ja Macht über mich haben, sonst wäre ich nicht hier. Aber er wusste nicht, wer dieser Jemand war. Er wusste nicht, wer er war.
Der Spaten klirrte gegen einen Stein, rutschte ab und bohrte sich wenige Millimeter neben dem einen Gummistiefel unten im Graben in den Sand. Fast unbeteiligt blickte er hinunter. Die Gummistiefel lagen im Schatten. Mit so einem Spaten könnte man jemanden umlegen, dachte er und betrachtete nachdenklich die messerscharfe Schneide. Wenn es soweit wäre, würde er jemanden umlegen, ging es ihm durch den Kopf. Umlegen, fertig machen, erledigen, umnieten, alle machen. Er stieß zu. Was war das nur? Wie kam er nur auf solche Gedanken?
Eine anständige Arbeit müsste man sich besorgen, überlegte er, irgendwo im Büro oder wenigstens, wo es trocken ist. Selbst wenn man da weniger verdiente. In drei Monaten war das Darlehen endlich abgezahlt, das sie zur Einrichtung des Hauses zusätzlich aufgenommen hatten. Dann konnte er sehen, ob sich etwas Geeignetes finden würde. Eine saubere Arbeit vor allem, wie sein Vater immer gesagt hatte. Womöglich konnte er sogar noch eine Lehre beginnen. Ein Jahr lang bei jeder Witterung draußen und immer im Dreck, das reichte.
Er überlegte, wie er es anstellen konnte, sich einmal richtig mit Karin Möller zum Tanzen zu verabreden. Immerhin war es möglich, dass sie zusagte, obwohl sie etwas Besseres war. Sie nahm jede Gelegenheit wahr, um aus dem Haus zu kommen. Anscheinend kamen ihre Eltern nicht miteinander klar und es gab ständig Stunk. Wenn er ein Auto gehabt hätte, dann wäre alles einfacher gewesen. Dann hätte man mal zusammen wegfahren können, und dann wäre es eine Kleinigkeit gewesen, sie aufs Kreuz zu legen. Aber so, was hatte er schon zu bieten. Man müsste ein Auto haben, dachte er.
Jedenfalls war Karin keins von den Mädchen, die mit jedem losgingen. Das hatte er gleich gemerkt, als er mit ihr tanzte. Sie hatte etwas an sich, das brachte ihn in Fahrt, das half ihm über seine Hemmungen hinweg. Sogar unterhalten konnte man sich mit ihr. Anders als sonst mit Mädchen, die er kannte.
© 2008 Horlemann
Alle Rechte vorbehalten
Überarbeitete Neuausgabe – Erstveröffentlichung 1978 Büchergilde Gutenberg, Satz und Umschlaggestaltung Verlag.
Bitte fordern Sie das Verlagsverzeichnis an, unter:
Horlemann Verlag, Postfach 1307, 53583 Bad Honnef,
Telefax 02224 5429, E-Mail: info (at) horlemann-verlag.de
www.horlemann.info
Online-Flyer Nr. 140 vom 02.04.2008
Der neue Fortsetzungsroman in der NRhZ – Folge 1
Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben
Von Wolfgang Bittner
„Es wäre mir leichter zu schweigen,
als meine Gedanken zu verschleiern.“
Denis Diderot
1) Auf Maloche
Die Starfighter starteten kurz nacheinander. Kaum hatten die vier Maschinen abgehoben, zogen sie mit gewaltiger Geschwindigkeit in den blauen Himmel hinein. Hinter ihren Triebwerken flimmerte die Luft. Wie die gespreizten Finger einer Hand fuhren sie zuerst auseinander und strebten dann langsam wieder auf einander zu, um in großer Höhe zum Formationsflug überzugehen. Erich Wegner stand auf seinen Spaten gestützt im Graben und sah den glänzenden Vögeln hinterher, bis ihn die Sonne blendete. Er malte sich aus, wie er am Steuerknüppel eines Düsenjägers feindlichen Bomberschwärmen entgegen flog, die er mit seiner Leuchtspurmunition spuckenden Bordkanone beharkte. Bei jedem Einsatz würde er mindestens zehn oder sogar zwanzig Abschüsse machen, wie dieser Jagdflieger in den Landserheften, das war klar. Und dafür würde ihm der General einen Orden verleihen und die Kameraden würden ihm auf die Schulter klopfen.
Frauen wären kein Problem, die würden ihm, einem gut aussehenden Luftwaffenoffizier in einer Uniform voller Orden, zu Dutzenden hinterherlaufen. Natürlich hätte er dann außer seiner Jagdmaschine auch noch einen rassigen Sportwagen.
Pilot müsste man sein, dachte er und fluchte beim Weiterarbeiten vor sich hin, weil er andauernd auf Felsbrocken stieß. Wie sollte man bei so einer mistigen Strecke den Akkord schaffen. Er stellte den Spaten beiseite, nahm die Spitzhacke und schlug, weit ausholend, auf die Steinbrocken ein, bis sie zersprangen. Aber kaum hatte er einen weggeräumt, kam schon der nächste zum Vorschein. Scheißmaloche. Er richtete sich auf. Vor ihm war nichts als Heidekraut und niedriges Buschwerk, durch das sich eine Schnur spannte. Hinter ihm befand sich ein Stück Graben, 40 cm breit und 90 cm tief. Im Abstand von je 50 Metern hackten, schaufelten, gruben, wühlten die anderen. Wie die Maulwürfe, dachte er. Immer im Dreck und blind drauflos. Immer in diesen verfluchten Gummistiefeln. Nach ein paar Monaten hatte man garantiert Schweißfüße. Aber besser Schweißfüße, als ständig Wasser in den Schuhen. Der Brocken vor ihm wog ein paar Zentner. Den bekommst du so nicht raus, überlegte er. Er versuchte, ihn mit der Spitzhacke zu spalten, aber es ging nicht. Der Presslufthammer musste her. Als er hochblicke, stand Willi da, breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen. „Na, Erich“, sagte er, „hast wohl gestern wieder zentnerschwere Weiber gestemmt? Keinen Mumm, was?“ „Ach leck mich doch am Arsch“, knurrte er, „der Presslufthammer muss her.“
„He, Hannes“, brüllte Willi nach hinten, „komm mal mit dem Massageschwengel her!“
Sie waren insgesamt fünfzehn Mann. Willi Beckmann war der Vorarbeiter. Er arbeitete aber nicht vor, sondern passte auf, dass die anderen etwas taten. Das war wirklich seine Stärke. Er wusste genau, was er sich erlauben konnte und was nicht. Erlauben konnte er sich beispielsweise, diesem oder jenem in den Hintern zu treten, die Arbeitszeiten, die er eintrug, nach unten hin abzurunden oder selber nicht mitzuarbeiten. Nicht erlauben konnte er sich, die Arbeitszeiten nach oben hin aufzurunden, längere Pausen zuzulassen oder, wenn sie nicht auf Akkord, sondern nach Stundenlohn arbeiteten, ein gemütlicheres Arbeitstempo zu dulden. Würde er sich so etwas leisten, wäre er die längste Zeit Vorarbeiter gewesen. Das hätten sich der dicke Mönkeberg oder sein Ingenieur, die genau wussten, was bei einem Auftrag herausspringen musste, nicht lange mit angesehen. Und deswegen war Willi Beckmann ein hervorragender Aufpasser. Er feuerte jeden, der nicht spurte. Ungelernte Arbeiter gab es wie Sand am Meer. Ein Anruf beim Arbeitsamt genügte.
Hannes Tammen zog den Kompressor heran, an den sie zwei Presslufthämmer anschlossen. Er war ein alter Fuchs, schon Ende Vierzig, aber zäh wie eine Schuhsohle. Im Krieg war er Unterscharführer, also so etwas wie Unteroffizier, bei der Waffen-SS gewesen. Gemeinsam zerlegten sie den Brocken in einzelne Stücke, die sich ohne Schwierigkeiten beiseite schaffen ließen. Willi stand daneben und gab gute Ratschläge, bis Hannes sagte, er solle nicht so viel reden, sondern lieber mal mit anfassen. Da hatte er plötzlich etwas aus dem Auto zu holen und trollte sich. „Klogschieter“, brummte Hannes hinter ihm her. Er half noch, das Geröll wegzuschaufeln, bevor er mit dem Kompressor wieder abzog.
Erich Wegner arbeitete gern mit Hannes zusammen. Seit sein Vater vor einem Jahr gestorben war, hatte er manchmal das Bedürfnis, jemanden um Rat zu fragen oder auch nur eine vernünftige Ansicht über etwas zu hören. Bei den anderen drehte sich fast alles um Saufen, Weiber und die Abzahlungsraten. Mit Hannes konnte man reden. Obwohl er mehr als dreißig Jahre älter war. Er genoss in der Gruppe ein paar Vorrechte. Zum Beispiel ging er mit der Schnapsflasche herum. Einmal hatte das ein anderer gemacht. Der war hinterher besoffen gewesen, und der Schnaps hatte gerade für fünf Mann gereicht.
Der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Er stach mit dem Spaten entlang der Schnur eine neue Strecke ab. Dann fuhr er, im Graben stehend, mit der Schaufel unter die seitlich gelösten Heidekrautsoden und warf sie zur Seite. Anschließend ging es mit dem Spaten und der Spitzhacke weiter bis auf eine Tiefe von 90 cm. Zum Abmessen hatte er sich am Spatenstiel einen Strich angebracht.
War der Boden nicht steinig, ließ sich die Erde manchmal würfelförmig herausschachten, als handele es sich um Kuchen. Jeder Stich saß. Das konnte regelrecht Spaß machen. Aber heute war die Arbeit, trotz des guten Wetters, eine einzige Schinderei.
Die Anstrengung trieb das Blut aus dem Kopf und in die Muskeln.
War er das wirklich, er, hier in einem Graben in der Nähe eines Militärflugplatzes mitten in der Heide? Lebte er wirklich in diesem Moment an dieser Stelle, einen Spaten in der Hand, Gummistiefel an den Füßen, in diesen dreckigen Kordhosen, in dieser abgetragenen Joppe, mit diesem speckigen Filzhut auf dem Kopf? Oder träumte er das nur? War er vielleicht nur die Ausgeburt einer fehlgeleiteten Phantasie? Flog er in Wirklichkeit mit einem Düsenjäger in zehntausend Meter Höhe über die Erde?
Saß er womöglich in einer warmen, gemütlichen Stube und las in einem Roman, in dem er selber vorkam? Er hat Macht über mich, überlegte er. Jemand beherrscht mich. Er muss ja Macht über mich haben, sonst wäre ich nicht hier. Aber er wusste nicht, wer dieser Jemand war. Er wusste nicht, wer er war.
Der Spaten klirrte gegen einen Stein, rutschte ab und bohrte sich wenige Millimeter neben dem einen Gummistiefel unten im Graben in den Sand. Fast unbeteiligt blickte er hinunter. Die Gummistiefel lagen im Schatten. Mit so einem Spaten könnte man jemanden umlegen, dachte er und betrachtete nachdenklich die messerscharfe Schneide. Wenn es soweit wäre, würde er jemanden umlegen, ging es ihm durch den Kopf. Umlegen, fertig machen, erledigen, umnieten, alle machen. Er stieß zu. Was war das nur? Wie kam er nur auf solche Gedanken?
Eine anständige Arbeit müsste man sich besorgen, überlegte er, irgendwo im Büro oder wenigstens, wo es trocken ist. Selbst wenn man da weniger verdiente. In drei Monaten war das Darlehen endlich abgezahlt, das sie zur Einrichtung des Hauses zusätzlich aufgenommen hatten. Dann konnte er sehen, ob sich etwas Geeignetes finden würde. Eine saubere Arbeit vor allem, wie sein Vater immer gesagt hatte. Womöglich konnte er sogar noch eine Lehre beginnen. Ein Jahr lang bei jeder Witterung draußen und immer im Dreck, das reichte.
Er überlegte, wie er es anstellen konnte, sich einmal richtig mit Karin Möller zum Tanzen zu verabreden. Immerhin war es möglich, dass sie zusagte, obwohl sie etwas Besseres war. Sie nahm jede Gelegenheit wahr, um aus dem Haus zu kommen. Anscheinend kamen ihre Eltern nicht miteinander klar und es gab ständig Stunk. Wenn er ein Auto gehabt hätte, dann wäre alles einfacher gewesen. Dann hätte man mal zusammen wegfahren können, und dann wäre es eine Kleinigkeit gewesen, sie aufs Kreuz zu legen. Aber so, was hatte er schon zu bieten. Man müsste ein Auto haben, dachte er.
Jedenfalls war Karin keins von den Mädchen, die mit jedem losgingen. Das hatte er gleich gemerkt, als er mit ihr tanzte. Sie hatte etwas an sich, das brachte ihn in Fahrt, das half ihm über seine Hemmungen hinweg. Sogar unterhalten konnte man sich mit ihr. Anders als sonst mit Mädchen, die er kannte.
© 2008 Horlemann
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Überarbeitete Neuausgabe – Erstveröffentlichung 1978 Büchergilde Gutenberg, Satz und Umschlaggestaltung Verlag.
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Online-Flyer Nr. 140 vom 02.04.2008