„Mich wundert, dass noch niemand Amok gelaufen ist"
Politisch unwillkommen
Von Hans-Dieter Hey
Der Rechtsruck in der Gesellschaft
Martin Behrsing vor dem Sozialgericht Köln
Foto: arbeiterfotografie
Vor längerer Zeit sorgte sich einer unserer großen, leider vergessenen Denker der „Frankfurter Schule" und Vordenker der Bewegung in den 60er Jahren, Theodor W. Adorno, um die Zustände in unserer Demokratie. Dies veranlasste ihn zu sagen: „Ich fürchte mich nicht vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten." Der Rechtsruck in der Gesellschaft durch zunehmenden Rechtspopulismus in der sogenannten Mitte, trotz einer stärker werdenden neuen Linkspartei, scheint ihn heute zu bestätigen. Über diese Zusammenhänge wollte sich einfach mal jemand im Internetforum Gedanken machen.
Da konnte man einige – teilweise sicher deftige – Äußerungen zum Umgang von Behörden mit Hartz-IV-Empfängern lesen wie: „Jeder, der in die Fänge einer ARGE geraten ist, weiß, dass man nicht fragen muss, warum dieser Amoklauf passiert ist... Der Hartz-Murks ist Terror" und: "Mich wundert, dass noch niemand Amok gelaufen ist". Solche Äußerungen folgten auf einen Vorgang vom 5. September 2007. Eine Frau hatte sich in der Aachener ARGE offensichtlich in die Enge und in existenzielle Not gedrängt gefühlt und verzweifelt und von Sinnen ihre Forderungen durch eine wahnwitzige Geiselnahme durchsetzen wollen.
Nicht wenige wunderten sich anschließend darüber – offenbar aus eigener Erfahrung sprechend – warum Amokläufe nicht häufiger passierten. Die Staatsanwaltschaft Aachen veranlassten jedenfalls diese Veröffentlichungen, wegen Volksverhetzung und Billigung von Straftaten zu ermitteln. Im Zuge dieser Ermittlungen sollte nun per Gerichtsbeschluss vom 6. November 2007 das Erwerbslosen Forum Deutschland die IP-Daten und Adressen herausgeben, die die Urheber dieser Äußerungen aufdecken würden.
Protest gegen Hartz IV vor der ARGE Köln 2008
Keine gesetzliche Grundlage
Der Witz an der Angelegenheit: Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosenforums, kann solche Daten gar nicht herausgeben, weil er keine hat und weil es für deren legale Erfassung es überhaupt keine gesetzliche Grundlage gibt. Das hatte er Monate zuvor bereits dem Aachener Polizeipräsidenten, Abteilung Staatschutz, mitgeteilt. Zunächst erinnerte das Ganze noch an die Fernsehsendung „Königlich-Bayerisches Amtsgericht", die die Älteren noch kennen. Doch es sollte anders kommen.
Wer nun erwartet hatte, dass das Landgericht in der Verhandlung am 12. März 2008 dazu gelernt hätte, wurde enttäuscht. Es wurde eben nicht verstanden, dass man nicht herausgeben kann, was man gar nicht hat. Denn das Erwerbslosen Forum Deutschland hat außer der Internetadresse nichts gespeichert. Der Beschwerde von Martin Behrsing vor dem Landgericht wurde also nicht stattgegeben. Stattdessen wurde vom Gericht konstruiert, dass ein Internet-Forum Telekommunikationsdienste verrichte und deshalb wie die Deutsche Telekom Daten erfassen könne und auf Verlangen Auskunft über Daten, die „die Angabe der IP-Adressen und der hinter den Pseudonymen stehenden Namen und Adressen zum Zwecke der Strafverfolgung" aufdecken, auch erteilen müsse. Das hört sich ganz nach Ausforschen an, um dem Überwachungsstaat ein bisschen auf die Sprünge zu helfen.
Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hierzu: „Es ist in der Tat so, dass Betreiber von Internetforen personenbezogene Daten ihrer Nutzer auf Anordnung heraus geben müssen. Sie müssen aber nur diejenigen Daten heraus geben, die sie gespeichert haben." Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung bietet fachliche Unterstützung bei der Gestaltung anonymer Foren, um "z.B. der Politik durch Kritik auf die Beine helfen, Missstände anonym gegenüber der Presse aufzudecken".
Kritik an Hartz IV nicht erwünscht?
Merkwürdige Parallelen?
Montage: arbeiterfotografie
Die Verfolgungsanstrengungen der Staatsanwaltschaft Aachen legen den Verdacht nahe, dass harte Kritik am System Hartz IV offensichtlich nicht erwünscht ist und mit allen Mitteln staatlicher Gewalt unterdrückt werden soll. Damals – just vor der Einführung von Hartz IV – wollten die Mainstream-Medien nicht über Hartz IV berichten, damit vor der anstehenden Wahl keine die Politik störenden Diskussionen stattfänden. Und bei der Einführung von Hartz IV waren Polizei, Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaften dann auch äußerst hilfreiche Unterstützer. In vielen Arbeitsagenturen hat sich die Polizei inzwischen dauerhaft eingerichtet. Ähnliches kennt man ja aus den 1930er Jahren. Das Ausforschen des Erwerbslosen Forums Deutschland, dass das Aufzeigen solcher Zusammenhänge für notwendig hielt, passt in dieses Bild.
Martin Behrsing fühlt sich unter Druck gesetzt und glaubt, dass das Gericht einem Angriff auf die letzten freien Winkel öffentlicher und nicht manipulierter Meinungsäußerung den Weg bereitet: »Wir betrachten die absurden Vorwürfe und Ermittlungen der Aachener Staatsanwaltschaft als einen Angriff gegen unsere Initiative, weil wir sehr erfolgreich Menschen helfen, dass sie sich gegen das tägliche Unrecht des Hartz IV-Systems wehren können. Wir wissen sehr genau, dass wir schon lange ein Dorn im Auge vieler Behörden sind. Dass allerdings Amtsgericht und Landgericht dem Ansinnen der Staatsanwaltschaft völlig unkritisch gefolgt sind, schockiert uns schon. Es drängt sich uns der Eindruck auf, dass, sobald der Staatsschutz in derartige Verfahren involviert ist, keine sorgfältige Prüfung mehr stattfindet. Es ist gut, dass wir noch nie derartige Daten gespeichert haben. Damit schützen wir auch gleichzeitig Hartz IV-Betroffene, die offen Ihre Meinung sagen" und das – so Behrsing – "ist für uns besonders schützenswert.“
Staatsanwaltschaft und Gerichte in Aachen müssen sich jetzt den Vorwurf gefallen lassen, dass sie sich politisch vor den Karren spannen lassen, weil sie offenbar nicht mehr in der Lage sind, neutral für das hohe Gut der freien Meinungsäußerung zu entscheiden – gerade wenn die von Unbequemen, Verzweifelten, Ausgegrenzten oder Zornigen kommt – und gegen eine völlig überzogene staatliche Verfolgungsmaßname. Wenn sie so die Lebenswirklichkeit der Menschen in diesem Land aus dem Blick verlieren, besteht tatsächlich Gefahr, dass auf Dauer die Demokratie beschädigt wird. (PK)
Online-Flyer Nr. 140 vom 02.04.2008