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Lokales
Aufklärung durch den China-Experten Ingo Nentwig in Köln – Teil I
Tibetische Wirklichkeit anstatt Märchen
Von Hans-Detlev von Kirchbach
"Wenn die Exiltibeter, der Dalai Lama und fast immer auch die Mainstream-Medien bei uns “Tibet” sagen, meinen sie nicht Tibet, sondern ungefähr 25 Prozent des chinesischen Staatsterritoriums. Tibet selbst hat nur etwa 13 Prozent des chinesischen Staatsgebietes, das ist das 'Autonome Gebiet Tibet'."
Schlammberge aktueller Medienfälschungen…
Zunächst einmal stellte Ingo Nentwig klar, was unter dem realen Tibet zu verstehen ist, im Gegensatz zu den expansiven Ansprüchen eines Teils der Exilszene und den schwärmerischen Phantasien manch westlicher „Tibetianer“.
Ingo Nentwig – einiges an Medien-
manipulation gewöhnt
Foto: privat
Viel klarstellen muß man ohnehin schon, auch unter “normaleren” Bedingungen als direkt nach den aktuell gerade vergangenen Unruhen, wenn man über Tibet redet. Diese Erfahrung jedenfalls begleitet Ingo Nentwig immer, wenn er “Opfern” der alltäglichen medialen Teil- und Desinformation, also quasi uns allen, Nahansichten und Hintergrund-Kenntnisse über Tibet vermitteln will. Da gilt es ohnehin schon ein über Jahrzehnte gewachsenes, geradezu kulturell eingewurzeltes Gestrüpp von Klischees und Projektionen auszulichten, damit anstelle populärer, häufig esoterisch-okkulter Legenden so etwas wie die historische, politische und soziale Wirklichkeit des sagenhaften Shangri-La überhaupt eine Chance der Kenntnisnahme erhält. Und dann muß der Sach- und Landeskenner Nentwig auch noch Schlammberge aktueller Medienfälschungen beiseite räumen, Behauptungen, die aus der Luft gegriffen sind, Gerüchte, die – oft von der sogenannten Exilregierung ausgehend und vom Medienmainstream zu 90 Prozent unkritisch übernommen – als feststehende Tatsachen kolportiert werden. Der “Anspruch” auf ein Groß-Tibet, das als Staatsgebilde, so Nentwig, letztmalig im 9. Jahrhundert existierte, gehört dabei schon zu den hintergründigen Manipulationen, die sich vor allem an die Adresse interessierter Kreise im Westen richten. Für die Massenrezeption des aktuellen Tibet-Dramas reicht es freilich aus, zum Beispiel mit blutrünstigen Balkenlettern, aber auch subtiler Suggestion in den Hauptnachrichtensendungen, den Hergang der jüngsten Gewaltauseinandersetzungen zu verfälschen, ja auf den Kopf zu stellen.
…aber „moralisch wertvoll“
Was vom Referenten dieses Abends zu erfahren war, das allerdings hätte man aus mindestens den meisten auflagen- und quotenstärksten Medien hierzulande so nicht erfahren können. Zunächst kleinere Demonstrationen von Mönchen, die, so Ingo Nentwig, in Tibet “keineswegs ungewöhnlich” seien, hätten sich schließlich schneeballartig in Straßenkämpfe ausgeweitet, bei denen aber, insbesondere in Lhasa, von tibetischen Gewalttätern Häuser und Geschäfte von “Han-Chinesen”angegriffen, Menschen in ihren Häusern oder auf der Straße erschlagen, erstochen und verbrannt wurden. Erst nach einiger Zeit griff die Polizei ein, da die regionale Führung zu Beginn der Unruhen beim Volkskongreß in Peking “weilte”.
Von gut 30 Toten, überwiegend ChinesInnen, die von tibetischen “Gewalttätern” attackiert worden seien, sowie einer einstelligen Zahl von Opfern der “Sicherheitskräfte” wußte Ingo Nentwig zu berichten. In einem Fall sei ein “Aufständischer” bei einem Schußwechsel mit Polizisten getötet worden. In der Mainstreampresse bei uns las es sich freilich anders; selbst die um Zurückhaltung bemühte Tagesschau präsentierte Text- und Bildermixturen, die mindestens dem flüchtigen Betrachter kurzer News-Spots den Eindruck chinesischer Terrormaßnahmen suggerieren konnten. (In der nächsten NRhZ präsentieren wir eine kleine Expedition ins Tibet der Medien.)
Größter Erfolg des Dalai Lama
Dr. Nentwig, der sich nach langen Jahren Chinaaufenthalt schon als mindestens halber Chinese betrachtet, ist im Hinblick auf China und namentlich Tibet schon einiges an Medienmanipulation und Propaganda (auf allen Seiten) gewöhnt. Doch das Ausmaß der “glatten Lügen” und vorsätzlichen Verfälschungen sowie deren widerstandslose Multiplikation in fast allen Medien während der dramatischen Ereignisse im März/April dieses Jahres habe selbst ihn schon erheblich überrascht, bekannte der Referent. Soweit nicht wider besseres Wissen politische Absicht zugrunde liege, manifestiere sich in unkritischer Übernahme unüberprüfter Darstellungen und unreflektierter Parteilichkeit der wohl größte, aber gewissermaßen auch fatalste “Erfolg” des Dalai Lama und der tibetischen “Exilregierung” – nämlich die fast vollständige Eroberung und widerstandslose Besetzung nahezu aller westlicher Leitmedien.
Auch das Störfeuer gegen die bevorstehende Olympiade gehöre zu diesen eher zwiespältigen “Erfolgen”. Doch das schlage vor allem auf die normale chinesische Bevölkerung zurück. Die habe sich unabhängig von ihrer Stellung zum Regime auf die Öffnung des Landes gefreut und hätte gerne sich und ihre Erfolge, “die immerhin auf ihrer Knochenarbeit beruhen”, stolz der Welt präsentiert. Jetzt sei von dieser “Aufbruchsstimmung” nichts mehr übrig geblieben und eine große Chance zu einem besseren gegenseitigen Verständnis jenseits der rein offiziellen Ebene fast vollständig verspielt.
Nachwirkungen der „Botschaften“
Wie die Medienbilder der letzten Wochen und die damit verbundenen “Botschaften” nachwirken, bewies kürzlich im Gespräch mit dem Autor dieses Beitrages ein Lehrer aus dem Bekanntenkreis: Von “tausenden Opfern” der “chinesischen Armee” meinte der sonst um Information bemühte und menschenrechts-engagierte Pädagoge gehört zu haben. Da muß vielleicht keine konkrete Zahl, wohl aber einiges vom dramatischen Gestus der Berichterstattung hängen geblieben sein und sich in der Erinnerung noch vielfach multipliziert haben. Selbst der Dalai Lama sprach ja im werbeträchtigen Spiegel-Titelinterview der letzten Woche “nur” von 200 Opfern. Was Ingo Nentwig schon für erheblich überzogen hält.
Eines der Probleme der medialen Vermittlung tibetischer Realitäten bestehe, neben den traditionellen esoterischen Projektionen, eben in jenem PR-Erfolg der exiltibetischen Szene, meint der Experte fast resigniert. Denn in diesem einfachen Weltbild, diesem Gut-Böse-Dualismus sei es offenbar auch für den durchschnittlichen deutschen Redakteur kaum vorstellbar, daß einmal eine Darstellung der chinesischen Regierung den Tatsachen entsprechen könnte, eine Darstellung des Dalai Lama aber nicht.
Befriedung und Reform auf beiden Seiten nötig
Gleichwohl befürwortet Nentwig im Sinne der "Befriedung" eine Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet. Wie kritisch er ihn, die sogenannte "Exilregierung" und insbesondere wenigstens Großteile der externen, vor allem europäischen, "Soli-Szene" auch sieht, so deutlich ist ihm doch, daß der Dalai Lama eben einen Aspekt der kulturellen "Identität" des Landes, des Tibeter-Seins, repräsentiert. Als "Symbol" ihrer besonderen Stellung innerhalb Chinas wollten die meisten Tibeter den Dalai Lama nach Nentwigs Beobachtung denn auch wieder im Lande haben - keinesfalls aber als "Staatsoberhaupt" eines ohnehin vollkommen irrealen unabhängigen Tibet, geschweige denn "Groß-Tibet". Da müßten beide Seiten nur eben noch erheblich aufeinander zugehen. China sollte eine Art kultureller Autonomie zulassen, selbstverständlich auch die Religionsausübung als Grundrecht akzeptieren, ohne sich mit staatlichen Schikanen einzumischen. Paternalistischer, eben doch nach Kolonialarroganz müffelnder „Schwachsinn“, so Nentwig, wie die zeitweise für Mönche angeordneten wöchentlichen „Patriotismus“-Schulungen oder Anti-Dalai-Lama-Agitationen, gieße nur „Öl ins Feuer“ glimmender Feindseligkeit und gehöre abgestellt. Andererseits dürften Zwangsrekrutierungen kleiner Kinder für Klösterdienste und sonstiger religiöser Kindesmißbrauch, so wie im alten Tibet, nicht unter dem Signum “Religionsfreiheit” zugelassen werden.
Der Dalai Lama und seine Gruppierung müßten hingegen endlich ohne Zweideutigkeiten einräumen, daß das "autonome Gebiet" Tibet im aktuell staatsrechtlichen Sinne zur "Volksrepublik" China gehört, so wie es jetzt de facto ohnehin der Fall ist. Und wie es, unabhängig von der jeweiligen historischen Staatsverfassung, in einem, so Nentwig, "übergeordneten kulturellen Sinne" auch immer schon war. (PK)
Teil 2 folgt in der nächsten NRhZ. Siehe hierzu auch den Offenen Brif an den chinesischen Botschafter in dieser NRhZ-Ausgabe.
Online-Flyer Nr. 147 vom 21.05.2008
Aufklärung durch den China-Experten Ingo Nentwig in Köln – Teil I
Tibetische Wirklichkeit anstatt Märchen
Von Hans-Detlev von Kirchbach
"Wenn die Exiltibeter, der Dalai Lama und fast immer auch die Mainstream-Medien bei uns “Tibet” sagen, meinen sie nicht Tibet, sondern ungefähr 25 Prozent des chinesischen Staatsterritoriums. Tibet selbst hat nur etwa 13 Prozent des chinesischen Staatsgebietes, das ist das 'Autonome Gebiet Tibet'."
Schlammberge aktueller Medienfälschungen…
Zunächst einmal stellte Ingo Nentwig klar, was unter dem realen Tibet zu verstehen ist, im Gegensatz zu den expansiven Ansprüchen eines Teils der Exilszene und den schwärmerischen Phantasien manch westlicher „Tibetianer“.
Ingo Nentwig – einiges an Medien-
manipulation gewöhnt
Foto: privat
…aber „moralisch wertvoll“
Was vom Referenten dieses Abends zu erfahren war, das allerdings hätte man aus mindestens den meisten auflagen- und quotenstärksten Medien hierzulande so nicht erfahren können. Zunächst kleinere Demonstrationen von Mönchen, die, so Ingo Nentwig, in Tibet “keineswegs ungewöhnlich” seien, hätten sich schließlich schneeballartig in Straßenkämpfe ausgeweitet, bei denen aber, insbesondere in Lhasa, von tibetischen Gewalttätern Häuser und Geschäfte von “Han-Chinesen”angegriffen, Menschen in ihren Häusern oder auf der Straße erschlagen, erstochen und verbrannt wurden. Erst nach einiger Zeit griff die Polizei ein, da die regionale Führung zu Beginn der Unruhen beim Volkskongreß in Peking “weilte”.
Von gut 30 Toten, überwiegend ChinesInnen, die von tibetischen “Gewalttätern” attackiert worden seien, sowie einer einstelligen Zahl von Opfern der “Sicherheitskräfte” wußte Ingo Nentwig zu berichten. In einem Fall sei ein “Aufständischer” bei einem Schußwechsel mit Polizisten getötet worden. In der Mainstreampresse bei uns las es sich freilich anders; selbst die um Zurückhaltung bemühte Tagesschau präsentierte Text- und Bildermixturen, die mindestens dem flüchtigen Betrachter kurzer News-Spots den Eindruck chinesischer Terrormaßnahmen suggerieren konnten. (In der nächsten NRhZ präsentieren wir eine kleine Expedition ins Tibet der Medien.)
Größter Erfolg des Dalai Lama
Dr. Nentwig, der sich nach langen Jahren Chinaaufenthalt schon als mindestens halber Chinese betrachtet, ist im Hinblick auf China und namentlich Tibet schon einiges an Medienmanipulation und Propaganda (auf allen Seiten) gewöhnt. Doch das Ausmaß der “glatten Lügen” und vorsätzlichen Verfälschungen sowie deren widerstandslose Multiplikation in fast allen Medien während der dramatischen Ereignisse im März/April dieses Jahres habe selbst ihn schon erheblich überrascht, bekannte der Referent. Soweit nicht wider besseres Wissen politische Absicht zugrunde liege, manifestiere sich in unkritischer Übernahme unüberprüfter Darstellungen und unreflektierter Parteilichkeit der wohl größte, aber gewissermaßen auch fatalste “Erfolg” des Dalai Lama und der tibetischen “Exilregierung” – nämlich die fast vollständige Eroberung und widerstandslose Besetzung nahezu aller westlicher Leitmedien.
Auch das Störfeuer gegen die bevorstehende Olympiade gehöre zu diesen eher zwiespältigen “Erfolgen”. Doch das schlage vor allem auf die normale chinesische Bevölkerung zurück. Die habe sich unabhängig von ihrer Stellung zum Regime auf die Öffnung des Landes gefreut und hätte gerne sich und ihre Erfolge, “die immerhin auf ihrer Knochenarbeit beruhen”, stolz der Welt präsentiert. Jetzt sei von dieser “Aufbruchsstimmung” nichts mehr übrig geblieben und eine große Chance zu einem besseren gegenseitigen Verständnis jenseits der rein offiziellen Ebene fast vollständig verspielt.
Nachwirkungen der „Botschaften“
Wie die Medienbilder der letzten Wochen und die damit verbundenen “Botschaften” nachwirken, bewies kürzlich im Gespräch mit dem Autor dieses Beitrages ein Lehrer aus dem Bekanntenkreis: Von “tausenden Opfern” der “chinesischen Armee” meinte der sonst um Information bemühte und menschenrechts-engagierte Pädagoge gehört zu haben. Da muß vielleicht keine konkrete Zahl, wohl aber einiges vom dramatischen Gestus der Berichterstattung hängen geblieben sein und sich in der Erinnerung noch vielfach multipliziert haben. Selbst der Dalai Lama sprach ja im werbeträchtigen Spiegel-Titelinterview der letzten Woche “nur” von 200 Opfern. Was Ingo Nentwig schon für erheblich überzogen hält.
Eines der Probleme der medialen Vermittlung tibetischer Realitäten bestehe, neben den traditionellen esoterischen Projektionen, eben in jenem PR-Erfolg der exiltibetischen Szene, meint der Experte fast resigniert. Denn in diesem einfachen Weltbild, diesem Gut-Böse-Dualismus sei es offenbar auch für den durchschnittlichen deutschen Redakteur kaum vorstellbar, daß einmal eine Darstellung der chinesischen Regierung den Tatsachen entsprechen könnte, eine Darstellung des Dalai Lama aber nicht.
Befriedung und Reform auf beiden Seiten nötig
Gleichwohl befürwortet Nentwig im Sinne der "Befriedung" eine Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet. Wie kritisch er ihn, die sogenannte "Exilregierung" und insbesondere wenigstens Großteile der externen, vor allem europäischen, "Soli-Szene" auch sieht, so deutlich ist ihm doch, daß der Dalai Lama eben einen Aspekt der kulturellen "Identität" des Landes, des Tibeter-Seins, repräsentiert. Als "Symbol" ihrer besonderen Stellung innerhalb Chinas wollten die meisten Tibeter den Dalai Lama nach Nentwigs Beobachtung denn auch wieder im Lande haben - keinesfalls aber als "Staatsoberhaupt" eines ohnehin vollkommen irrealen unabhängigen Tibet, geschweige denn "Groß-Tibet". Da müßten beide Seiten nur eben noch erheblich aufeinander zugehen. China sollte eine Art kultureller Autonomie zulassen, selbstverständlich auch die Religionsausübung als Grundrecht akzeptieren, ohne sich mit staatlichen Schikanen einzumischen. Paternalistischer, eben doch nach Kolonialarroganz müffelnder „Schwachsinn“, so Nentwig, wie die zeitweise für Mönche angeordneten wöchentlichen „Patriotismus“-Schulungen oder Anti-Dalai-Lama-Agitationen, gieße nur „Öl ins Feuer“ glimmender Feindseligkeit und gehöre abgestellt. Andererseits dürften Zwangsrekrutierungen kleiner Kinder für Klösterdienste und sonstiger religiöser Kindesmißbrauch, so wie im alten Tibet, nicht unter dem Signum “Religionsfreiheit” zugelassen werden.
Der Dalai Lama und seine Gruppierung müßten hingegen endlich ohne Zweideutigkeiten einräumen, daß das "autonome Gebiet" Tibet im aktuell staatsrechtlichen Sinne zur "Volksrepublik" China gehört, so wie es jetzt de facto ohnehin der Fall ist. Und wie es, unabhängig von der jeweiligen historischen Staatsverfassung, in einem, so Nentwig, "übergeordneten kulturellen Sinne" auch immer schon war. (PK)
Teil 2 folgt in der nächsten NRhZ. Siehe hierzu auch den Offenen Brif an den chinesischen Botschafter in dieser NRhZ-Ausgabe.
Online-Flyer Nr. 147 vom 21.05.2008