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Arbeit und Soziales
Offener Brief an Frau Dr. Rita Knobel-Ulrich
Prämierte Ahnungslosigkeit
Aktive Erwerbslose in Deutschland

Dr. Rita Knobel-Ulrich – von Anne Will in der Sendung „Anne Will" am 25. Mai als „mehrfach ausgezeichnete" Journalistin gepriesen – gibt ein Beispiel dafür, wie man prämiert werden kann, auch wenn die Nähe zur berichteten Wirklichkeit ziemlich fern ist, entrüstet sich die Berliner Montagsdemo – die Redaktion.

Sehr geehrte Frau Knobel-Ulrich,

am 25.05.2008 haben Sie in der Sendung „Anne Will“ in der ARD – unter anderem – folgende Äußerung getätigt:

„Hartz IV alimentiert die Menschen ganz gut. Vater, Mutter und zwei Kinder bekommen 345 Euro pro Erwachsenen, 247 Euro pro Kind, plus Wohngeld, plus Heizung, plus Strom, plus Krankenversicherung. Das sind circa 2.000 Euro im Monat. Das muss man erst mal verdienen! Ein Mann, der vielleicht der einzige Verdiener ist, der im Kindergarten den höchsten Satz zahlt, weil man sagt ‚Du hast ja Arbeit‘, der jeden Tag sieht, dass seine Tankfüllung teurer wird, dem nicht angeboten wird, dass er ein Sozialticket für die U-Bahn bekommt, der muss mit diesen 2.000 Euro ganz schön haushalten."

Wir, die Aktiven Erwerbslosen in Deutschland, verwahren uns nachdrücklich gegen die Behauptung, wir, die wir betroffen sind, würden „ganz gut alimentiert". Weiter sind wir entsetzt über Ihre offenkundige Unkenntnis verschiedener Fakten, die einer Journalistin, die mehrfach ausgezeichnet wurde, nicht nachzusehen ist. Dass Sie nicht einmal wissen, welche Leistungen Hartz-IV-Anspruchsberechtigte tatsächlich bekommen, ist noch der geringste Punkt.

Hartz-IV-Anspruchsberechtigte müssen von 347 Euro ihren Strom selber zahlen, ebenso Warmwasser oder Gas zum Kochen. Ehepartner oder Lebensgefährten in einer Bedarfsgemeinschaft erhalten nur 90 Prozent des Regelsatzes, also 312 Euro, und Sozialtickets gibt es zwar in einigen größeren Städten, die Masse der Erwerbslosen zahlt aber die vollen Preise. Hartz-IV-Anspruchsberechtigte bekommen auch kein „Wohngeld“, das ist eine ganz andere Leistungsart, vielmehr übernimmt die zuständige ARGE Mietkosten in „angemessener Höhe". In welcher Höhe Kosten als angemessen anzusehen sind, richtet sich nach den örtlichen Gegebenheiten und ist nicht bundeseinheitlich geregelt.

Schade, Frau Dr. Knobel-Ulrich, dass Sie nicht einmal diese einfachen Fakten sorgfältig recherchiert haben! Dabei hätten Sie nur einen kurzen Blick in das Informationsheft der Bundesagentur für Arbeit zum SGB II werfen müssen, das in jeder Geschäftsstelle ausliegt.

Was war Ihre Antwort auf die Frage „Was würden Sie als ALG-II-Empfängerin machen, wenn Ihre Waschmaschine kaputt geht?“? Sie sagten: „Dann würde ich in den Waschsalon gehen." Genau das würden Sie nicht tun, denn Sie hätten nicht das Geld dafür, falls Sie überhaupt in einer Gegend wohnten, in der es so etwas gibt.

Hartz-IV-Anspruchsberechtigte sollen von 347 Euro oder weniger Gas und Strom zahlen, Telefon und Versicherungen, darüber hinaus auch noch Rücklagen für Neuanschaffungen bilden, Bus- oder Bahntickets kaufen, Praxisgebühren und Medikamentenzuzahlungen leisten. Eltern behinderter Kinder sollen vom Regelsatzanteil der Kinder (347 Euro = 100 %) zusätzlich sogar noch Teile notwendiger Therapiekosten tragen. Nach diesen ganzen Abzügen reicht die Differenz nicht einmal mehr für die Lebensmittel nach Art der „Sarrazin-Diät".

Der Familienvater, der 2.000 Euro nach Hause bringt, bekommt wenigstens noch das Kindergeld zusätzlich, das den Eltern in Hartz-IV-Familien nicht zur Verfügung steht und vermutlich auch Wohngeld. Außerdem vergleichen Sie offenbar das Brutto-Einkommen der Hartz-IV-Anspruchsberechtigten mit dem Netto-Einkommen eines Erwerbstätigen. Ihr Beispiel hinkt, Frau Knobel-Ulrich!

Wie sagten Sie noch in der TV-Sendung? „Ich habe genug Menschen kennengelernt, die sich in ihrer Arbeitslosigkeit eingerichtet haben." Das glauben wir Ihnen gern, denn Sie haben ja offenbar genau nach diesen gesucht. Eine alte Erfahrung ist, dass man immer das findet, was man sucht. Natürlich gibt es einzelne Fälle, auf die das, was Sie behaupten, zutrifft, aber das ist kein Grund, einen Generalverdacht in der Art zu äußern, als ob rund acht Millionen Deutsche Sozialschmarotzer wären. Ein automatisierter Datenabgleich von 3,2 Millionen Datensätzen im Oktober 2005 ergab knapp 60.000 Fälle von nicht angegebenen Einkommen (1,9 Prozent). Dabei wurden auch die Fälle erfasst, in denen ein Einkommen erzielt, aber nicht rechtzeitig oder aus Unkenntnis nicht angegeben oder doch angegeben worden war, aber im Chaos der Behörde unter den Tisch gefallen war. Nur in 22.900 Fällen bestand der Verdacht einer Ordnungswidrigkeit oder einer Straftat aufgrund falscher Angaben. Nur in 4.200 Fällen wurde der Anspruch auf ALG II gestrichen. Bezogen auf die Zahl von 3,2 Millionen Datensätzen ist das wirklich ein „ganz immenser Missbrauch".

Ein Bericht darüber ist natürlich längst nicht so spannend wie eine „Reportage" über zwar verhältnismäßig wenige Leute, die sich aber so durchmogeln und die man dann mit geschätzten acht Millionen anderer Bedürftiger polemisch-populistisch in denselben Topf werfen kann. Gute journalistische Arbeit ist das jedenfalls nicht.

Ich zitiere aus der Präambel des Grundsatzprogramms des Deutschen Journalisten-Verbandes:

„Presse und Rundfunk haben im demokratischen Staat die Aufgabe, die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger so zu informieren, dass sie am Prozess der demokratischen Meinungs- und Willensbildung teilnehmen können …
Den aus dem Grundgesetz Presse und Rundfunk verbrieften Rechten muss die Pflicht der Journalistin und des Journalisten zu einer sachlichen und fairen Berichterstattung entsprechen…
Aufgabe und Verantwortung von Journalistinnen und Journalisten ist es insbesondere, die Rechte einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers auf Achtung und Schutz der Menschenwürde, auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf freie Unterrichtung aus allgemein zugänglichen Quellen zu wahren…
Ethische Grundprinzipien für die Arbeit der Journalistinnen und Journalisten sind die Absage an Intoleranz, Rassismus, Totalitarismus und Fremdenfeindlichkeit."

Wann wollen Sie, was die Erwerbslosen betrifft, damit anfangen, Frau Knobel-Ulrich?

Mit freundlichen Grüßen

Marion Oberender
Aktive Erwerbslose in Deutschland (HDH)

Die „Aktiven Erwerbslosen in Deutschland" haben eine Aktion gestartet, an der man sich beteiligen und über die falsche Berichterstattung beschweren kann. Der offene Brief geht an die Deutsche Welle, den Deutschen Journalistenverband und die WILL MEDIA GMBH, sowie die Redaktionen von ARD, WDR und SWF. Wir weisen darauf hin, dass diese Aktion keine Aktion der Neuen Rheinischen Zeitung ist und allein in der Verantwortung der Initiatoren liegt.

Wer sich beteiligen will, kann hier klicken!



Online-Flyer Nr. 148  vom 28.05.2008



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