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Israel: Überlebende des Holocaust in Bedrängnis
„Die siebte Million“
Von Philipp Holtmann
Jetzt hat das israelische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das ab April 2008 in Kraft getreten ist. Es soll denjenigen finanziell helfen, die bislang durch die Maschen der Entschädigung gefallen sind. Das Problem ist so fundamental, dass der Kontrollausschuss der israelischen Knesset im Januar eine Untersuchungskommission einsetzte, die das Verhalten israelischer Regierungen gegenüber Holocaustopfern der letzten 60 Jahre untersuchen soll.
Dalia Dorner | Foto: Jon Klinger
Dalia Dorner, ehemalige Richterin des obersten israelischen Gerichtshofs und Leiterin der Kommission, hat seit Anfang Februar etliche Überlebende als Zeugen vernommen. Auszüge aus dem Protokoll zeichnen ein düsteres und emotionales Bild: Abraham B. zum Beispiel, der für die rumänischen Juden spricht, sieht die schlechte Behandlung von Holocaustopfern tief in der vorstaatlichen Yishuvgesellschaft verwurzelt. Seine Aussage beschreibt ein Gefühl der Hilflosigkeit, das bis heute anhält. In der israelischen Nachkriegs- gesellschaft, sagt er, seien die Überlebenden oftmals mit dem Ausdruck „menschlicher Staub“ bezeichnet worden.
Auch Noach Flug, Vorsitzender des israelischen Dachverbandes der Holocaustüberlebenden Merkaz Ha Irgunim sagte Anfang Februar vor der Untersuchungskommission aus. Der 83jährige Flug, der das Ghetto Lodz, Auschwitz und dann den Todesmarsch von Großrosen nach Matthausen überlebte, gab zu Protokoll, die Juden Osteuropas, die in der ehemaligen Sowjetunion lebten, seien nicht richtig entschädigt worden, da sie nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz fielen. Doch laut Flugs Aussage betraf dies nicht nur die osteuropäischen, sondern auch die nach Israel eingewanderten Überlebenden. Im Laufe der Jahre, so Flug, sei so eine Kluft zwischen denen, die von Deutschland und jenen die von Israel entschädigt wurden, entstanden.
Die hohe Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Holocaustüberlebenden in Israel erklärt sich auch und vor allem durch die Einwanderung vieler russischer Juden. Viele der älteren Einwanderer, die vor dem Ende des zweiten Weltkrieges geboren sind, gelten als Opfer der Naziverfolgung. Laut Merkaz Ha Irgunim sind die Überlebenden und auf Entschädigung Berechtigten, in zwei Gruppen einzuordnen.
Von der Roten Armee aus dem KZ befreite Kinder
Die erste Gruppe litt in Konzentrationslagern, Ghettos oder unter direkter deutscher Besatzung. Dies sind 80.000 bis 85.000 Überlebende, von denen ungefähr 8.000 heute unter der Armutsgrenze leben. Die zweite Gruppe sind ehemalige Flüchtlinge, die aus Städten wie Kiew oder Bialistok flohen, bevor die Wehrmacht sie eroberte. Sie kamen seit den 90er Jahren nach Israel. Hier geht man von 160.000 Personen aus, von denen bis zu 80.000 unter der Armutsgrenze leben.
Das israelische Brokdale Institut für angewandte Sozialforschung veröffentlichte ähnliche Zahlen, aufgrund der hohen Sterberate mit einer rapide sinkenden Tendenz. Noach Flug, der Leiter des Dachverbandes, sagte: „Die Finanzlage der zweiten Gruppe ist am schlimmsten. Materiell sind sie in der schwersten Situation. Sie kamen alt und arbeitsunfähig nach Israel und leben von der Nationalen Versicherung, sowie staatlicher Gehaltsergänzung, zusammen ungefähr von 370 Euro pro Monat.“
Die Knesset – auch finanziell in Schieflage? | Foto: Joshua Paquin CC
Israel konnte die Mehrzahl der über 62jährigen russischen Immigranten nicht über eine herkömmliche Altersrente abdecken, da sie nie in Israel gearbeitet hatten. Es stellt sich die Frage, ob viele der schlecht gestellten alten Immigranten über die Holocaustopfer-Regelung abgedeckt werden sollen, was auf Kosten des staatlichen Gesamtbudgets für Überlebende ginge. Auch beschränkt sich eine schlechte Altersfürsorge nicht auf die Holocaustüberlebenden Israels, sondern betrifft die Gesamtbevölkerung. Laut Armutsberichts des Nationalen Versicherungsinstituts von 2007 leben 23,5 Prozent, also fast ein Viertel der Israelis, im Rentenalter unter der Armutsgrenze: Sie haben weniger als 375 Euro im Monat pro Person oder 600 für ein Ehepaar zur Verfügung.
Der 82jährige Noach Klieger, der seit 50 Jahren für die israelische Tageszeitung Yediot Acharonot schreibt, sieht es ähnlich. Als Mitglied der Ausschwitz-Boxstaffel musste er sich unter den Augen des SS-Hauptsturmführers Heinrich Schwarz mit anderen KZ-Häftlinge prügeln. „Es ist tatsächlich sehr schwer von 2000 Shekeln im Monat zu leben. Aber das ist kein Monopol der Holocaust Überlebenden, sondern hängt mit der schlechten Altersfürsorge des Staates zusammen. Es gibt keine 250.000 Überlebenden, und es gibt keine 80.000 notleidenden Überlebenden in Israel. Das ist eine Frage der Statistik und wird gewaltig aufgebauscht. Man sieht ja auch, dass die nicht böse auf die Deutschen sind, sondern auf den israelischen Staat. Der wahre Grund ist, dass die von Israel kompensierten jahrelang weniger bekommen haben als die anderen aus Deutschland.“
An diesem heißen Thema hatte sich die Regierung Olmert letztes Jahr verbrannt. Der Itzkowitz-Ausschuss zur Untersuchung der Lage bedürftiger Überlebender, im Frühjahr 2007 von Wohlfahrtsminister Isaak Herzog beauftragt, begann seine Arbeit mit einer breit angelegten Definition des Begriffs „Holocaustüberlebender.“ Der Ausschuss ordnete 250.000 Menschen in diese Kategorie ein, die während des zweiten Weltkrieges unter deutscher Besatzung oder in einem Land lebten, das mit Deutschland kooperierte.
Ehud Olmert: Reale Hilfe oder beschwichtigende Gesten?
Foto: Antonio Milena/AgeniciaBrasil
Letztlich empfahl der Ausschuss, diejenigen finanziell zu unterstützen, die sich während des Zweiten Weltkriegs innerhalb Deutschlands unter deutscher Besatzung oder in einem Land, dass mit Deutschland kooperierte in Ghettos, Konzentrationslagern, Arbeitslagern oder Verstecken befunden hatten. Zusammen waren es etwa 55.000 Personen. Aus einem Budget von 700 Millionen Shekeln empfahl die Kommission, rund 1000 Shekel monatlich an jedes Opfer zu zahlen.
Die Regierung Olmert sprach sich allerdings dafür aus, finanziell schlecht gestellte Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die als Holocaustflüchtlinge gelten, mit einzubeziehen, was die Zahl auf 120.000 erhöhte. Gleichzeitig unterlief das Budget für Holocaustüberlebende einer drastischen Kürzung. Das Ergebnis war eine vorgeschlagene Zuwendung von etwa 80 Shekeln pro Monat, was einen empörten Aufschrei von Seiten der Opfer und ihrer Organisationen auslöste. (CH)
Online-Flyer Nr. 149 vom 04.06.2008
Israel: Überlebende des Holocaust in Bedrängnis
„Die siebte Million“
Von Philipp Holtmann
Jetzt hat das israelische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das ab April 2008 in Kraft getreten ist. Es soll denjenigen finanziell helfen, die bislang durch die Maschen der Entschädigung gefallen sind. Das Problem ist so fundamental, dass der Kontrollausschuss der israelischen Knesset im Januar eine Untersuchungskommission einsetzte, die das Verhalten israelischer Regierungen gegenüber Holocaustopfern der letzten 60 Jahre untersuchen soll.
Dalia Dorner | Foto: Jon Klinger
Auch Noach Flug, Vorsitzender des israelischen Dachverbandes der Holocaustüberlebenden Merkaz Ha Irgunim sagte Anfang Februar vor der Untersuchungskommission aus. Der 83jährige Flug, der das Ghetto Lodz, Auschwitz und dann den Todesmarsch von Großrosen nach Matthausen überlebte, gab zu Protokoll, die Juden Osteuropas, die in der ehemaligen Sowjetunion lebten, seien nicht richtig entschädigt worden, da sie nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz fielen. Doch laut Flugs Aussage betraf dies nicht nur die osteuropäischen, sondern auch die nach Israel eingewanderten Überlebenden. Im Laufe der Jahre, so Flug, sei so eine Kluft zwischen denen, die von Deutschland und jenen die von Israel entschädigt wurden, entstanden.
Die hohe Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Holocaustüberlebenden in Israel erklärt sich auch und vor allem durch die Einwanderung vieler russischer Juden. Viele der älteren Einwanderer, die vor dem Ende des zweiten Weltkrieges geboren sind, gelten als Opfer der Naziverfolgung. Laut Merkaz Ha Irgunim sind die Überlebenden und auf Entschädigung Berechtigten, in zwei Gruppen einzuordnen.
Von der Roten Armee aus dem KZ befreite Kinder
Die erste Gruppe litt in Konzentrationslagern, Ghettos oder unter direkter deutscher Besatzung. Dies sind 80.000 bis 85.000 Überlebende, von denen ungefähr 8.000 heute unter der Armutsgrenze leben. Die zweite Gruppe sind ehemalige Flüchtlinge, die aus Städten wie Kiew oder Bialistok flohen, bevor die Wehrmacht sie eroberte. Sie kamen seit den 90er Jahren nach Israel. Hier geht man von 160.000 Personen aus, von denen bis zu 80.000 unter der Armutsgrenze leben.
Das israelische Brokdale Institut für angewandte Sozialforschung veröffentlichte ähnliche Zahlen, aufgrund der hohen Sterberate mit einer rapide sinkenden Tendenz. Noach Flug, der Leiter des Dachverbandes, sagte: „Die Finanzlage der zweiten Gruppe ist am schlimmsten. Materiell sind sie in der schwersten Situation. Sie kamen alt und arbeitsunfähig nach Israel und leben von der Nationalen Versicherung, sowie staatlicher Gehaltsergänzung, zusammen ungefähr von 370 Euro pro Monat.“
Die Knesset – auch finanziell in Schieflage? | Foto: Joshua Paquin CC
Israel konnte die Mehrzahl der über 62jährigen russischen Immigranten nicht über eine herkömmliche Altersrente abdecken, da sie nie in Israel gearbeitet hatten. Es stellt sich die Frage, ob viele der schlecht gestellten alten Immigranten über die Holocaustopfer-Regelung abgedeckt werden sollen, was auf Kosten des staatlichen Gesamtbudgets für Überlebende ginge. Auch beschränkt sich eine schlechte Altersfürsorge nicht auf die Holocaustüberlebenden Israels, sondern betrifft die Gesamtbevölkerung. Laut Armutsberichts des Nationalen Versicherungsinstituts von 2007 leben 23,5 Prozent, also fast ein Viertel der Israelis, im Rentenalter unter der Armutsgrenze: Sie haben weniger als 375 Euro im Monat pro Person oder 600 für ein Ehepaar zur Verfügung.
Der 82jährige Noach Klieger, der seit 50 Jahren für die israelische Tageszeitung Yediot Acharonot schreibt, sieht es ähnlich. Als Mitglied der Ausschwitz-Boxstaffel musste er sich unter den Augen des SS-Hauptsturmführers Heinrich Schwarz mit anderen KZ-Häftlinge prügeln. „Es ist tatsächlich sehr schwer von 2000 Shekeln im Monat zu leben. Aber das ist kein Monopol der Holocaust Überlebenden, sondern hängt mit der schlechten Altersfürsorge des Staates zusammen. Es gibt keine 250.000 Überlebenden, und es gibt keine 80.000 notleidenden Überlebenden in Israel. Das ist eine Frage der Statistik und wird gewaltig aufgebauscht. Man sieht ja auch, dass die nicht böse auf die Deutschen sind, sondern auf den israelischen Staat. Der wahre Grund ist, dass die von Israel kompensierten jahrelang weniger bekommen haben als die anderen aus Deutschland.“
An diesem heißen Thema hatte sich die Regierung Olmert letztes Jahr verbrannt. Der Itzkowitz-Ausschuss zur Untersuchung der Lage bedürftiger Überlebender, im Frühjahr 2007 von Wohlfahrtsminister Isaak Herzog beauftragt, begann seine Arbeit mit einer breit angelegten Definition des Begriffs „Holocaustüberlebender.“ Der Ausschuss ordnete 250.000 Menschen in diese Kategorie ein, die während des zweiten Weltkrieges unter deutscher Besatzung oder in einem Land lebten, das mit Deutschland kooperierte.
Ehud Olmert: Reale Hilfe oder beschwichtigende Gesten?
Foto: Antonio Milena/AgeniciaBrasil
Letztlich empfahl der Ausschuss, diejenigen finanziell zu unterstützen, die sich während des Zweiten Weltkriegs innerhalb Deutschlands unter deutscher Besatzung oder in einem Land, dass mit Deutschland kooperierte in Ghettos, Konzentrationslagern, Arbeitslagern oder Verstecken befunden hatten. Zusammen waren es etwa 55.000 Personen. Aus einem Budget von 700 Millionen Shekeln empfahl die Kommission, rund 1000 Shekel monatlich an jedes Opfer zu zahlen.
Die Regierung Olmert sprach sich allerdings dafür aus, finanziell schlecht gestellte Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die als Holocaustflüchtlinge gelten, mit einzubeziehen, was die Zahl auf 120.000 erhöhte. Gleichzeitig unterlief das Budget für Holocaustüberlebende einer drastischen Kürzung. Das Ergebnis war eine vorgeschlagene Zuwendung von etwa 80 Shekeln pro Monat, was einen empörten Aufschrei von Seiten der Opfer und ihrer Organisationen auslöste. (CH)
Online-Flyer Nr. 149 vom 04.06.2008