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Lokales
Das Buch über die Internationalen Essener Songtage 1968
„Zappa, Zoff und Zwischentöne“
Von Detlev Mahnert, Harry Stürmer und Peter Kleinert
Rick Abao – geboren in New Orleans,
lebte seit 1967 in Köln
Foto:Jens Hagen
Internationale Essener Song Tage 1968. Fünf Tage lang ein Neben- und Miteinander von Anarcho-Kabarettisten und Popkommune, sanften Folk-Sängerinnen und aggressiven Polit-Poeten, Könnern und Dilettanten. Eine Manifestation der Untergrundkultur und ihrer Musik.
IEST 68. Rock und Freejazz. Folksongs und Heine-Lieder. Zigeunerswing und sphärische Synthesizerklänge. Blues und Chanson. Happenings, Nonsens-Kabarett, Multi Media-Shows. Referate, geplante und erzwungene Diskussionen. 200 Musiker aus zehn Ländern und zwei Kontinenten, an fünf Tagen 40 Veranstaltungen vor 40.000 Besuchern. Ein paar kleinere Skandale, eine Staatsanwaltschaft, die ermitteln muss, wo es nichts zu ermitteln gibt. Eine Stadt, die viel Geld investiert und ein ganzes Jugendamt freistellt, damit es zusammen mit fünf jungen Männern Mitte zwanzig bis Anfang dreißig ein bis dahin einmaliges Festival auf die Beine stellen kann. Ein Festival, das jedes Potenzial hatte, zu den ganz großen der Popgeschichte gezählt zu werden. Ein Festival, das selbst in der Stadt, die es ermöglicht hatte, nahezu unbekannt geblieben ist.
Franz-Josef Degenhardt im Jugendzentrum beim „Deutschen Liederabend“
Foto: Manfred Scholz/Stiftung Fotoarchiv Ruhr Museum
Warum die Songtage keine nachhaltige Wirkung hatten, darüber ließe sich lange diskutieren. Sicher, Fachleute haben gelegentlich die Bedeutung der IEST für die Entwicklung einer deutschen Rockmusik thematisiert: „die essener songtage 1968 markieren die geburtsstunde einer eigenständigen deutschen (rock)musik, die sich von angloamerikanischen vorbildern löste“ (1). Im „Zeitwort“ des Südwestrundfunks vom 25. September 2007 heißt es: „Im Rückblick erscheinen die ‚Songtage‘ […] als bedeutender Meilenstein der Pophistorie Deutschlands.“ Uwe Husslein, einer der besten Kenner der Materie, befand, die Songtage seien „in der Tat zu einem einmaligen Erlebnis deutscher Popgeschichte“ geworden (2).
Und immerhin: In seinem halb-dokumentarischen Roman „Das Geschäftsjahr 1968/69“ nennt Bernd Cailloux die Songtage „ein Ereignis, das jedem, der dabei war, für immer im Gedächtnis bleiben würde – ein Urerlebnis und doch nur eine gestohlene Weltsekunde …“ (3) In einem Roman also, na gut – aber sonst? Im allgemeinen Bewusstsein sind die Essener Songtage kaum verankert. So mailte uns etwa der Betreiber der Website „UK-Psych“, die u. a. auch über die „Blossom Toes“ berichtet: „I’m surprised I haven‘t heard of that festival, sounds huge and especially for being 1968!“
Im viel gelobten Rock-Lexikon von Siegfried Schmidt-Joos und Barry Graves (4) findet der wissbegierige Leser Artikel über Monterey, Woodstock (natürlich), das Gemetzel von Altamont, das Hyde Park-Konzert der Rolling Stones, das American Folk- und Blues Festival in Baden-Baden, das Concert for Bangla Desh, das Newport Folk Festival, das Newport Jazz Festival – aber kein Wort über die Songtage. Und das, obwohl (nein: weil) Schmidt-Joos Mitglied des „Brain-Trusts“ der IEST war! (5)
Bernd Witthüser – IEST-Geschäftsführer
und „Protestsänger des Ruhrgebiets“
Witthüser.JPG
Foto: Jens Hagen
Über die Fugs liest man bei „Wikipedia“, dass sie 1968 in Skandinavien auf Tour waren; keine Rede davon, dass sie 1968 auch in Essen aufgetreten sind. Dass Ulrich Roski Preisträger beim Nachwuchswettbewerb der Songtage war – nirgends zu lesen. Auch auf der „official website“ von Frank Zappa ist das Essener Festival nicht erwähnt. Im Wikipedia-Artikel über Dieter Süverkrüp konnte man gar erfahren, die Essener Songtage hätten ab 1969 das Waldeck-Festival abgelöst… Wenn man bei Google sucht, findet man zu den Songtagen etwas über dreizehnhundert Einträge. Wenn man „Woodstock“ eingibt, antwortet die Suchmaschine fast 19 Millionen mal… Fragt man jüngere Essener Bürger nach den Songtagen, so zucken sie mit den Schultern. Nie gehört. Ältere packen Erinnerungsfetzen aus: „Songtage? War das nicht so ein Hippie-Fest, wo sie den Oberbürgermeister mit Bierdeckeln beworfen haben…?“
Die Kulturhauptstadt 2010 ist mit einem Teil ihrer kulturellen Geschichte grob fahrlässig umgegangen.
Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Die Essener haben die große Schau schon damals gar nicht so recht wahrgenommen, und außerdem verhinderte das Credo der Festivalmacher, sich vom Kommerz, von kapitalistischen Einflüssen frei zu halten, dass ein Devotionalienhandel in die Gänge kommen konnte: Es gab keine IEST-LP, keine Aufkleber, keine Poster. Und auch die Stadt Essen, immerhin Mitveranstalter, hat das Ereignis jahrelang schamhaft verschwiegen. Zu heftig war wohl die Kritik aus konservativen Kreisen, zu empört war man über die kindischen Angriffe auf den Oberbürgermeister der Stadt, die das Festival doch überhaupt erst ermöglicht hatte. Angst vor dem eigenen Mut, fehlende Einsicht in die Bedeutung dessen, was man da in den eigenen Mauern ermöglicht hatte? „Der Mut der Stadt Essen zu einer solchen Veranstaltung ist beachtlich“, heißt es in dem noch 1968 fertig gestellten Film des Bayerischen Rundfunks. (6) „Dass die Stadt im Nachhinein auch unter dem Eindruck einiger Kritiken Angst vor der eigenen Courage bekam, ist bedauerlich.“
F.J. Degenhardt, Rolf Ulrich Kaiser,
Thomas Schröder, Henryk M. Broder,
Martin Degenhardt
Zeichnung: Jürgen von Tomei
Dieses Buch will die Essener Songtage der Vergessenheit entreißen, ehe die Zeitzeugen alle dahingegangen sind. Es ist eine Bestandsaufnahme dessen, was geplant war und was verwirklicht worden ist, eine Schilderung des Festes und all dessen, was drum herum passierte. Natürlich versucht es, die Ereignisse wahrheitsgemäß darzustellen und aus heutiger Sicht kritisch zu bewerten, aber es ist keine wissenschaftliche Analyse des musikalischen und gesellschaftspolitischen Geschehens in jenen Tagen. Es gibt genügend Menschen, die das hätten leisten können, die mit ihren viel weiter reichenden Kenntnissen über die Musik jener Zeit, mit ihrem viel tieferen Einblick in politische und gesellschaftliche Zusammenhänge eine gültige Bewertung hätten abgeben und schärfer und fundierter die politischen Ereignisse kommentieren können. Sie hatten 40 Jahre Zeit dafür, aber sie haben es nicht getan.
So ist eben ein Buch ohne den Anspruch wissenschaftlicher Exaktheit entstanden. Es ist subjektiv und parteilich. Es ist subjektiv, weil all jene, die zu diesem Fest beigetragen haben, damit ganz Persönliches verbinden, überwiegend positiv besetzte Erinnerungen. Es ist parteilich, weil es Geschichte auch durch Geschichten schreibt. Es ist ein Buch mit Geschichte von unten. Von Machern, von Mitmachern, von Besuchern. Sie schildern ihre ganz persönliche Begegnung mit diesem Festival. Und für die, die sich hier zu Wort gemeldet haben, waren die Essener Songtage mehr als nur eine Aneinanderreihung einzelner Konzerte. Deshalb ist dieses Buch subjektiv, parteilich – und es ist trotz allem wahr. Aus den gleichen Gründen.
Das Buch stellt die Songtage in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang des legendären Jahres 1968, fokussiert auf die Stadt Essen in diesem Jahr. Es versucht aus Erinnerungen und zeitgeschichtlichen Dokumenten den Ablauf des Geschehens zu vergegenwärtigen, und es zeichnet Lebenslinien nach von Menschen, für die die Internationalen Essener Songtage zu einem Höhe-, Dreh- oder Wendepunkt ihrer eigenen Geschichte geworden sind – als Wegweiser, Wegscheiden, Auslöser oder Katalysator einer inneren Bewegung.
Zu danken haben wir den ungemein hilfsbereiten Mitarbeiterinnen des Essener Stadtarchivs, dem deutschen Kabarett-Archiv in Mainz, René Grohnert, dem Leiter des Essener Plakatmuseums und Dr. Lutz Neitzert vom SWR. Ein großes Dankeschön geht auch an Dorothee Joachim für die Fotos von Jens Hagen. (7)
Zu danken haben wir aber vor allem auch unseren Mit-Autoren, die mit bewegender Offenheit ihr Leben ausgebreitet und Irrtümer, Verwerfungen, Verirrungen nicht ausgespart haben. Die hin und wieder nicht nur angedeuteten Abweichungen vom rechten Pfad der Tugend sind verjährt. Wie einzelne ihren eigenen Umgang mit illegalen Drogen bewerten, darüber haben wir nicht zu urteilen. Es hat keine Zensur gegeben, und ein Buch über das Jahr 1968, in dem von „Sex and Drugs and Rock’n’Roll“ nur letzterer übrig bliebe, wäre unredlich.
Dies ist keine salvatorische Klausel, sondern ein Hinweis darauf, dass heute aus den Erfahrungen von 40 Jahren manches anders gesehen werden muss als damals. Wir wissen, dass dem Summer of Love sehr bald ein kälterer Herbst folgte, dass viele, zu viele junge Menschen mit dem nicht umgehen konnten, was ihnen damals als der Weg zur Selbsterfahrung und -verwirklichung, als Aufbruch in eine neue, bessere Welt gepriesen wurde.
In diesem Buch wird manches erläutert, was denen, die die Zeit selbst erlebt haben, als selbstverständlich erscheint. Das mag überflüssig erscheinen, aufgesetzt, belehrend gar. Aber das Buch wendet sich nicht nur an die, die dabei waren – es soll einen Beitrag leisten zur Aufarbeitung der 1960er Jahre, auf die gerade junge Menschen mehr und mehr neugierig geworden sind.
Soweit das Vorwort der beiden Autoren, das wir hier anstatt einer ursprünglich beabsichtigten Rezension wiedergegeben haben. Wie „nah dran“ sie selbst - „Der Lehrer Detlev Mahnert“ und „Der Terrorist Harry Stürmer“ - an dem Ereignis waren, warum und wie sie in die politischen Bewegungen der 60er Jahre hinein gerieten, erfahren die LeserInnen neben zahlreichen weiteren hoch interessanten Lebensläufen von Zeitzeugen und Teilnehmern der Songtage. Und sie erfahren z.B. auch vom Aufstand der Essener Lehrlinge, der ein „Signal für die ganze Republik“ wurde, und vom Aufstand der Gläubigen auf dem 82. Deutschen Katholikentag in Essen gegen „Pillen-Paule“, der unter dem Namen Papst Paul VI. mit seiner Enzyklika kurz zuvor das Verbot jeder Geburtenregelung feierlich bekräftigt hatte. Die Antwort des kommunistischen Liedermachers Dieter Süverkrüp ein paar Tage nach dem Katholikentag haben während seines Auftritts auf den Songtagen hunderte junge Christen begeistert mitgesungen:
Der Heil’ge Vater ist ein Kapaun.
Zumindest wär’s ihm zuzutrau’n,
bedenkt man die Enzyklika -
Halleluja!
Seit er vernahm im Vatikan,
was jeder brave Vati kann,
sind seine Depressionen da -
Halleluja!
Der Mensch liebt öfter, so er kann,
Die Pille-Frau den Pille-Mann,
denn dazu sind die Dinger da -
Halleluja!
Fazit von Detlev Mahnert: Essen war damals gar nicht so verschlafen wie viele außerhalb der Stadt meinten. „Die Solidarisierung der intellektuellen Protestbewegung gelang in Essen eher als anderswo...“
Fazit des Redakteurs: "Ich habe in den vergangenen Monaten einige Bücher über '68 gelesen. Nur wenige waren so gut recherchiert (die Autoren haben sogar in NRhZ Nummer 74 unseren Film über Floh de Cologne entdeckt,- "das damals sicher schärfste politische Kabarett der Republik"), so frei von Vorurteilen, so spannend geschrieben, so lesenswert wie ZAPPA, ZOFF UND ZWISCHENTÖNE. (PK)
(1) http://siemers.wordpress.com/2006/09/29/essener-songtage-1968-amon-duul >.
(2)„Tief im Westen …“, Emons Verlag 1999/Uwe Husslein musik komm./Köln.
(3) Bernd Cailloux, Das Geschäftsjahr 1968/69. Frankfurt 2005. edition suhrkamp 2408, S. 66.
(4) Siegfried Schmidt-Joos, Barry Graves: Rock-Lexikon. Reinbek 1973: Rowohlt.
(5) Zu der Auseinandersetzung IEST – Siegfried Schmidt-Joos s. S. 308.
(6) Henric L. Wuermeling, Zwischen Pop und Politik. Die IEST 68. Bayerischer Rundfunk 1968.
(7) Die Fotos entstammen dem Buch „mach mal bitte platz, wir müssen hier stürmen. Als der Beat nach Deutschland kam“. Fotografien von Jens Hagen. Köln: M7 Verlag, 2000.
Detlev Mahnert / Harry Stürmer:
Zappa, Zoff und Zwischentöne
Die Internationalen Essener Songtage 1968
erschienen am 24.06.2008
310 Seiten, zahlreiche Abbildungen, € 22,90
ISBN 978-3-89861-936-3
Online-Flyer Nr. 158 vom 06.08.2008
Das Buch über die Internationalen Essener Songtage 1968
„Zappa, Zoff und Zwischentöne“
Von Detlev Mahnert, Harry Stürmer und Peter Kleinert
Rick Abao – geboren in New Orleans,
lebte seit 1967 in Köln
Foto:Jens Hagen
IEST 68. Rock und Freejazz. Folksongs und Heine-Lieder. Zigeunerswing und sphärische Synthesizerklänge. Blues und Chanson. Happenings, Nonsens-Kabarett, Multi Media-Shows. Referate, geplante und erzwungene Diskussionen. 200 Musiker aus zehn Ländern und zwei Kontinenten, an fünf Tagen 40 Veranstaltungen vor 40.000 Besuchern. Ein paar kleinere Skandale, eine Staatsanwaltschaft, die ermitteln muss, wo es nichts zu ermitteln gibt. Eine Stadt, die viel Geld investiert und ein ganzes Jugendamt freistellt, damit es zusammen mit fünf jungen Männern Mitte zwanzig bis Anfang dreißig ein bis dahin einmaliges Festival auf die Beine stellen kann. Ein Festival, das jedes Potenzial hatte, zu den ganz großen der Popgeschichte gezählt zu werden. Ein Festival, das selbst in der Stadt, die es ermöglicht hatte, nahezu unbekannt geblieben ist.
Franz-Josef Degenhardt im Jugendzentrum beim „Deutschen Liederabend“
Foto: Manfred Scholz/Stiftung Fotoarchiv Ruhr Museum
Warum die Songtage keine nachhaltige Wirkung hatten, darüber ließe sich lange diskutieren. Sicher, Fachleute haben gelegentlich die Bedeutung der IEST für die Entwicklung einer deutschen Rockmusik thematisiert: „die essener songtage 1968 markieren die geburtsstunde einer eigenständigen deutschen (rock)musik, die sich von angloamerikanischen vorbildern löste“ (1). Im „Zeitwort“ des Südwestrundfunks vom 25. September 2007 heißt es: „Im Rückblick erscheinen die ‚Songtage‘ […] als bedeutender Meilenstein der Pophistorie Deutschlands.“ Uwe Husslein, einer der besten Kenner der Materie, befand, die Songtage seien „in der Tat zu einem einmaligen Erlebnis deutscher Popgeschichte“ geworden (2).
Und immerhin: In seinem halb-dokumentarischen Roman „Das Geschäftsjahr 1968/69“ nennt Bernd Cailloux die Songtage „ein Ereignis, das jedem, der dabei war, für immer im Gedächtnis bleiben würde – ein Urerlebnis und doch nur eine gestohlene Weltsekunde …“ (3) In einem Roman also, na gut – aber sonst? Im allgemeinen Bewusstsein sind die Essener Songtage kaum verankert. So mailte uns etwa der Betreiber der Website „UK-Psych“, die u. a. auch über die „Blossom Toes“ berichtet: „I’m surprised I haven‘t heard of that festival, sounds huge and especially for being 1968!“
Im viel gelobten Rock-Lexikon von Siegfried Schmidt-Joos und Barry Graves (4) findet der wissbegierige Leser Artikel über Monterey, Woodstock (natürlich), das Gemetzel von Altamont, das Hyde Park-Konzert der Rolling Stones, das American Folk- und Blues Festival in Baden-Baden, das Concert for Bangla Desh, das Newport Folk Festival, das Newport Jazz Festival – aber kein Wort über die Songtage. Und das, obwohl (nein: weil) Schmidt-Joos Mitglied des „Brain-Trusts“ der IEST war! (5)
Bernd Witthüser – IEST-Geschäftsführer
und „Protestsänger des Ruhrgebiets“
Witthüser.JPG
Foto: Jens Hagen
Die Kulturhauptstadt 2010 ist mit einem Teil ihrer kulturellen Geschichte grob fahrlässig umgegangen.
Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Die Essener haben die große Schau schon damals gar nicht so recht wahrgenommen, und außerdem verhinderte das Credo der Festivalmacher, sich vom Kommerz, von kapitalistischen Einflüssen frei zu halten, dass ein Devotionalienhandel in die Gänge kommen konnte: Es gab keine IEST-LP, keine Aufkleber, keine Poster. Und auch die Stadt Essen, immerhin Mitveranstalter, hat das Ereignis jahrelang schamhaft verschwiegen. Zu heftig war wohl die Kritik aus konservativen Kreisen, zu empört war man über die kindischen Angriffe auf den Oberbürgermeister der Stadt, die das Festival doch überhaupt erst ermöglicht hatte. Angst vor dem eigenen Mut, fehlende Einsicht in die Bedeutung dessen, was man da in den eigenen Mauern ermöglicht hatte? „Der Mut der Stadt Essen zu einer solchen Veranstaltung ist beachtlich“, heißt es in dem noch 1968 fertig gestellten Film des Bayerischen Rundfunks. (6) „Dass die Stadt im Nachhinein auch unter dem Eindruck einiger Kritiken Angst vor der eigenen Courage bekam, ist bedauerlich.“
F.J. Degenhardt, Rolf Ulrich Kaiser,
Thomas Schröder, Henryk M. Broder,
Martin Degenhardt
Zeichnung: Jürgen von Tomei
Das Buch stellt die Songtage in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang des legendären Jahres 1968, fokussiert auf die Stadt Essen in diesem Jahr. Es versucht aus Erinnerungen und zeitgeschichtlichen Dokumenten den Ablauf des Geschehens zu vergegenwärtigen, und es zeichnet Lebenslinien nach von Menschen, für die die Internationalen Essener Songtage zu einem Höhe-, Dreh- oder Wendepunkt ihrer eigenen Geschichte geworden sind – als Wegweiser, Wegscheiden, Auslöser oder Katalysator einer inneren Bewegung.
Zu danken haben wir den ungemein hilfsbereiten Mitarbeiterinnen des Essener Stadtarchivs, dem deutschen Kabarett-Archiv in Mainz, René Grohnert, dem Leiter des Essener Plakatmuseums und Dr. Lutz Neitzert vom SWR. Ein großes Dankeschön geht auch an Dorothee Joachim für die Fotos von Jens Hagen. (7)
Zu danken haben wir aber vor allem auch unseren Mit-Autoren, die mit bewegender Offenheit ihr Leben ausgebreitet und Irrtümer, Verwerfungen, Verirrungen nicht ausgespart haben. Die hin und wieder nicht nur angedeuteten Abweichungen vom rechten Pfad der Tugend sind verjährt. Wie einzelne ihren eigenen Umgang mit illegalen Drogen bewerten, darüber haben wir nicht zu urteilen. Es hat keine Zensur gegeben, und ein Buch über das Jahr 1968, in dem von „Sex and Drugs and Rock’n’Roll“ nur letzterer übrig bliebe, wäre unredlich.
Dies ist keine salvatorische Klausel, sondern ein Hinweis darauf, dass heute aus den Erfahrungen von 40 Jahren manches anders gesehen werden muss als damals. Wir wissen, dass dem Summer of Love sehr bald ein kälterer Herbst folgte, dass viele, zu viele junge Menschen mit dem nicht umgehen konnten, was ihnen damals als der Weg zur Selbsterfahrung und -verwirklichung, als Aufbruch in eine neue, bessere Welt gepriesen wurde.
In diesem Buch wird manches erläutert, was denen, die die Zeit selbst erlebt haben, als selbstverständlich erscheint. Das mag überflüssig erscheinen, aufgesetzt, belehrend gar. Aber das Buch wendet sich nicht nur an die, die dabei waren – es soll einen Beitrag leisten zur Aufarbeitung der 1960er Jahre, auf die gerade junge Menschen mehr und mehr neugierig geworden sind.
Soweit das Vorwort der beiden Autoren, das wir hier anstatt einer ursprünglich beabsichtigten Rezension wiedergegeben haben. Wie „nah dran“ sie selbst - „Der Lehrer Detlev Mahnert“ und „Der Terrorist Harry Stürmer“ - an dem Ereignis waren, warum und wie sie in die politischen Bewegungen der 60er Jahre hinein gerieten, erfahren die LeserInnen neben zahlreichen weiteren hoch interessanten Lebensläufen von Zeitzeugen und Teilnehmern der Songtage. Und sie erfahren z.B. auch vom Aufstand der Essener Lehrlinge, der ein „Signal für die ganze Republik“ wurde, und vom Aufstand der Gläubigen auf dem 82. Deutschen Katholikentag in Essen gegen „Pillen-Paule“, der unter dem Namen Papst Paul VI. mit seiner Enzyklika kurz zuvor das Verbot jeder Geburtenregelung feierlich bekräftigt hatte. Die Antwort des kommunistischen Liedermachers Dieter Süverkrüp ein paar Tage nach dem Katholikentag haben während seines Auftritts auf den Songtagen hunderte junge Christen begeistert mitgesungen:
Der Heil’ge Vater ist ein Kapaun.
Zumindest wär’s ihm zuzutrau’n,
bedenkt man die Enzyklika -
Halleluja!
Seit er vernahm im Vatikan,
was jeder brave Vati kann,
sind seine Depressionen da -
Halleluja!
Der Mensch liebt öfter, so er kann,
Die Pille-Frau den Pille-Mann,
denn dazu sind die Dinger da -
Halleluja!
Fazit von Detlev Mahnert: Essen war damals gar nicht so verschlafen wie viele außerhalb der Stadt meinten. „Die Solidarisierung der intellektuellen Protestbewegung gelang in Essen eher als anderswo...“
Fazit des Redakteurs: "Ich habe in den vergangenen Monaten einige Bücher über '68 gelesen. Nur wenige waren so gut recherchiert (die Autoren haben sogar in NRhZ Nummer 74 unseren Film über Floh de Cologne entdeckt,- "das damals sicher schärfste politische Kabarett der Republik"), so frei von Vorurteilen, so spannend geschrieben, so lesenswert wie ZAPPA, ZOFF UND ZWISCHENTÖNE. (PK)
(1) http://siemers.wordpress.com/2006/09/29/essener-songtage-1968-amon-duul >.
(2)„Tief im Westen …“, Emons Verlag 1999/Uwe Husslein musik komm./Köln.
(3) Bernd Cailloux, Das Geschäftsjahr 1968/69. Frankfurt 2005. edition suhrkamp 2408, S. 66.
(4) Siegfried Schmidt-Joos, Barry Graves: Rock-Lexikon. Reinbek 1973: Rowohlt.
(5) Zu der Auseinandersetzung IEST – Siegfried Schmidt-Joos s. S. 308.
(6) Henric L. Wuermeling, Zwischen Pop und Politik. Die IEST 68. Bayerischer Rundfunk 1968.
(7) Die Fotos entstammen dem Buch „mach mal bitte platz, wir müssen hier stürmen. Als der Beat nach Deutschland kam“. Fotografien von Jens Hagen. Köln: M7 Verlag, 2000.
Detlev Mahnert / Harry Stürmer:
Zappa, Zoff und Zwischentöne
Die Internationalen Essener Songtage 1968
erschienen am 24.06.2008
310 Seiten, zahlreiche Abbildungen, € 22,90
ISBN 978-3-89861-936-3
Online-Flyer Nr. 158 vom 06.08.2008