SUCHE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Literatur
Der Fortsetzungsroman in der NRhZ – Folge 25
Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben
Von Wolfgang Bittner
Außer bequem als Buch im Horlemann-Verlag können Sie exklusiv in der NRhZ die überarbeitete Neuausgabe von Wolfgang Bittners 1978 erstmals erschienenen Roman „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“ lesen – eine Rezension des Werks finden sie in der NRhZ 139: „Ein Roman über einen ‚Helden’ von unten, aus der Sicht von unten und deshalb wichtig für alle – und sogar mit nicht allzu viel Fantasie lässt sich auch der Roman auf heutige Verhältnisse übertragen.“, schreibt Rezensent und Buchhändler Uli Klinger über „Der Aufsteiger“.
9) Ein Bild und eine Liebe
Er klebte das Bild mit Tesafilm an die Wand über seinem Schreibtisch – nach der Exekution von André Masson. Hakennasige Richterfratzen, die aus dem Maul eines überdimensionalen Eselskopfes zu sprechen scheinen. Personifizierte Bestialität in schwarzen Roben. Davor angstverzerrte Gesichter, physiognomisches Grauen, Männer mit abgearbeiteten Händen. Ein blauköpfiger Trabant hält die Kerze. Im Hintergrund auf rotem Rasen ein malträtierter Leichnam, wie gekreuzigt. Zwischen roten Hügeln steht eine brennende Windmühle.
Das war Kunst als politisches Mittel, künstlerische Aussage als Stellungnahme. Er hatte den Druck aus einer Illustrierten herausgerissen. Kunst kann politisch sein, bedeutete das. Reaktion eines surrealistischen Malers nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs auf die Grausamkeiten der politischen Realität. Assoziationen an den Volksgerichtshof der Nazis drängten sich auf, dessen Blutrichter niemals verurteilt worden waren; wie viele andere Schweinehunde bezogen sie nach dem Krieg gute Pensionen oder sie fanden sich sogar in hohen öffentlichen Ämtern wieder.
Seit er selber zu malen begonnen hatte, sah er solche Bilder wie das von Masson mit anderen Augen. Es war nicht einfach, Selbstverständlichkeiten auszudrücken, was einen bewegte aufs Papier oder auf die Leinwand zu bringen, künstlerisch zu gestalten.
Natürlich tauchte bei dieser Art politischen Ausdrucks für einen richtigen Juristen sofort die Frage nach der künstlerischen Legitimation auf. War so etwas Kunst? Für richtige Juristen gab es da weniger Probleme. Nach ihrer Definition war Kunst „die Gestaltung eines seelisch-geistigen Gehaltes durch eine eigenwertige Form nach bestimmten Gesetzen“. So stand es in den Kommentaren. Und in der Praxis wurde dieser seelisch-geistige Gehalt dann gemessen an den Vorstellungen eines sich mit seiner Ehefrau beim Mittagessen unterhaltenden Volljuristen mit Prädikatsexamen.
Und danach wären weder Picassos Guernica noch George Grosz‘ Das Gesicht der herrschenden Klasse, bevor sie zu Vermögenswerten wurden, Kunstwerke gewesen.
An der Lehne des Stuhls, den er als Staffelei benutzte, hatte er mit Reißzwecken ein paar Kunstkarten befestigt. Renoir, Monet, Gauguin, Degas, van Gogh, August Macke, Franz Marc, Paul Klee, Utrillo, Matisse, Miró. Jedes Bild eine Welt für sich. Ein warmer Sommerabend in Arles und rote Rehe zwischen Wald und Wolken und Frauen mit Mangos auf Tahiti. Aber immer wieder Krieg. Entkräftete, hoffnungslose Menschen vor den Trümmern ihrer Häuser.
Das Elend des Krieges von Heinrich Vogeler, der bis vor dem Ersten Weltkrieg einer der renommiertesten Gesellschaftsmaler des damaligen Großbürgertums war. Im Jahre 1918 hat er dann den Kaiser provoziert. Er schrieb das Märchen vom lieben Gott und schickte es Wilhelm II. und der Obersten Heeresleitung als brief eines Unteroffiziers aus Protest gegen den zwischen den so genannten Mittelmächten und Russland abgeschlossenen Frieden von Brest-Litowsk. Das Märchen gefiel dem Wilhelm nicht; es würde auch nicht den griechischen Obristen oder dem Vietnam-Nixon oder dem General Franco gefallen.
Vogelers Märchen erzählt, Gott selbst habe am Heiligen Abend 1917 auf dem Potsdamer Platz in Berlin Flugblätter verteilt.
Oben habe gestanden: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, und darunter nichts als die Zehn Gebote. Ein Mann sei damit von Schutzleuten aufgegriffen und vom Oberkommando der Marken wegen Landesverrats standrechtlich erschossen worden.
Vogeler war damals zu bekannt, als dass man ihn hinrichten konnte beziehungsweise hinrichten lassen konnte (hinrichten wird meistens gelassen). Er wurde in eine Bremer Irrenanstalt eingeliefert. 1931 siedelte er dann in die UdSSR über, nachdem die Barkenhoff-Kommune als Experiment einer Künstlergemeinschaft auf seinem ehemaligen Worpsweder Landsitz gescheitert war.
Schon im Jahre 1926 hatten die Behörden Vogelers Fresken über den revolutionären Kampf der Arbeiter, der farbigen Völker, der politischen Gefangenen und über das schöpferische Leben der Kinder in der kommunistischen Gesellschaft als politisch anstößig und unsittlich vernichten wollen. Obwohl berühmte, international anerkannte Maler wie Diego Rivera eigens nach Worpswede reisten, um sich Anregungen zu holen.
Protestiert haben damals: George Grosz, Hermann Hesse, Käthe Kollwitz, Heinrich und Thomas Mann, Kurt Tucholsky, Heinrich Zille, Carl Zuckmayer und viele andere bekannte Künstler. So wurden die Gemälde erst 1939 zerstört. Zu dieser Zeit befanden sich die bedeutendsten Kulturschaffenden der damaligen Zeit in der Emigration, und Kurt Tucholsky hatte im schwedischen Exil bereits Selbstmord begangen.
Warum haben wir so etwas nicht in der Schule gelernt? Warum hat uns niemand von den Schicksalen der Emigranten erzählt? Von Albert Einstein, zum Beispiel, von Bertolt Brecht, Anna Seghers und Paul Hindemith. Oder von Walter Hasenclever, der 1940 in einem französischen Lager beim Heranna hen der deutschen Truppen eine Überdosis Schlaftabletten nahm.
Von Paul Zech, der auf einer Straße in Buenos Aires starb. Von Franz Werfel, der nach seiner Flucht vor den Faschisten über die Pyrenäen schließlich in Kalifornien ankam und dort einem Herzleiden erlag. Von Albert Ehrenstein, der nach langen Jahren der Flucht zum Schluss in New York dahinvegetierte, wo er in tiefstem Elend starb.
Warum findet sich der Name Vogeler, im Gegensatz beispielsweise zu Flick und Abs, nicht im Lexikon? Warum haben wir als Schüler nicht erfahren, welche Leiden Carl von Ossietzky im Konzentrationslager zu erdulden hatte, bevor man ihn zu Tode quälte? Er war doch immerhin Nobelpreisträger.
Könnte sich so etwas wiederholen? Könnte sich so etwas in diesem Land wiederholen? Man muss darüber nachdenken. Aber wie soll man über etwas nachdenken, wovon man nichts weiß? Der Geschichtslehrer war Kapitänleutnant gewesen. Er hatte von der deutschen Kriegsmarine und der unvergleichlichen Kameradschaft auf See erzählt, von den Eismeerfahrten auf einem Zerstörer, wie man den Feind zuerst versenkte, um die Überlebenden dann nach altem Seemannsbrauch aus Seenot zu retten.
Und oft ließ er ganze Stunden lang einfach Sätze im Geschichtsbuch unterstreichen; wahrscheinlich war das am einfachsten für ihn, wenn er sich nicht vorbereitet hatte.
Wenn heute ein Prozess gegen KZ-Mörder stattfand, dann herrschte vor Gericht ein so sachlicher und freundlicher Ton, wie man es sonst vor deutschen Gerichten gar nicht gewohnt ist.
Millionen von Juden sind wie Vieh in die Gaskammern getrieben worden, KZ-Ärzte haben Menschen lebendigen Leibes verstümmelt, Gestapobeamte und SS-Schergen haben gefoltert und getötet. Aber heute will niemand etwas gewusst haben; und die, die nachweislich etwas wussten, haben nur auf Befehl gehandelt.
Jede Menge Nazis, aber niemand hat Schuld. Inzwischen sucht man sich schon wieder neue Juden.
Kreativ zu sein macht Spaß. Er malte an einem Ölbild, das er Lina schenken wollte. Es stellte zwei miteinander spielende Seehunde inmitten einer düsteren Umwelt dar. Ob Dilettantismus oder nicht, das gab eine neue Art von Befriedigung, das brachte neue Eindrücke, Empfindungen und Vorstellungen. Ganz anders als früher in der Schule. Warum muss Schule etwas so Unangenehmes sein? Dabei sind Kinder doch so wissbegierig und lenkbar.
Mittags aß er ein paar Bananen. Dann malte er weiter, von einer Art schöpferischer Euphorie erfasst, jetzt überzeugt davon, dass er ein großes Kunstwerk schuf. Jedes Mal steigerte er sich beim Malen in diese Vorstellung hinein, die sich dann im Nachhinein, mit dem zeitlichen Abstand zu den Bildern, jedes Mal wieder als Trugschluss erwies. Das waren eben Arbeiten eines Autodidakten und Anfängers, von Technik, Gestaltung und Inhalt her unvollkommen. Aber was machte das schon aus? Vielleicht würde später etwas mehr daraus entstehen. Jedenfalls waren die Bilder im Vergleich mit dem, was man sonst so sah, nicht allzu schlecht und eigentlich recht originell. Und vielleicht würde ja schon dieses Bild, das mit den Seehunden, ein wirkliches Kunstwerk werden und die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf ihn lenken.
Er malte weiter, wie besessen, mehrere Stunden lang, bis das Bild fertig war und dieser beflügelnde, euphorische Zustand einer physischen und psychischen Erschöpfung wich. Da legte er sich aufs Bett und schlief sofort ein. Im Traum saß er in einer altertümlichen Spelunke voller Lemuren und zwielichtiger Gestalten, mit denen er sich ohne ersichtlichen Anlass herumstritt – mühsam.
Lesen Sie in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung des Kapitels „Ein Bild und eine Liebe“ in Wolfgang Bittners Roman.
(CH)
© 2008 Horlemann
Alle Rechte vorbehalten
Überarbeitete Neuausgabe – Erstveröffentlichung 1978 Büchergilde Gutenberg, Satz und Umschlaggestaltung Verlag.
Bitte fordern Sie das Verlagsverzeichnis an, unter:
Horlemann Verlag, Postfach 1307, 53583 Bad Honnef,
Telefax 02224 5429, E-Mail: info (at) horlemann-verlag.de
www.horlemann.info
Online-Flyer Nr. 164 vom 17.09.2008
Der Fortsetzungsroman in der NRhZ – Folge 25
Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben
Von Wolfgang Bittner
9) Ein Bild und eine Liebe
Er klebte das Bild mit Tesafilm an die Wand über seinem Schreibtisch – nach der Exekution von André Masson. Hakennasige Richterfratzen, die aus dem Maul eines überdimensionalen Eselskopfes zu sprechen scheinen. Personifizierte Bestialität in schwarzen Roben. Davor angstverzerrte Gesichter, physiognomisches Grauen, Männer mit abgearbeiteten Händen. Ein blauköpfiger Trabant hält die Kerze. Im Hintergrund auf rotem Rasen ein malträtierter Leichnam, wie gekreuzigt. Zwischen roten Hügeln steht eine brennende Windmühle.
Das war Kunst als politisches Mittel, künstlerische Aussage als Stellungnahme. Er hatte den Druck aus einer Illustrierten herausgerissen. Kunst kann politisch sein, bedeutete das. Reaktion eines surrealistischen Malers nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs auf die Grausamkeiten der politischen Realität. Assoziationen an den Volksgerichtshof der Nazis drängten sich auf, dessen Blutrichter niemals verurteilt worden waren; wie viele andere Schweinehunde bezogen sie nach dem Krieg gute Pensionen oder sie fanden sich sogar in hohen öffentlichen Ämtern wieder.
Seit er selber zu malen begonnen hatte, sah er solche Bilder wie das von Masson mit anderen Augen. Es war nicht einfach, Selbstverständlichkeiten auszudrücken, was einen bewegte aufs Papier oder auf die Leinwand zu bringen, künstlerisch zu gestalten.
Natürlich tauchte bei dieser Art politischen Ausdrucks für einen richtigen Juristen sofort die Frage nach der künstlerischen Legitimation auf. War so etwas Kunst? Für richtige Juristen gab es da weniger Probleme. Nach ihrer Definition war Kunst „die Gestaltung eines seelisch-geistigen Gehaltes durch eine eigenwertige Form nach bestimmten Gesetzen“. So stand es in den Kommentaren. Und in der Praxis wurde dieser seelisch-geistige Gehalt dann gemessen an den Vorstellungen eines sich mit seiner Ehefrau beim Mittagessen unterhaltenden Volljuristen mit Prädikatsexamen.
Und danach wären weder Picassos Guernica noch George Grosz‘ Das Gesicht der herrschenden Klasse, bevor sie zu Vermögenswerten wurden, Kunstwerke gewesen.
An der Lehne des Stuhls, den er als Staffelei benutzte, hatte er mit Reißzwecken ein paar Kunstkarten befestigt. Renoir, Monet, Gauguin, Degas, van Gogh, August Macke, Franz Marc, Paul Klee, Utrillo, Matisse, Miró. Jedes Bild eine Welt für sich. Ein warmer Sommerabend in Arles und rote Rehe zwischen Wald und Wolken und Frauen mit Mangos auf Tahiti. Aber immer wieder Krieg. Entkräftete, hoffnungslose Menschen vor den Trümmern ihrer Häuser.
Das Elend des Krieges von Heinrich Vogeler, der bis vor dem Ersten Weltkrieg einer der renommiertesten Gesellschaftsmaler des damaligen Großbürgertums war. Im Jahre 1918 hat er dann den Kaiser provoziert. Er schrieb das Märchen vom lieben Gott und schickte es Wilhelm II. und der Obersten Heeresleitung als brief eines Unteroffiziers aus Protest gegen den zwischen den so genannten Mittelmächten und Russland abgeschlossenen Frieden von Brest-Litowsk. Das Märchen gefiel dem Wilhelm nicht; es würde auch nicht den griechischen Obristen oder dem Vietnam-Nixon oder dem General Franco gefallen.
Vogelers Märchen erzählt, Gott selbst habe am Heiligen Abend 1917 auf dem Potsdamer Platz in Berlin Flugblätter verteilt.
Oben habe gestanden: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, und darunter nichts als die Zehn Gebote. Ein Mann sei damit von Schutzleuten aufgegriffen und vom Oberkommando der Marken wegen Landesverrats standrechtlich erschossen worden.
Vogeler war damals zu bekannt, als dass man ihn hinrichten konnte beziehungsweise hinrichten lassen konnte (hinrichten wird meistens gelassen). Er wurde in eine Bremer Irrenanstalt eingeliefert. 1931 siedelte er dann in die UdSSR über, nachdem die Barkenhoff-Kommune als Experiment einer Künstlergemeinschaft auf seinem ehemaligen Worpsweder Landsitz gescheitert war.
Schon im Jahre 1926 hatten die Behörden Vogelers Fresken über den revolutionären Kampf der Arbeiter, der farbigen Völker, der politischen Gefangenen und über das schöpferische Leben der Kinder in der kommunistischen Gesellschaft als politisch anstößig und unsittlich vernichten wollen. Obwohl berühmte, international anerkannte Maler wie Diego Rivera eigens nach Worpswede reisten, um sich Anregungen zu holen.
Protestiert haben damals: George Grosz, Hermann Hesse, Käthe Kollwitz, Heinrich und Thomas Mann, Kurt Tucholsky, Heinrich Zille, Carl Zuckmayer und viele andere bekannte Künstler. So wurden die Gemälde erst 1939 zerstört. Zu dieser Zeit befanden sich die bedeutendsten Kulturschaffenden der damaligen Zeit in der Emigration, und Kurt Tucholsky hatte im schwedischen Exil bereits Selbstmord begangen.
Warum haben wir so etwas nicht in der Schule gelernt? Warum hat uns niemand von den Schicksalen der Emigranten erzählt? Von Albert Einstein, zum Beispiel, von Bertolt Brecht, Anna Seghers und Paul Hindemith. Oder von Walter Hasenclever, der 1940 in einem französischen Lager beim Heranna hen der deutschen Truppen eine Überdosis Schlaftabletten nahm.
Von Paul Zech, der auf einer Straße in Buenos Aires starb. Von Franz Werfel, der nach seiner Flucht vor den Faschisten über die Pyrenäen schließlich in Kalifornien ankam und dort einem Herzleiden erlag. Von Albert Ehrenstein, der nach langen Jahren der Flucht zum Schluss in New York dahinvegetierte, wo er in tiefstem Elend starb.
Warum findet sich der Name Vogeler, im Gegensatz beispielsweise zu Flick und Abs, nicht im Lexikon? Warum haben wir als Schüler nicht erfahren, welche Leiden Carl von Ossietzky im Konzentrationslager zu erdulden hatte, bevor man ihn zu Tode quälte? Er war doch immerhin Nobelpreisträger.
Könnte sich so etwas wiederholen? Könnte sich so etwas in diesem Land wiederholen? Man muss darüber nachdenken. Aber wie soll man über etwas nachdenken, wovon man nichts weiß? Der Geschichtslehrer war Kapitänleutnant gewesen. Er hatte von der deutschen Kriegsmarine und der unvergleichlichen Kameradschaft auf See erzählt, von den Eismeerfahrten auf einem Zerstörer, wie man den Feind zuerst versenkte, um die Überlebenden dann nach altem Seemannsbrauch aus Seenot zu retten.
Und oft ließ er ganze Stunden lang einfach Sätze im Geschichtsbuch unterstreichen; wahrscheinlich war das am einfachsten für ihn, wenn er sich nicht vorbereitet hatte.
Wenn heute ein Prozess gegen KZ-Mörder stattfand, dann herrschte vor Gericht ein so sachlicher und freundlicher Ton, wie man es sonst vor deutschen Gerichten gar nicht gewohnt ist.
Millionen von Juden sind wie Vieh in die Gaskammern getrieben worden, KZ-Ärzte haben Menschen lebendigen Leibes verstümmelt, Gestapobeamte und SS-Schergen haben gefoltert und getötet. Aber heute will niemand etwas gewusst haben; und die, die nachweislich etwas wussten, haben nur auf Befehl gehandelt.
Jede Menge Nazis, aber niemand hat Schuld. Inzwischen sucht man sich schon wieder neue Juden.
Kreativ zu sein macht Spaß. Er malte an einem Ölbild, das er Lina schenken wollte. Es stellte zwei miteinander spielende Seehunde inmitten einer düsteren Umwelt dar. Ob Dilettantismus oder nicht, das gab eine neue Art von Befriedigung, das brachte neue Eindrücke, Empfindungen und Vorstellungen. Ganz anders als früher in der Schule. Warum muss Schule etwas so Unangenehmes sein? Dabei sind Kinder doch so wissbegierig und lenkbar.
Mittags aß er ein paar Bananen. Dann malte er weiter, von einer Art schöpferischer Euphorie erfasst, jetzt überzeugt davon, dass er ein großes Kunstwerk schuf. Jedes Mal steigerte er sich beim Malen in diese Vorstellung hinein, die sich dann im Nachhinein, mit dem zeitlichen Abstand zu den Bildern, jedes Mal wieder als Trugschluss erwies. Das waren eben Arbeiten eines Autodidakten und Anfängers, von Technik, Gestaltung und Inhalt her unvollkommen. Aber was machte das schon aus? Vielleicht würde später etwas mehr daraus entstehen. Jedenfalls waren die Bilder im Vergleich mit dem, was man sonst so sah, nicht allzu schlecht und eigentlich recht originell. Und vielleicht würde ja schon dieses Bild, das mit den Seehunden, ein wirkliches Kunstwerk werden und die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf ihn lenken.
Er malte weiter, wie besessen, mehrere Stunden lang, bis das Bild fertig war und dieser beflügelnde, euphorische Zustand einer physischen und psychischen Erschöpfung wich. Da legte er sich aufs Bett und schlief sofort ein. Im Traum saß er in einer altertümlichen Spelunke voller Lemuren und zwielichtiger Gestalten, mit denen er sich ohne ersichtlichen Anlass herumstritt – mühsam.
Lesen Sie in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung des Kapitels „Ein Bild und eine Liebe“ in Wolfgang Bittners Roman.
(CH)
© 2008 Horlemann
Alle Rechte vorbehalten
Überarbeitete Neuausgabe – Erstveröffentlichung 1978 Büchergilde Gutenberg, Satz und Umschlaggestaltung Verlag.
Bitte fordern Sie das Verlagsverzeichnis an, unter:
Horlemann Verlag, Postfach 1307, 53583 Bad Honnef,
Telefax 02224 5429, E-Mail: info (at) horlemann-verlag.de
www.horlemann.info
Online-Flyer Nr. 164 vom 17.09.2008