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Arbeit und Soziales
„Bild"-Zeitung operiert mit falschen Zahlen
Hartz-IV-Hetze
Von Martin Staiger
Deutsch, männlich, 70 Kg, trägt Wintermantel für 9 Euro
Dass man sich möglichst nicht in Dinge einmischen sollte, von denen man nichts versteht, haben zwei Herren aus Chemnitz namens Friedrich Thießen und Christian Fischer kürzlich eindrucksvoll bewiesen. Die beiden, die sich von Berufs wegen gewöhnlich mit ökonomischen Fragen beschäftigen, haben einen Ausflug in die Sozialgesetzgebung unternommen und sich in der „Zeitschrift für Wirtschaftspolitik" unter der Überschrift „Die Höhe der sozialen Mindestsicherung - Eine Neuberechnung 'bottom up'" zur Höhe des Hartz-IV-Satzes geäußert.1) Da die „Untersuchung" den Anspruch hat, wissenschaftlich zu sein, gehen die beiden wackeren Forscher, von denen sich der eine Professor Doktor der Wirtschaftswissenschaften und der andere Diplomkaufmann nennen darf, von einer Grundhypothese aus: „Implizite Annahme der Untersuchung ist Rationalverhalten des Individuums", lassen die beiden Autoren wissen und geben durch das schreibökonomische Einsparen des Artikels bereits die Richtung vor: Sie gehen von einem Menschen aus, der danach strebt, seine Existenz unter ausschließlich ökonomischen Gesichtspunkten aufrechtzuerhalten, profaner ausgedrückt: so billig wie möglich einzukaufen.
Kölner Hartz-IV-Klagemauer am „Zahltag"
In langen Tabellen erläutern die beiden, welche Waren und Dienstleistungen dem mit deutscher Gründlichkeit normierten Modellindividuum („männlich", „Körpergröße 1,70 m, Gewicht 70 kg", „deutsche Staatsangehörigkeit, deutsche Verbrauchsgewohnheiten") zugestanden werden sollten. Auch Menge, Haltbarkeitsdauer und Preis werden exakt festgelegt. Und so wird das sich rational verhaltende Individuum angehalten, monatlich neun Kilogramm Brot zu einem Preis von 50 Cent pro Kilo zu verzehren, „Fisch (fettarm)" für 2,87 Euro das Kilo zu essen und sich, wenn es kalt wird, einen Wintermantel für neun Euro zu kaufen, der dann, da sind die beiden Herren gnädig, nach zwei Jahren durch einen neuen ersetzt werden darf.
Da das Individuum auch seine Wohnung einrichten und sich bilden können sollte, gibt's noch einige Einrichtungsgegenstände wie zum Beispiel ein Tellerchen für 50 Cent, einen auf fünf Jahre Lebensdauer veranschlagten Fernseher für 49 Euro und eine Jahreskarte für die Stadtbibliothek zum Preis von sieben Euro. Ergebnis der wissenschaftlichen Mühen: „Ohne Wohnkosten betragen die Kosten der sozialen Mindestsicherung im Raum Chemnitz im Minimumfall 132 Euro". Etwas mehr als die Hälfte davon veranschlagen die beiden Möchtegern-Sozialreformer für Essenskosten. Für eine „ausreichende gesunde abwechslungsreiche Kost nach Empfehlungen der WHO" benötigt das Modellindividuum demnach genau 68,09 Euro pro Monat.
„Untersuchung" vergisst einfach den Strom
Die beiden haben jedoch nicht nur einen Minimum-, sondern auch einen „Maximumfall" errechnet, bei dem es sich um eine „weite Interpretation der Ziele der sozialen Mindestsicherung" handeln soll. Auch dieser wird in langen Tabellen dargelegt. So darf zum Beispiel ein Kilogramm Maximumfall-Brot 70 Cent kosten, es wird nicht nur einer, sondern es werden vier Teller zugestanden, es gibt Mineral- statt Leitungswasser, und für Kultur werden statt der monatlichen 1,40 Euro des Minimumfalles 14,47 Euro veranschlagt. Im Ergebnis liegt der Maximumfall mehr als doppelt so hoch wie der Minimumfall, aber mit 278 Euro immer noch deutlich unterhalb des Hartz-IV-Regelsatzes von derzeit 351 Euro pro Monat.
Die beiden Herren haben anscheinend nicht nur mangelnde praktische Erfahrung im Einkaufen von Dingen des täglichen Bedarfs, sondern scheinen auch – gelinde ausgedrückt – nicht über sonderlich vertiefte Kenntnisse des Sozialgesetzbuches zu verfügen. So rechnen sie beispielsweise weder im Minimum- noch im Maximumfall Kosten für Strom und Warmwasserbereitung mit ein, obwohl diese nach den geltenden Regelungen des zweiten Sozialgesetzbuches aus dem Hartz-IV-Regelsatz bestritten werden müssen.
„Bild"-Kampagne gegen „Sozial-Abzocker"
Man könnte das Thießen-Fischersche Elaborat nun eigentlich getrost beiseite legen und bei Gelegenheit als Beispiel für unwissenschaftliche Wissenschaft heranziehen. Da die Veröffentlichung der Untersuchung aber mitten in eine „Bild "-Serie über „Sozial-Abzocker" hineinplatzte, landete sie nicht im Altpapier bzw. im elektronischen Nirwana, wo eigentlich ihr verdienter Platz wäre, sondern auf Seite 1 der „Bild "-Zeitung. „Professor behauptet 132 Euro Hartz IV im Monat reichen!", lautete die Schlagzeile vom 6. September. Sie wird ihre Wirkung auf viele Leser nicht verfehlt haben.
„Münte" macht weiter wie bisher: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen"
www.koufogiorgos.de
Schließlich hatte ihnen die „Bild"-Zeitung zu diesem Zeitpunkt bereits eine Woche lang eingehämmert, dass Hartz IV ohnehin zu hoch sei und dass „der Missbrauch von Hartz IV [... ] immer größer [wird] - 126.600 aufgedeckte Fälle in nur einem Jahr". „So wird bei Hartz IV abgezockt!", „So einfach ist es, den Staat zu bescheißen", „Morgens kassiert sie Hartz IV - abends verkauft sie ihren Körper", so oder so ähnlich lauteten die Überschriften der ersten Septemberwoche.
Volkshetze mit falschen Zahlen
„Bild" erzählt jedoch nicht nur Geschichten über Sozialleistungsmissbrauch, sondern bildet seine Leser auch. So wurde am 1. September unter der Überschrift „Wer kriegt Hartz IV? BILD beantwortet die wichtigsten Fragen" in vermeintlicher Exaktheit verkündet, eine vierköpfige Familie mit zwei 14- und 16jährigen Kindern bekäme bei einer unterstellten Warmmiete von 619 Euro monatlich 1.812,40 Euro Hartz IV – obwohl die gesetzlichen Bestimmungen lediglich knapp 1490 Euro vorsehen. Auch für die behauptete „Missbrauchsquote", die laut „Bild"-Zeitung „nach Schätzungen bei 15 Prozent der Fälle" liegt, gibt es keinen Anhaltspunkt in der Realität. Alle Untersuchungen der letzten Jahre kommen auf einen Missbrauch von Hartz IV in einer Bandbreite von zwei bis allerhöchstens fünf Prozent.
Die allermeisten „Bild"-Zeitungsleser, von denen vermutlich manche mit einem Nettolohn unter dem angeblichen Hartz-IV-Betrag von 1.812,40 Euro eine vierköpfige Familie ernähren müssen, wissen natürlich nicht, dass ihre Zeitung mit falschen Zahlen operiert. Und so nähren solche Behauptungen gezielt die Wut auf die „Sozial-Abzocker" mit der Folge, dass gar nicht mehr zwischen den relativ wenigen Sozialleistungsbetrügern und der übergroßen Zahl der ehrlichen Hartz-IV-Empfänger unterschieden wird. Inzwischen kann man bereits in Internetforen beobachten, wie Geringverdiener, von denen viele nur eine Betriebsschließung oder einen Bandscheibenvorfall von Hartz IV entfernt sind, auf Hartz-IV-Empfänger losgehen, als ob es sich diese alle auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung in der angeblich ach so bequem gepolsterten sozialen Hängematte bequem gemacht hätten.
Die Hartz-IV-Wirklichkeit
Wie sieht jedoch die Wirklichkeit im Jahr 4 von Hartz IV aus? Der 2005 auf 345 Euro festgelegte Regelsatz, der schon damals nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bei mindestens 412 Euro hätte liegen müssen, stieg seitdem, trotz der hohen und insbesondere Menschen mit geringen Einkünften belastenden Inflation, um gerade einmal sechs auf heute 351 Euro pro Monat. (Ehe-)Paare müssen mit 316 Euro pro Kopf auskommen, für Kinder gilt ein Satz von 211 Euro für unter 14jährige und 281 Euro für über 14jährige.
Hinzu kommt, dass eine stets wachsende Zahl von Hartz-IV-Empfängern über diese Regelsätze nicht einmal mehr in voller Höhe verfügen kann. Denn viele müssen einen Teil davon zur Finanzierung ihrer Wohnungsmiete aufwenden. Die Miete wird nämlich nach den Bestimmungen des zweiten Sozialgesetzbuches nur dann komplett bezahlt, wenn sie „angemessen" ist. Und da viele Kommunen und Landkreise mietmarktfremde Obergrenzen festgelegt haben, leben viele Hartz-IV-Empfänger in „unangemessenen" Wohnungen. So müssen sie entweder den „unangemessenen" Teil aus den Regelsätzen bestreiten oder, falls sie überhaupt eine günstigere Wohnung finden können, umziehen. Die bei einem Neueinzug in der Regel fällige Mietkaution wird zwar von den Behörden in der Regel bezahlt – jedoch nur als Darlehen und nur, wenn sich der Hartz-IV-Empfänger schriftlich verpflichtet, dieses in Raten zurückzuzahlen. In der Praxis sieht das dann so aus, dass das örtliche Job-Center einen Teil des Regelsatzes – meist zwischen 30 und 50 Euro pro Monat – zur Tilgung des Darlehens einbehält.
Hartz-IV als Schuldenfalle für Betroffene
Manche Hartz-IV-Empfänger schieben sogar mehrere Darlehen vor sich her. So sind die Behörden verpflichtet und meist auch bereit, einen „unabweisbaren" Bedarf wie beispielsweise die Ersetzung einer kaputten Waschmaschine durch eine (billige) neue zu bezahlen, dürfen aber hierfür im Anschluss so lange bis zu zehn Prozent vom Regelsatz einbehalten, bis das Darlehen getilgt ist. Auch die in Zeiten hoher Energiepreise üblich gewordenen hohen Jahresabrechnungen der Stromunternehmen werden, wenn sich der Kunde mit diesen nicht auf eine Ratenzahlung verständigen kann, auf Antrag meist – aber eben auch wieder als Darlehen – übernommen. Inzwischen sind nicht nur viele Erwachsene bei der Bundesagentur von Arbeit verschuldet, was in Anbetracht der Tatsache, dass Verschuldung als Vermittlungshemmnis in Arbeit gilt, geradezu grotesk anmutet, sondern auch viele Kinder. Frei nach dem Motto „Kinder haften für ihre Eltern", gibt es nämlich auch Rückforderungen der Behörden, die auf alle Familienmitglieder verteilt werden.
Niedrigverdiener mit schwankendem Einkommen, die aufstockendes Hartz IV beziehen, können hiervon ein Lied singen. Verdient ein „Aufstocker", beispielsweise im Monat Oktober 200 Euro mehr als üblich, da er viele Überstunden gemacht hat, kann er die Lohnabrechnung erst Anfang November bei der Behörde einreichen. Diese rechnet dann den Anspruch für Oktober rückwirkend neu aus und fordert den „überzahlten" Betrag von allen Mitgliedern der im Hartz-IV-Deutsch so genannten „Bedarfsgemeinschaft" anteilig zurück. In aller Regel wird der „überzahlte" Betrag für dringend benötigte Anschaffungen schon lange ausgegeben sein, und so kann bereits ein Hartz-IV-Säugling Schulden bei der Bundesagentur für Arbeit haben, die diese 30 Jahre lang zurückfordern kann. Bei Lichte betrachtet, ist es eigentlich ziemlich absurd, was alles unternommen wird, um den Schein zu wahren, die Hartz-IV-Sätze seien ausreichend.
Fotos: gesichter zei(ch/g)en
Hartz IV zerstört demokratische Substanz
So gibt es immer mehr Suppenküchen und mit großem finanziellem und personellem Aufwand betriebene „Tafeln", in denen Menschen, die man „sozial schwach" nennt, gegen Nachweis ihrer „Bedürftigkeit" verbilligte Lebensmittel einkaufen können. In vielen Städten werden in den Schulen aus kommunalen Mitteln oder Spenden finanzierte Ein-Euro-Essen für Hartz-IV-Kinder angeboten, und zahlreiche kirchliche, kommunale oder private Initiativen „gewähren" Hartz-IV-Empfängern zum neuen Schuljahr Beihilfen, um den Schulbedarf für ihre Kinder einkaufen zu können. Alle diese Initiativen helfen Hartz-IV-Empfängern natürlich etwas aus ihrer finanziellen Misere, geben ihnen aber nicht ihre Würde zurück, die ihnen durch „Untersuchungen" wie die der Herren Thießen und Fischer oder durch „Bild"-Zeitungs- und andere Kampagnen genommen wird. Im Gegenteil: Wer gezwungen ist, tagaus, tagein überall als Bittsteller aufzutreten, wer mit ansehen muss, wie die eigenen Kinder in der Schulmensa ein Ein-Euro-Essen bekommen, während es für die meisten anderen kein Problem darstellt, den vollen Preis zu bezahlen, der braucht ein sehr großes Selbstbewusstsein und ein sehr stabiles soziales Netz, um sich nicht als Mensch zweiter Klasse zu fühlen.
Viele Hartz-IV-Empfänger haben jedoch weder das eine noch das andere. „Die durch sozialstaatliche Sicherungen verbürgte Angstfreiheit der Menschen ist der demokratischen Substanz unserer Gesellschaftsordnung zugute gekommen", schrieb Oskar Negt vor einem Jahr. 2) Durch Hartz IV ist die Angst zurückgekehrt. Für die demokratische Substanz lässt das nichts Gutes erwarten. (HDH)
1) „Zeitschrift für Wirtschaftspolitik", 2/2008, S.145-173.
2) Oskar Negt, Unterschlagene Wirklichkeit. Leben wir in einer Gesellschaft des politischen Selbstbetrugs? In: „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte", 11/2007, S. 4-7, hier S. 6.
Online-Flyer Nr. 167 vom 08.10.2008
„Bild"-Zeitung operiert mit falschen Zahlen
Hartz-IV-Hetze
Von Martin Staiger
Deutsch, männlich, 70 Kg, trägt Wintermantel für 9 Euro
Dass man sich möglichst nicht in Dinge einmischen sollte, von denen man nichts versteht, haben zwei Herren aus Chemnitz namens Friedrich Thießen und Christian Fischer kürzlich eindrucksvoll bewiesen. Die beiden, die sich von Berufs wegen gewöhnlich mit ökonomischen Fragen beschäftigen, haben einen Ausflug in die Sozialgesetzgebung unternommen und sich in der „Zeitschrift für Wirtschaftspolitik" unter der Überschrift „Die Höhe der sozialen Mindestsicherung - Eine Neuberechnung 'bottom up'" zur Höhe des Hartz-IV-Satzes geäußert.1) Da die „Untersuchung" den Anspruch hat, wissenschaftlich zu sein, gehen die beiden wackeren Forscher, von denen sich der eine Professor Doktor der Wirtschaftswissenschaften und der andere Diplomkaufmann nennen darf, von einer Grundhypothese aus: „Implizite Annahme der Untersuchung ist Rationalverhalten des Individuums", lassen die beiden Autoren wissen und geben durch das schreibökonomische Einsparen des Artikels bereits die Richtung vor: Sie gehen von einem Menschen aus, der danach strebt, seine Existenz unter ausschließlich ökonomischen Gesichtspunkten aufrechtzuerhalten, profaner ausgedrückt: so billig wie möglich einzukaufen.
Kölner Hartz-IV-Klagemauer am „Zahltag"
In langen Tabellen erläutern die beiden, welche Waren und Dienstleistungen dem mit deutscher Gründlichkeit normierten Modellindividuum („männlich", „Körpergröße 1,70 m, Gewicht 70 kg", „deutsche Staatsangehörigkeit, deutsche Verbrauchsgewohnheiten") zugestanden werden sollten. Auch Menge, Haltbarkeitsdauer und Preis werden exakt festgelegt. Und so wird das sich rational verhaltende Individuum angehalten, monatlich neun Kilogramm Brot zu einem Preis von 50 Cent pro Kilo zu verzehren, „Fisch (fettarm)" für 2,87 Euro das Kilo zu essen und sich, wenn es kalt wird, einen Wintermantel für neun Euro zu kaufen, der dann, da sind die beiden Herren gnädig, nach zwei Jahren durch einen neuen ersetzt werden darf.
Da das Individuum auch seine Wohnung einrichten und sich bilden können sollte, gibt's noch einige Einrichtungsgegenstände wie zum Beispiel ein Tellerchen für 50 Cent, einen auf fünf Jahre Lebensdauer veranschlagten Fernseher für 49 Euro und eine Jahreskarte für die Stadtbibliothek zum Preis von sieben Euro. Ergebnis der wissenschaftlichen Mühen: „Ohne Wohnkosten betragen die Kosten der sozialen Mindestsicherung im Raum Chemnitz im Minimumfall 132 Euro". Etwas mehr als die Hälfte davon veranschlagen die beiden Möchtegern-Sozialreformer für Essenskosten. Für eine „ausreichende gesunde abwechslungsreiche Kost nach Empfehlungen der WHO" benötigt das Modellindividuum demnach genau 68,09 Euro pro Monat.
„Untersuchung" vergisst einfach den Strom
Die beiden haben jedoch nicht nur einen Minimum-, sondern auch einen „Maximumfall" errechnet, bei dem es sich um eine „weite Interpretation der Ziele der sozialen Mindestsicherung" handeln soll. Auch dieser wird in langen Tabellen dargelegt. So darf zum Beispiel ein Kilogramm Maximumfall-Brot 70 Cent kosten, es wird nicht nur einer, sondern es werden vier Teller zugestanden, es gibt Mineral- statt Leitungswasser, und für Kultur werden statt der monatlichen 1,40 Euro des Minimumfalles 14,47 Euro veranschlagt. Im Ergebnis liegt der Maximumfall mehr als doppelt so hoch wie der Minimumfall, aber mit 278 Euro immer noch deutlich unterhalb des Hartz-IV-Regelsatzes von derzeit 351 Euro pro Monat.
Die beiden Herren haben anscheinend nicht nur mangelnde praktische Erfahrung im Einkaufen von Dingen des täglichen Bedarfs, sondern scheinen auch – gelinde ausgedrückt – nicht über sonderlich vertiefte Kenntnisse des Sozialgesetzbuches zu verfügen. So rechnen sie beispielsweise weder im Minimum- noch im Maximumfall Kosten für Strom und Warmwasserbereitung mit ein, obwohl diese nach den geltenden Regelungen des zweiten Sozialgesetzbuches aus dem Hartz-IV-Regelsatz bestritten werden müssen.
„Bild"-Kampagne gegen „Sozial-Abzocker"
Man könnte das Thießen-Fischersche Elaborat nun eigentlich getrost beiseite legen und bei Gelegenheit als Beispiel für unwissenschaftliche Wissenschaft heranziehen. Da die Veröffentlichung der Untersuchung aber mitten in eine „Bild "-Serie über „Sozial-Abzocker" hineinplatzte, landete sie nicht im Altpapier bzw. im elektronischen Nirwana, wo eigentlich ihr verdienter Platz wäre, sondern auf Seite 1 der „Bild "-Zeitung. „Professor behauptet 132 Euro Hartz IV im Monat reichen!", lautete die Schlagzeile vom 6. September. Sie wird ihre Wirkung auf viele Leser nicht verfehlt haben.
„Münte" macht weiter wie bisher: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen"
www.koufogiorgos.de
Schließlich hatte ihnen die „Bild"-Zeitung zu diesem Zeitpunkt bereits eine Woche lang eingehämmert, dass Hartz IV ohnehin zu hoch sei und dass „der Missbrauch von Hartz IV [... ] immer größer [wird] - 126.600 aufgedeckte Fälle in nur einem Jahr". „So wird bei Hartz IV abgezockt!", „So einfach ist es, den Staat zu bescheißen", „Morgens kassiert sie Hartz IV - abends verkauft sie ihren Körper", so oder so ähnlich lauteten die Überschriften der ersten Septemberwoche.
Volkshetze mit falschen Zahlen
„Bild" erzählt jedoch nicht nur Geschichten über Sozialleistungsmissbrauch, sondern bildet seine Leser auch. So wurde am 1. September unter der Überschrift „Wer kriegt Hartz IV? BILD beantwortet die wichtigsten Fragen" in vermeintlicher Exaktheit verkündet, eine vierköpfige Familie mit zwei 14- und 16jährigen Kindern bekäme bei einer unterstellten Warmmiete von 619 Euro monatlich 1.812,40 Euro Hartz IV – obwohl die gesetzlichen Bestimmungen lediglich knapp 1490 Euro vorsehen. Auch für die behauptete „Missbrauchsquote", die laut „Bild"-Zeitung „nach Schätzungen bei 15 Prozent der Fälle" liegt, gibt es keinen Anhaltspunkt in der Realität. Alle Untersuchungen der letzten Jahre kommen auf einen Missbrauch von Hartz IV in einer Bandbreite von zwei bis allerhöchstens fünf Prozent.
Die allermeisten „Bild"-Zeitungsleser, von denen vermutlich manche mit einem Nettolohn unter dem angeblichen Hartz-IV-Betrag von 1.812,40 Euro eine vierköpfige Familie ernähren müssen, wissen natürlich nicht, dass ihre Zeitung mit falschen Zahlen operiert. Und so nähren solche Behauptungen gezielt die Wut auf die „Sozial-Abzocker" mit der Folge, dass gar nicht mehr zwischen den relativ wenigen Sozialleistungsbetrügern und der übergroßen Zahl der ehrlichen Hartz-IV-Empfänger unterschieden wird. Inzwischen kann man bereits in Internetforen beobachten, wie Geringverdiener, von denen viele nur eine Betriebsschließung oder einen Bandscheibenvorfall von Hartz IV entfernt sind, auf Hartz-IV-Empfänger losgehen, als ob es sich diese alle auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung in der angeblich ach so bequem gepolsterten sozialen Hängematte bequem gemacht hätten.
Die Hartz-IV-Wirklichkeit
Wie sieht jedoch die Wirklichkeit im Jahr 4 von Hartz IV aus? Der 2005 auf 345 Euro festgelegte Regelsatz, der schon damals nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bei mindestens 412 Euro hätte liegen müssen, stieg seitdem, trotz der hohen und insbesondere Menschen mit geringen Einkünften belastenden Inflation, um gerade einmal sechs auf heute 351 Euro pro Monat. (Ehe-)Paare müssen mit 316 Euro pro Kopf auskommen, für Kinder gilt ein Satz von 211 Euro für unter 14jährige und 281 Euro für über 14jährige.
Hinzu kommt, dass eine stets wachsende Zahl von Hartz-IV-Empfängern über diese Regelsätze nicht einmal mehr in voller Höhe verfügen kann. Denn viele müssen einen Teil davon zur Finanzierung ihrer Wohnungsmiete aufwenden. Die Miete wird nämlich nach den Bestimmungen des zweiten Sozialgesetzbuches nur dann komplett bezahlt, wenn sie „angemessen" ist. Und da viele Kommunen und Landkreise mietmarktfremde Obergrenzen festgelegt haben, leben viele Hartz-IV-Empfänger in „unangemessenen" Wohnungen. So müssen sie entweder den „unangemessenen" Teil aus den Regelsätzen bestreiten oder, falls sie überhaupt eine günstigere Wohnung finden können, umziehen. Die bei einem Neueinzug in der Regel fällige Mietkaution wird zwar von den Behörden in der Regel bezahlt – jedoch nur als Darlehen und nur, wenn sich der Hartz-IV-Empfänger schriftlich verpflichtet, dieses in Raten zurückzuzahlen. In der Praxis sieht das dann so aus, dass das örtliche Job-Center einen Teil des Regelsatzes – meist zwischen 30 und 50 Euro pro Monat – zur Tilgung des Darlehens einbehält.
Hartz-IV als Schuldenfalle für Betroffene
Manche Hartz-IV-Empfänger schieben sogar mehrere Darlehen vor sich her. So sind die Behörden verpflichtet und meist auch bereit, einen „unabweisbaren" Bedarf wie beispielsweise die Ersetzung einer kaputten Waschmaschine durch eine (billige) neue zu bezahlen, dürfen aber hierfür im Anschluss so lange bis zu zehn Prozent vom Regelsatz einbehalten, bis das Darlehen getilgt ist. Auch die in Zeiten hoher Energiepreise üblich gewordenen hohen Jahresabrechnungen der Stromunternehmen werden, wenn sich der Kunde mit diesen nicht auf eine Ratenzahlung verständigen kann, auf Antrag meist – aber eben auch wieder als Darlehen – übernommen. Inzwischen sind nicht nur viele Erwachsene bei der Bundesagentur von Arbeit verschuldet, was in Anbetracht der Tatsache, dass Verschuldung als Vermittlungshemmnis in Arbeit gilt, geradezu grotesk anmutet, sondern auch viele Kinder. Frei nach dem Motto „Kinder haften für ihre Eltern", gibt es nämlich auch Rückforderungen der Behörden, die auf alle Familienmitglieder verteilt werden.
Niedrigverdiener mit schwankendem Einkommen, die aufstockendes Hartz IV beziehen, können hiervon ein Lied singen. Verdient ein „Aufstocker", beispielsweise im Monat Oktober 200 Euro mehr als üblich, da er viele Überstunden gemacht hat, kann er die Lohnabrechnung erst Anfang November bei der Behörde einreichen. Diese rechnet dann den Anspruch für Oktober rückwirkend neu aus und fordert den „überzahlten" Betrag von allen Mitgliedern der im Hartz-IV-Deutsch so genannten „Bedarfsgemeinschaft" anteilig zurück. In aller Regel wird der „überzahlte" Betrag für dringend benötigte Anschaffungen schon lange ausgegeben sein, und so kann bereits ein Hartz-IV-Säugling Schulden bei der Bundesagentur für Arbeit haben, die diese 30 Jahre lang zurückfordern kann. Bei Lichte betrachtet, ist es eigentlich ziemlich absurd, was alles unternommen wird, um den Schein zu wahren, die Hartz-IV-Sätze seien ausreichend.
Fotos: gesichter zei(ch/g)en
Hartz IV zerstört demokratische Substanz
So gibt es immer mehr Suppenküchen und mit großem finanziellem und personellem Aufwand betriebene „Tafeln", in denen Menschen, die man „sozial schwach" nennt, gegen Nachweis ihrer „Bedürftigkeit" verbilligte Lebensmittel einkaufen können. In vielen Städten werden in den Schulen aus kommunalen Mitteln oder Spenden finanzierte Ein-Euro-Essen für Hartz-IV-Kinder angeboten, und zahlreiche kirchliche, kommunale oder private Initiativen „gewähren" Hartz-IV-Empfängern zum neuen Schuljahr Beihilfen, um den Schulbedarf für ihre Kinder einkaufen zu können. Alle diese Initiativen helfen Hartz-IV-Empfängern natürlich etwas aus ihrer finanziellen Misere, geben ihnen aber nicht ihre Würde zurück, die ihnen durch „Untersuchungen" wie die der Herren Thießen und Fischer oder durch „Bild"-Zeitungs- und andere Kampagnen genommen wird. Im Gegenteil: Wer gezwungen ist, tagaus, tagein überall als Bittsteller aufzutreten, wer mit ansehen muss, wie die eigenen Kinder in der Schulmensa ein Ein-Euro-Essen bekommen, während es für die meisten anderen kein Problem darstellt, den vollen Preis zu bezahlen, der braucht ein sehr großes Selbstbewusstsein und ein sehr stabiles soziales Netz, um sich nicht als Mensch zweiter Klasse zu fühlen.
Viele Hartz-IV-Empfänger haben jedoch weder das eine noch das andere. „Die durch sozialstaatliche Sicherungen verbürgte Angstfreiheit der Menschen ist der demokratischen Substanz unserer Gesellschaftsordnung zugute gekommen", schrieb Oskar Negt vor einem Jahr. 2) Durch Hartz IV ist die Angst zurückgekehrt. Für die demokratische Substanz lässt das nichts Gutes erwarten. (HDH)
1) „Zeitschrift für Wirtschaftspolitik", 2/2008, S.145-173.
2) Oskar Negt, Unterschlagene Wirklichkeit. Leben wir in einer Gesellschaft des politischen Selbstbetrugs? In: „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte", 11/2007, S. 4-7, hier S. 6.
Online-Flyer Nr. 167 vom 08.10.2008