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Aktueller Online-Flyer vom 24. November 2024  

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Arbeit und Soziales
88 Sans Papiers halten in Paris seit 100 Tagen eine Zeitarbeitsfirma besetzt
Ohne Papiere, aber voller Hoffnung
Von Willi Hajek und Peter Bach

Unser Kölner Autor Peter Bach und Willi Hajek, der seit Jahrzehnten in der oppositionellen gewerkschaftlichen Bildungsarbeit aktiv ist, waren im Rahmen ihres Bildungsurlaubs mit einer Gruppe Berliner Berliner GewerkschafterInnen zu einem Seminar in Paris. Bei der Gelegenheit entdeckten sie einen seit dem 3. Juli andauernden Arbeitskampf von 88 „illegalen“ Bauarbeitern aus Mali, die die Zentrale der Zeitarbeitsfirma MAN/BTP besetzt halten. Außerdem besuchten sie die seit Mai ebenfalls von Sans Papiers besetzte Bourse du Travail am Place de la République Im Zentrum der Hauptstadt. In den üblichen deutschen Medien erfährt man darüber nichts. Hier ihr Bericht. – Die Redaktion. 


Seit mehr als hundert Tagen rund um die Uhr besetzt – Die "88" vor der Zentrale der Zeitarbeitsfirma MAN/BTB

„Ich bin für eine massive Regulierung. Es gibt viel Heuchelei bei den Patrons, zumeist kennen sie die rechtlose Situation der Beschäftigung genauso wie die Regierung und nutzen sie aus.“ (Philippe Lorrain, 62, Rentner)
 
„Totale Regulierung. Ob lange oder kurz im Lande, das macht keinen Unterschied für mich. Wenn die Unternehmen sie einstellen für diese schweren Arbeiten, dann brauchen sie die Menschen. Gleichzeitig nutzen sie die billige Arbeitskraft.“ (Emilie, 19, Studentin)
 
„Sie sind mutig, Gesicht zu zeigen, denn ohne Papiere riskieren sie die Ausweisung. Sie wollen hier arbeiten, lassen wir sie also in Ruhe hier leben. Die brutale Ausbeutung muss ein Ende haben.“ (Esteban Janssen, 25, Soldat) – Leser-Zitate mit Fotos und Namen aus „Le Parisien“, der größten Tageszeitung in Paris.  Aber nichts  in den „großen" deutschen Medien!
 
Streiks der „Illegalen“ begannen im April
 
Etwa 200.000 bis 400.000 Menschen leben ohne Papiere in Frankreich. Viele kommen aus Westafrika, zumeist arbeiten sie schon lange Jahre auf Baustellen, im Hotel- und Gaststättengewerbe. Insgesamt leben etwa 5,6 Millionen MigrantInnen in Frankreich, in Deutschland etwa 8 Millionen. Seit April 2008 streiken und besetzen viele dieser „illegalen“ Arbeiter ihre Baustellen und andere Arbeitsplätze. Gewerkschaften wie die CGT, die Sud-Solidaires und die CNT unterstützen diese Bewegung und bieten den Streikenden Unterstützung und Schutz.
 
Seit dem 3. Juli besetzt und belagert eine Gruppe von 88 Arbeitern aus Mali die Zentrale der Zeitarbeitsfirma MAN/BTP, die sie auf die Baustellen der großen Baufirmen vermittelt. Demonstrationen vor den Zentralen der Bauunternehmen führten zu ersten Verhandlungen mit den Auftraggebern.
 
Zumeist vor einigen Jahren ins Land gekommen, angestellt mit falschen Papieren von Bekannten, bezahlen sie Steuern, bekommen aber trotzdem keine Papiere. Die Präfekturen lehnen ab, weil sie keine Dauerbeschäftigung vorweisen können. Die Zeitarbeitsfirmen stellen ihnen immer wieder kurzfristige Arbeitsverträge aus, obwohl sie schon seit Jahren – manche mehr als zehn – bei denselben Bauunternehmern auf den verschiedenen Baustellen beschäftigt sind.
 
Der Boss – ein enger Vertrauter von Sarkozy
 
Sie fordern von Martin Bouygues, dem Erben des Baulöwen Francis Bouygues und engen Vertrauten von Sarkozy, mit dem er angeblich jeden Tag telefoniert, und anderen Baukapitalisten unbefristete Arbeitsverträge. Die Präfektur will solche Arbeitsverträge sehen. Die Unternehmen verlangen umgekehrt gültige Papiere, um diese Verträge auszustellen. Die Streikenden wollen nun diese absurde Logik zerbrechen und endlich die gleichen bürgerlichen Rechte wie ihre französischen Kollegen. Sie wollen keine Angst mehr haben vor den Razzien in den Wohnheimen, den Kontrollen auf der Strasse und vor allem nicht länger die ständige Angst, sofort ausgewiesen zu werden. Ihre Familien und Angehörigen in Mali warten auf die  monatlichen Überweisungen. Ein Drittel der Bevölkerung in Mali lebt von Überweisungen aus den Metropolen.


Viel Solidarität im Viertel um den Gare du Nord

Im Stadtteil rund um den Gare du Nord gibt es viel Solidarität, erzählen uns die Streikenden bei unserem Besuch. Sie sind auch weithin sichtbar, belagern die Zeitarbeitsfirma, haben Zelte auf dem Trottoir aufgebaut. Tag und Nacht sind sie präsent trotz Ramadan. Stühle, Tische, Matratzen schaffen ein dörfliches Ambiente. „Die Bande der 88“ – insgesamt 88 Arbeiter, mehr als die Hälfte aus Mali – und wollen endlich anerkannt werden. Der Priester aus der St. Vincent-Paul im Stadtteil schließt sie in sein Gebet ein, und einige von ihnen gehen sogar in die sonntägliche Andacht.
 
Ihr Leben hat sich durch den Arbeitskampf völlig verändert. Sie erfahren viel menschliche Unterstützung. Man bringt ihnen Getränke und Essen. Mit den Unterstützern und untereinander  werden Diskussionen geführt. Sie sind sehr stolz darauf, dass das Streikkomitee der „88“ allein verantwortlich ist für alle Entscheidungen. Ratschläge und Ideen nehmen sie aber gerne an. Die Polizei beobachtet inzwischen seit Monaten von der Straßenecke und aus der Ferne das Geschehen.


Streik-Shirt – durch Unterstützung der
Gewerkschaft
Gewerkschaften unterstützen diesen Kampf. Hier bei der Zeitarbeitsfirma ist es die SUD- Solidaires. ‚SUD’ ist die Abkürzung für solidaire(s), unitaire(s), démocratique(s) – solidarisch, einheitlich, demokratisch. An anderen Streikorten ist es vor allem die CGT. Die Confédération générale du travail steht traditionell der Kommunistischen Partei nahe. Sie hat von Anfang an eine entscheidende Rolle bei der Mobilisierung der Sans Papiers gespielt. Durch den Arbeitskampf haben alle Streikenden die Nützlichkeit von Gewerkschaften entdeckt, um Selbstbestimmung und Selbstorganisierung zu fördern. Eine ganz neue Erfahrung für viele der „88“ in der Rue Saint-Vincent-de-Paul. Sie haben sogar eine Streikzeitung, das „Journal Espoirs“, die sie mit dem Untertitel „Sans papiers, mais pleins d’espoirs“ („Ohne Papiere, aber voller Hoffnung“) gedruckt an Passanten verteilen. Die fünfte Ausgabe erschien Ende September. (PK)
 
Letzte Streikzeitung und weitere Informationen unter www.espoirs.info.

Fotos: Peter Bach

Online-Flyer Nr. 167  vom 08.10.2008



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