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Arbeit und Soziales
Bildungschancen schlechter als in Rumänien oder Bulgarien
Bildungsnotstand BRD
Von Anja Gadow
Laut einer aktuellen, aber bis heute von der Bundesregierung
zurückgehaltenen HIS-Studie (Hochschul-Informations-System) haben allein
vom Abiturjahrgangs 2006 rund 18.000 Studienberechtigte weniger ein
Studium angetreten. Als Grund für einen Studienverzicht haben die sonst
durchaus Studienwilligen und -fähigen aber die Einführung von
Studiengebühren genannt, die in mehreren Bundesländern vor einigen
Jahren eingeführt wurden. Das ist erst mal das traurige Ergebnis
bundesdeutscher Bildungspolitik, wo man an Sonntagen gern an den
Bildschirmen die neue „Qualifizierungsoffensive" verkauft.
Studienverzicht statt Bildungsoffensive
Die Entwicklung ist nicht gänzlich neu, weil immer schon
Finanzierungsprobleme Studierende in Not brachten. Aber in dieser
dramatischen Dimension ist dies inzwischen einmalig.
Studieninteressierte aus den sogenannten niedrigen und mittleren
Einkommensschichten werden bereits vor Einführung der Studiengebühren in
großer Zahl vom Studium abgeschreckt. Die Gründe waren und sind hier in
aller Regel die Angst vor der massiven Verschuldung, welche unter
anderem mit dem BAföG-Bezug einher geht, und die mangelnde Sicherheit
der Studienfinanzierung. Denn Studieren ist teuer, und gegenüber den
„guten alten" Studienzeiten von noch vor 20 Jahren bekommt man
heutzutage das dafür ausgegebenen Geld nicht mehr so leicht wieder herein.
Die 17. Sozialerhebung des deutschen Studentenwerks (DSW) hat unter
anderem ergeben, dass sich Studieninteressierte aus niedrigen und
mittleren sozialen Schichten meist den Studienort nicht so einfach
aussuchen können. Sie sind aus finanziellen Gründen nicht so mobil wie
Studieninteressierte aus akademischen Elternhäusern. Wurden also in der
Region Studiengebühren eingeführt, trifft es diese Gruppe am stärksten.
Von 100 Akademiker-Söhnen und -töchtern studieren 83, von
Nicht-Akademikern nur 23. Schlimmer noch: Der Anteil der Studierenden
aus Akademiker-Familien ist seit 1982 von 17 auf 38 Prozent gestiegen,
bei Nichtakademikern von 23 auf 13 Prozent gesunken. Im europäischen
Vergleich sind die Chancen nur noch in Rumänien und Bulgarien schlechter.
Stipendien oder eine bedarfsdeckende Finanzierung des Studiums fallen
nicht vom Himmel, dies muss entweder durch zusätzliche Arbeit finanziert
oder als Schulden später getilgt werden. Obwohl durch die Politik
vollmundig verkündet, ist der angekündigte große Ausbau des
Stipendiensystems bisher ausgeblieben. Aber auch der hätte der am
stärksten benachteiligten Gruppe kaum mehr helfen können, da sie ohnehin
während des Studiums noch einen Job auszuüben gezwungen sind. Leichter
haben es diejenigen betuchter Eltern, und leider sehen manche das
Problem der Ungerechtigkeit nicht. Im Gegenteil!
Berufserfahrung in der Pommesbude
Schließlich wird in der Öffentlichkeit gerne ein Bild vermittelt,
nachdem studentische Erwerbstätige durch die Jobs zusätzlichen Nutzen in
Form von praktischer oder berufsnaher Erfahrung für sich gewinnen
können. Aber genau diese Jobs, die Studierende dann tatsächlich
bekommen, haben diesen Bezug meist nicht. Stellen als studentische
Hilfskräfte in den Hochschulen sind eher selten und meistens auch noch
schlecht vergütet. Häufiger sind Beschäftigungen bei Fast-Food-Ketten,
in Kinos oder in der Gastronomie. Und fast alle diese Stellen haben
eines gemein: Sie sind mit dem Studium nur schlecht vereinbar. Das
bedeutet: Man malocht innerhalb der Woche abends oder nachts. Vor allem
die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge mit ihren hohen Präsenzzeiten
führen oft zu einem Zeitaufwand von über 50 Stunden in der Woche für das
Studium und lassen den meisten kaum noch Luft zum Leben.
Plakate: arbeiterfotografie.com
Als „Zeitmanager" ihrer selbst haben sie gut zusätzlich damit zu tun,
Job, Studium und Erholungszeit so sinnvoll zu verknüpfen, um den hohen
Anforderungen der neuen Studiengänge gerecht zu werden. Eine für viele
fast unmögliche Herausforderung. Die kann zwangsläufig darauf
hinauslaufen, dass entweder das Studienziel gefährdet wird oder viele
zum Erreichen des Studienabschlusses über die Regelstudienzeit hinaus
kommen. Und am Ende stehen dann noch die Studiengebühren von 1.000 Euro
jährlich.
Viele Studieninteressierte hatten schon vor der Einführung von
Studiengebühren Probleme mit der Beantwortung der Frage, wie sie ihr
Studium finanzieren sollten. Die Gruppe derer, die ihre
Studienfinanzierung als ungewiss Angaben, ist laut Sozialerhebung des
DSW zwischen den Befragungszeiträumen 2003 und 2006 deutlich gestiegen.
Schuldentilgung statt Familienplanung
Die Situation für Frauen und Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen
hat sich durch die Einführung von Studiengebühren nochmals
verschlechtert. Laut Sozialerhebung des DSW werden die Studienfächer
immer noch geschlechtsspezifisch gewählt. Als klassisches Beispiel sei
hier auf den Lehramtsstudiengang der Grundschullehrerin verwiesen. Und
dieser Abschluss verspricht nach Ende des Studium bekanntlich keine Entlohnung,
mit der man große Sprünge machen kann. Generell erhalten Frauen in der
Regel bis heute immer noch weniger Gehalt als Männer mit vergleichbarer
Tätigkeit. Durch den Schuldenberg, der sich während des Studiums
anhäuft, stellen sich viele Frauen die Frage, wie sie eine Familie
gründen und gleichzeitig diese Schulden abtragen können. Die Einführung
der Studiengebühren spricht also nicht für eine weitsichtige Politik der
gegenwärtigen Regierung.
Diese Rahmenbedingungen für Studierende fördern eher den Egoismus als
das Handeln für die Gesellschaft, wenn der Überlebenskampf den Vorrang
vor dem Studienziel erhält. Das gemeinsame Lernen mit den
Kommilitoninnen und Kommilitonen zu komplexen Fragestellungen bleibt
dabei auf der Strecke, das wissenschaftliche Lernen ohnehin. Wie aus
solchen Hochschulen fachlich und sozial kompetente Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler – und wissenschaftliches Arbeiten ist Teamarbeit –
hervorgehen sollen, bleibt wahrscheinlich in der Schublade von Annete
Schavan verborgen.
Viele Studienberechtigte wählen daher eher den Weg in eine berufliche
Ausbildung, bei der sie diese unwirtlichen Vorraussetzungen so nicht
vermuten. Da lockt schon mal das schnelle Geld mit dem Namen
„Ausbildungsvergütung" und Ressourcen gegen verloren. Deutschland ist
dabei, seine Zukunftschancen zu verspielen. (HDH)
Online-Flyer Nr. 169 vom 22.10.2008
Bildungschancen schlechter als in Rumänien oder Bulgarien
Bildungsnotstand BRD
Von Anja Gadow
Laut einer aktuellen, aber bis heute von der Bundesregierung
zurückgehaltenen HIS-Studie (Hochschul-Informations-System) haben allein
vom Abiturjahrgangs 2006 rund 18.000 Studienberechtigte weniger ein
Studium angetreten. Als Grund für einen Studienverzicht haben die sonst
durchaus Studienwilligen und -fähigen aber die Einführung von
Studiengebühren genannt, die in mehreren Bundesländern vor einigen
Jahren eingeführt wurden. Das ist erst mal das traurige Ergebnis
bundesdeutscher Bildungspolitik, wo man an Sonntagen gern an den
Bildschirmen die neue „Qualifizierungsoffensive" verkauft.
Studienverzicht statt Bildungsoffensive
Die Entwicklung ist nicht gänzlich neu, weil immer schon
Finanzierungsprobleme Studierende in Not brachten. Aber in dieser
dramatischen Dimension ist dies inzwischen einmalig.
Studieninteressierte aus den sogenannten niedrigen und mittleren
Einkommensschichten werden bereits vor Einführung der Studiengebühren in
großer Zahl vom Studium abgeschreckt. Die Gründe waren und sind hier in
aller Regel die Angst vor der massiven Verschuldung, welche unter
anderem mit dem BAföG-Bezug einher geht, und die mangelnde Sicherheit
der Studienfinanzierung. Denn Studieren ist teuer, und gegenüber den
„guten alten" Studienzeiten von noch vor 20 Jahren bekommt man
heutzutage das dafür ausgegebenen Geld nicht mehr so leicht wieder herein.
Die 17. Sozialerhebung des deutschen Studentenwerks (DSW) hat unter
anderem ergeben, dass sich Studieninteressierte aus niedrigen und
mittleren sozialen Schichten meist den Studienort nicht so einfach
aussuchen können. Sie sind aus finanziellen Gründen nicht so mobil wie
Studieninteressierte aus akademischen Elternhäusern. Wurden also in der
Region Studiengebühren eingeführt, trifft es diese Gruppe am stärksten.
Von 100 Akademiker-Söhnen und -töchtern studieren 83, von
Nicht-Akademikern nur 23. Schlimmer noch: Der Anteil der Studierenden
aus Akademiker-Familien ist seit 1982 von 17 auf 38 Prozent gestiegen,
bei Nichtakademikern von 23 auf 13 Prozent gesunken. Im europäischen
Vergleich sind die Chancen nur noch in Rumänien und Bulgarien schlechter.
Stipendien oder eine bedarfsdeckende Finanzierung des Studiums fallen
nicht vom Himmel, dies muss entweder durch zusätzliche Arbeit finanziert
oder als Schulden später getilgt werden. Obwohl durch die Politik
vollmundig verkündet, ist der angekündigte große Ausbau des
Stipendiensystems bisher ausgeblieben. Aber auch der hätte der am
stärksten benachteiligten Gruppe kaum mehr helfen können, da sie ohnehin
während des Studiums noch einen Job auszuüben gezwungen sind. Leichter
haben es diejenigen betuchter Eltern, und leider sehen manche das
Problem der Ungerechtigkeit nicht. Im Gegenteil!
Berufserfahrung in der Pommesbude
Schließlich wird in der Öffentlichkeit gerne ein Bild vermittelt,
nachdem studentische Erwerbstätige durch die Jobs zusätzlichen Nutzen in
Form von praktischer oder berufsnaher Erfahrung für sich gewinnen
können. Aber genau diese Jobs, die Studierende dann tatsächlich
bekommen, haben diesen Bezug meist nicht. Stellen als studentische
Hilfskräfte in den Hochschulen sind eher selten und meistens auch noch
schlecht vergütet. Häufiger sind Beschäftigungen bei Fast-Food-Ketten,
in Kinos oder in der Gastronomie. Und fast alle diese Stellen haben
eines gemein: Sie sind mit dem Studium nur schlecht vereinbar. Das
bedeutet: Man malocht innerhalb der Woche abends oder nachts. Vor allem
die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge mit ihren hohen Präsenzzeiten
führen oft zu einem Zeitaufwand von über 50 Stunden in der Woche für das
Studium und lassen den meisten kaum noch Luft zum Leben.
Plakate: arbeiterfotografie.com
Als „Zeitmanager" ihrer selbst haben sie gut zusätzlich damit zu tun,
Job, Studium und Erholungszeit so sinnvoll zu verknüpfen, um den hohen
Anforderungen der neuen Studiengänge gerecht zu werden. Eine für viele
fast unmögliche Herausforderung. Die kann zwangsläufig darauf
hinauslaufen, dass entweder das Studienziel gefährdet wird oder viele
zum Erreichen des Studienabschlusses über die Regelstudienzeit hinaus
kommen. Und am Ende stehen dann noch die Studiengebühren von 1.000 Euro
jährlich.
Viele Studieninteressierte hatten schon vor der Einführung von
Studiengebühren Probleme mit der Beantwortung der Frage, wie sie ihr
Studium finanzieren sollten. Die Gruppe derer, die ihre
Studienfinanzierung als ungewiss Angaben, ist laut Sozialerhebung des
DSW zwischen den Befragungszeiträumen 2003 und 2006 deutlich gestiegen.
Schuldentilgung statt Familienplanung
Die Situation für Frauen und Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen
hat sich durch die Einführung von Studiengebühren nochmals
verschlechtert. Laut Sozialerhebung des DSW werden die Studienfächer
immer noch geschlechtsspezifisch gewählt. Als klassisches Beispiel sei
hier auf den Lehramtsstudiengang der Grundschullehrerin verwiesen. Und
dieser Abschluss verspricht nach Ende des Studium bekanntlich keine Entlohnung,
mit der man große Sprünge machen kann. Generell erhalten Frauen in der
Regel bis heute immer noch weniger Gehalt als Männer mit vergleichbarer
Tätigkeit. Durch den Schuldenberg, der sich während des Studiums
anhäuft, stellen sich viele Frauen die Frage, wie sie eine Familie
gründen und gleichzeitig diese Schulden abtragen können. Die Einführung
der Studiengebühren spricht also nicht für eine weitsichtige Politik der
gegenwärtigen Regierung.
Diese Rahmenbedingungen für Studierende fördern eher den Egoismus als
das Handeln für die Gesellschaft, wenn der Überlebenskampf den Vorrang
vor dem Studienziel erhält. Das gemeinsame Lernen mit den
Kommilitoninnen und Kommilitonen zu komplexen Fragestellungen bleibt
dabei auf der Strecke, das wissenschaftliche Lernen ohnehin. Wie aus
solchen Hochschulen fachlich und sozial kompetente Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler – und wissenschaftliches Arbeiten ist Teamarbeit –
hervorgehen sollen, bleibt wahrscheinlich in der Schublade von Annete
Schavan verborgen.
Viele Studienberechtigte wählen daher eher den Weg in eine berufliche
Ausbildung, bei der sie diese unwirtlichen Vorraussetzungen so nicht
vermuten. Da lockt schon mal das schnelle Geld mit dem Namen
„Ausbildungsvergütung" und Ressourcen gegen verloren. Deutschland ist
dabei, seine Zukunftschancen zu verspielen. (HDH)
Online-Flyer Nr. 169 vom 22.10.2008