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Aktueller Online-Flyer vom 22. November 2024  

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Arbeit und Soziales
Suppenküche statt Sozialstaat
Tafeln expandieren
Von Jan Eisner

Den Ausgegrenzten dieses Landes bleibt nur noch die vom Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) empfohlene Unterernährung, als er behauptete: "Man kann sich vom Transfereinkommen vollständig, gesund und wertstoffreich ernähren" oder die Teilnahme am Suppenküchenstaat. Die Tafeln rechnen bis zum Ende dieses Jahres mit rund einer Million „Gästen“. Das wäre eine Verdopplung innerhalb der letzten drei Jahre. In der Bundesrepublik existieren derzeit 795 Tafeleinrichtungen. Ein trauriger Rekord, der System hat.

So oder so ähnlich geht das nun seit Jahren, von ARD bis ZDF, von Nachrichtensendungen und Talk-Shows wie Anne Will bis hin zum Frühstücksfernsehen: „Die Idee ist bestechend einfach“, lässt die Tagesschausprecherin gleich in ihrer Anmoderation verlauten, „Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, werden nicht weggeschmissen, sondern an Bedürftige verschenkt“. Dann folgen die üblichen Schwenks durch einen der bundesweit mittlerweile über 800 Tafelläden, die zahlreichen Ehrenamtlichen werden erwähnt, welche die Waren für die Bedürftigen heranschaffen würden, schließlich ist von der wachsenden Armut vor allem unter Kindern und Jugendlichen die Rede. Die Tafeln, die seit 15 Jahren Nahrungsmittel in Deutschland an Bedürftige verteilen, haben ein positives Image. Sie gelten als zuverlässige Mahner gegen Armut und brauchen kritische Nachfragen nicht zu fürchten.

Professionalisierung

Vielleicht reagiert der Bundesverband der Tafeln daher auch mangels Routine etwas dünnhäutig auf das Buch „Fast ganz unten“ von Stefan Selke, das dieser Tage erschienen ist. Der Furtwangener Soziologieprofessor berichtet von Versuchen, ihn von einem Podium auf der bundesweiten Versammlung der Tafeln in Magdeburg wieder auszuladen. Dabei ist Selke ein eher moderater Kritiker der Tafeln, lobt das Engagement an der Basis, stellt aber die zunehmenden Professionalisierungsbemühungen der Führung in Frage. Das Buch kommt jedenfalls zu einem heiklen Zeitpunkt für den Bundesverband in die Öffentlichkeit. Von der offiziell verkündeten Kultur des Ehrenamts hat man sich teilweise verabschiedet; zu den nach Tafel-Angaben rund 35.000 unbezahlten Kräften kommen inzwischen 3.000 bezahlte hinzu, die meisten davon Ein-Euro-Jobber. Seit dem Jahr 2006 arbeitet in Berlin zudem eine Bundesgeschäftsstelle mit fünf Hauptamtlichen, deren Stellen noch durch ein privates Unternehmen finanziert werden, zukünftig aber – geht es nach dem Bundesvorstand der Tafeln – teilweise vom Staat getragen werden sollen. Als Schirmherrin fungiert mittlerweile Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen.


Karin Richert: Einladung
zur Ausstellung „Rettet
den Reichtum", 2006
Quelle: arbeiterfotografie.com
Der Verband kündigt zwar eine verstärkte Einmischung in sozialpolitische Fragen an, ein präziser Beschluss, auf wieviel Euro der Hartz-IV-Regelsatz erhöht werden soll, fehlt aber bis heute. Innerhalb des Vorstandes unterstütze man die Forderung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands nach einer Erhöhung auf 440 Euro, so der Tafel-Vorstandsvorsitzende Gerd Häuser gegenüber junge Welt. Offensiv nach außen, etwa in den Pressemitteilungen, kommuniziert die Tafel diese Forderung jedoch nicht. Die fehlende Beschlusslage mag zwar, wie Häuser erklärt, der bisherigen Struktur der Tafeln, die sich noch vor allem um die Organisation der karitativen Arbeit kümmern, geschuldet sein. Doch hilfreich für eine zukünftig bedeutende Rolle ist sie auch. Denn anders als Arbeiterwohlfahrt oder Caritas, die sich um zahlreiche Felder der Sozialarbeit kümmern, sind die Tafeln geradezu an die Existenz von Hartz-IV-Betroffenen gekoppelt. Von 2004 bis 2008 hat sich deren Zahl verdoppelt. Einschließlich derer, die so wenig verdienen, dass sie ebenfalls Hartz IV erhalten. Mit einer entsprechenden Erhöhung des Regelsatzes könnten viele wieder verschwinden und die politische Bedeutung des Verbandes zurückgehen.

Grundversorgung

Dazu dürfte es vorerst allerdings nicht kommen. Radikalere Kritiker glauben an eine nahezu perfekte Symbiose zwischen Tafelarbeit und Sozialkürzungen. Während Rechtsansprüche auf Teilhabe gestrichen würden, propagiere die Politik bürgerschaftliches Engagement und private Mildtätigkeit, die von den Tafeln umgesetzt würden. So verweist die Hamburger AG „Arbeit und Armut“ der Partei Die.Linke darauf, dass die US-amerikanischen food banks als Vorbild der deutschen Tafeln fungieren. Von den USA lernen, bedeute auch zu lernen, wie durch den systematischen Rückzug des Staates aus der sozio-ökonomischen Grundversorgung eine ständig wachsende Bevölkerungsschicht ökonomisch verelendet. Bei den food banks erhalten sie ihr Gnadenbrot.


Prof. Dr. Stephan Selke hat zum Thema ein Diskussionsforum eröffnet
Quelle: Tafelforum

Die derzeitige Expansionspolitik der Tafeln arbeitet einem solchen Rückzug des Staates jedenfalls in die Hände. Was ursprünglich als lokales Zusatzangebot für Bedürftige im Bereich Nahrung geplant war, wird zu einer flächendeckenden Rundumversorgung, die inzwischen auch Kleidung und Möbel anbietet. Man darf gespannt sein, ob angesichts dieser Infrastruktur Vorschläge aus Politik und wirtschaftsnahen Instituten ausbleiben werden, die Regelsätze der Hartz-IV-Empfänger um den Anteil für Ernährung, Kleidung und Hausrat zu kürzen und einfach auf das Rundumangebot von Altkleidersammlungen und Tafeln zu verweisen. (HDH)














Stephan Selke: Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2008. 240 Seiten. ISBN 978-3-89691-754-6. 19,90 EUR.

Online-Flyer Nr. 174  vom 26.11.2008



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