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Aktueller Online-Flyer vom 03. Februar 2025  

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Kultur und Wissen
Alternativer Karneval: eine „Kindersitzung“ wird erwachsen
Ziege, Ziege, Ziege!
Von Christian Heinrici

Ziege ist kein Schimpfwort im alternativen Kölner Karneval – erinnert es doch vielmehr an den Schlachtruf der „Ziegenbartsitzung“ – einer der berühmtesten Karnevalsveranstaltungen von Kindern für Kinder: „Das ist der Wahnsinn, mäh, mäh, mäh, mäh... Ziege, Ziege, Ziege!“ Doch die ist längst nicht mehr nur etwas für Kinder und Jugendliche. In ihrem nunmehr achten Jahr gab es zwei Abendvorstellungen des Kinderensembles, samt hochkarätiger Gäste auf der Bühne, wie Jürgen Becker, Wilfried Schmickler, dem Duo Köster & Hocker und Klaus dem Geiger.

Nach dem Umzug der in der Kölner Südstadt verwurzelten Sitzung auf die andere Rheinseite, nach Porz-Westhoven in den „Engelshof“ vor zwei Jahren, gelang nun auch dieses Experiment der Familienzusammenführung. Präsident Jürgen Becker und seine Tochter Randi als Präsidentin wechselten sich in der Moderation ab – und so auch die Mischung der Szenen, die teilweise der Kindersitzung entnommen waren. Das tat allerdings dem tiefsinnigen und natürlich zickigen Humor der Sitzung keinen Abbruch – im Gegenteil: Amateure und Profis boten ein abwechslungsreiches Programm, das es an Spitzen nicht fehlen ließ.

Ziegenbartsitzung 2009 Jürgen Becker, Elferrat Foto: Christian Heinrici
Der Elferrat und zwei Präsidenten | Alle Fotos: Christian Heinrici

Wenn ich oben von zwei Präsidenten geredet habe, war das natürlich vollkommener Unsinn: Der einzig wahre Präsident der Sitzung ist ein Ziegenbock – und sogar noch ein vierter kam hinzu: Barack Obama, hervorragend (auf kölsch-amerikanisch) gespielt von Jungdarsteller Laurenz Laufenberg. Erst als Berater engagiert, für die Ziege, die gegen Heidi Klum („der Ziege aus Mountain Gladback“) bei einem Modellwettbewerb antreten soll, kommt er später auf die Idee, das Tier in die USA zu entführen. Das kann natürlich nicht gelingen, und so bleibt der vor Selbst- und pfingstischem Sendungsbewusstsein strotzende Präsident auch erst einmal in Köln. Die Stadt brauche doch schließlich gute Politiker, hieß es richtig auf der Sitzung.

Ziegenbartsitzung 2009 Die Ziege Foto: Christian Heinrici
Das Wappentier – könnte auch einen guten Politiker abgeben...

Wie wahr! Und so war es nicht verwunderlich, dass Jürgen Becker die jüngsten Skandale in Klüngelonia thematisierte – erbost über die Beraterverträge: „...Unser Kölner CDU-Abgeordnete Rolf Bietmann hatte so einen mit der Stadtsparkasse – da kriegt der 900.000 Euro: für nix! Oder unser Bürgermeister Jupp Müller auch: mehrere Hunderttausend Euro fürs Beraten! Dieser Jupp Müller, das ist ein strunzdoofer Mann, der kann überhaupt nicht beraten! (Lachen und Applaus) Die Stadtsparkasse hat eben ein Herz für Geistigbehinderte und Straftäter...

Gehen Sie in die Stadtsparkasse, und stellen sie sich so deppert an wie Jupp Müller. Man wird ihnen den Zaster rüberschieben! Und wenn nicht, dann schlagen sie den Laden kurz und klein. Die Stadtsparkasse ist öffentlich-rechtlich, die gehört sowieso uns allen. Und wenn Sie irgendwo in Köln diesen Herrn Bietmann rumfahren sehen: Parken Sie das Auto zu, und warten Sie so lange, bis er die 900.000 Euro wieder rausrückt! Das ist nämlich unser Geld!“

Wer nicht lesen will, muss hören – und zwar hier:
  und zwar hier

Ziegenbartsitzung 2009 Jürgen Becker Foto: Christian Heinrici
Tradition im alternativen Karneval: Jürgen Becker oder der Irokesen-Heinz?

Solange wir mit solchen Politikern „gesegnet“ sind, wird den Kabarettisten der Zündstoff sicher nicht ausgehen – apropos: „Das Motto der diesjährigen Session“ fuhr Becker später fort „...heißt ‚Himmlisch Jeck’ – der Papst hat das wörtlich genommen... bisher war es doch immer die Aufgabe der Büttenredner und Kabarettisten, die Kirche zu blamieren. Jetzt macht der Jeck das selber. Dafür ist der nicht zuständig!“ Doch anscheinend gibt es religionsgeschichtliche Zusammenhänge, wie der Sitzungspräsident erläuterte:

„Die Kirche... wurde vor allem gegründet auf Humor. Denn Humor ist immer eine Fehlinformation ans Gehirn. Sie beruht auf Verrücktem, auf Verfälschtem, auf Falschem: Torte im Gesicht – gehört da nicht hin – lustig! (...) Also, warum hängt man einen fast nackten, an die Latte genagelten, langhaarigen, unrasierten Mann in eine Schulklasse mit kleinen Kindern?! Zweitausend Jahre rumhängen ist ja auch kein Vorbild für die Jugend! Man macht das, weil man Humor hat!“

Natürlich bekamen „Ka’nal Meissner“, Papst Ratzinger und andere Vertreter „rechten Glaubens“ ebenso ihr Fett ab – hören Sie selbst: und zwar hier

Ziegenbartsitzung 2009 Wilfired Schmickler Foto: Christian Heinrici
Wilfried Schmickler auf der Ziegenbartsitzung

Ein weiteres Highlight der Ziegenbartsitzung war ohne Zweifel der Auftritt Wilfried Schmicklers, der erst einmal – in einer seiner berühmt-berüchtigten Schimpftiraden – das tun musste, „wozu der Karneval erfunden worden ist, nämlich Dampf ablassen.“ („Das müssen Sie auch mal machen, am besten gleich nach dem Frühstück. Ich sage Ihnen, das befreit!“)

Aber es gebe ja auch gute Nachrichten, so der Träger des deutschen Kleinkunstpreises: „Sensationell: Ein Schwarzer wird Präsident in Amerika! Da hat sich die hessische SPD wahrscheinlich gedacht: Das können wir auch...“

Wieso eigentlich Klein-Kunst?! Sie werden sich das gleiche fragen, wenn Sie die Schmickler-Schelte selbst hören:
und zwar hier

Schon richtig große Kunst waren auch einige Auftritte des „Kinderensembles“, von dem ein guter Teil schon mit der Sitzung groß geworden ist: Ganz stark Max als „der wahre kölsche Bob Dylan“, denn „Wolfgang Niedecken ist ja auch eher der kölsche Rolf Zuckowski...“ Wer das wunderschöne wirkungsvolle Sankt-Martins-Schattentheaterspiel betrachtete, meinte, er höre „den Meister“ selbst singen, wie er mit unverwechselbarer Stimme und auf Kölsch dem „hillije Zinter Mätes“ rät, anstatt des Mantels doch lieber das Pferd zu teilen: „Gegen Hunger hilft Sauerbraten besser...“ Zugabe!

Ziegenbartsitzung 2009 Bob Dylan Foto: Christian Heinrici
Bob Dylan (der echte), Zinter Mätes (dä hillije), Pferd (noch ungeteilt)

Und, haben Sie sich nicht auch schon gefragt, wie das alles funktioniert, das mit der Wirtschaft, den Finanzen, der Spekulation, den Banken und der Krise? Armin Maiwald, die Stimme aus der Sendung mit der Maus, klärt auf: Wie man als Finanz-Cowboy mit einem toten Pferd und einer Lotterie noch eine Menge Gewinne machen kann.


Ziegenbartsitzung 2009 Edith Lübbert Armin Maiwald Foto: Christian Heinrici
Lebendig erklärt: „Die Sendung mit dem (toten) Pferd“

Edith Löbbert überzeugte (auch darstellerisch, siehe Bild unten) als kölscher Bauer, der sich etwas verschüchtert und sichtlich beschränkt auf die Suche nach einer Partnerin begibt: „Was ich an dir schätze: Einfachheit... Sauberkeit... Apartheid...“ Äußerst gelungen war genauso der Versuch des jungen Ensembles, die sechs „Harry Potter“-Bände in nur drei Minuten zu erzählen – ein Lob für den Gesang mit Geräusch- und Rapeinlagen und die phänomenale Choreographie (Sabine Nurtsch).

Ein aufwendiges Bühnenbild konnte man auf einem „Inlandsflug von Ehrenfeld nach Rath-Heumar“ bewundern, bei dem ein Selbstmordattentäter glücklich durch die „Sicherheitsschleuse“ gelangt... aber wieder einmal beruflich scheitern musste: Der Flieger konnte in Porz-Westhoven notlanden. Fast wie eine Notlandung im Gesamtzusammenhang wirkte leider der Auftritt von „Pippi & der Michel“, die etwas skurrile Darbietung wurde mit leisen Pfiffen bedacht.

Ziegenbartsitzung 2009 Pipi & der Michel Foto: Christian Heinrici
Humor der besonderen Art: „Pippi & der Michel“

Pfiffe vor Begeisterung dagegen gab es beim Auftritt von Gerd Köster und Frank Hocker. Mit ihren Hits „Kleine Mann“ und „Drei Cool Fätze“, die mir bis heute noch im Ohr sind, blues-rockten sie den Laden. „Bürjerwehr“ beschrieb eine Visite der besondern Art, im St. Vinzenz Hospital in Köln-Nippes, Karnevalssamstag um 17:04 Uhr. Und mit „Et Fischleed“ gab’s ein Geburtstagsständchen an Darwin: „Mer solle praktisch he d’r Sinn sin / De Endstation der Evolution / Ich sinn do praktisch keine Sinn drin...“ Es blieb also metaphysisch, wenn Gerd Köster an das Thema Gott anknüpfte: „Jemand, der Miles Davis und Marie-Luise Nikuta auf demselben Planeten rumlaufen lässt, muss schon eine Menge Humor haben...“

Ziegenbartsitzung 2009 Köster & Hocker Foto: Christian Heinrici
Gerd Köster und Frank Hocker: Krätzje zum Karneval

Mit einem hitverdächtigen „Hilfe, wir sind nicht freiwillig hier (unsere Eltern haben ein Schießgewehr)...“ stellte das Kinder- und Jugendensemble (in Zwangsjacke) dieselbe Sinnfrage: existentialistisch und mit einer guten Portion Selbstironie. Das Stück riss mit, nicht zuletzt durch Klaus der Geigers leidenschaftliche Begleitung. „Mathes Zick“, die Band der Ziegenbartsitzung, erbrachte unermüdlich, nicht nur musikalisch, sondern auch konditionell Hochleistungen.

Ziegenbartsitzung 2009 Mathes Zick Klaus der Geiger Sascha Loss Foto: Christian Heinrici
„Mathes Zick“: Klaus der Geiger und Family in musikalischem Dauereinsatz

Musikalisch und textlich konnte auch „O-Ton Süd“ überzeugen. Ob der Chor seine herrlich trockene Parodie auf äußerst leere Therapeuten-Weisheiten („Lernen los-zu-lassen... einfach nur ‚ich selbst’ sein, Seele baumeln lassen... jede volle Stunde – Finger in die Wunde...“) in Michaelshoven, wo er zeitweilig probte, aufgegriffen hat, ist zum Redaktionsschluss noch ungeklärt. Anders liegt der Fall bei den „Ahoi-Brausen“ – ist es doch klar, dass sich auf der Presslufthammer-gequälten südlichen Hälfte der „Hansestadt" Köln (vom Chlodwigplatz bis zum „Rheinauhafen“) ein Shanty-Chor zusammenfinden musste, der wunderbar abgestimmte Kanons mit frechen Texten singen kann.
 
Ziegenbartsitzung 2009 Ahoi-Brausen Foto: Christian Heinrici
Kribbelig: die Ahoi-Brausen

Der Kapitän geht als letzter von Bord (auch wenn’s „nur“ ein Moseldampfer ist), und so ließ es sich Jürgen Becker nicht nehmen, doch noch zu singen – als Zugabe „Traben Trabach“. Dem kann ich mich nur anschließen: Zugabe! (CH)


Ziegenbartsitzung 2009 Jürgen Becker Foto: Christian Heinrici
„Traben Trabach ...wenn et eets zusammekütt, dann weed et richtig kölsch...“

Ziegenbartsitzung 2009 Barack Obama Laurenz Foto: Christian Heinrici
Finale mit eingekölschtem Obama, Kinderensemble und Ahoi-Brausen

Ziegenbartsitzung 2009 Edith Löbbert Foto: Christian Heinrici
Edith Löbbert als der Bauer | Alle Fotos: Christian Heinrici

Online-Flyer Nr. 184  vom 11.02.2009



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