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Aktueller Online-Flyer vom 24. November 2024  

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Inland
Auslieferung eines der letzten überlebenden NS-Kriegsverbrecher?
„Iwan der Schreckliche“
Von Peter Kleinert

John Demjanjuk (88), dem die Staatsanwaltschaft München als Mitglied der SS-Wachmannschaft des KZ Sobibór im damals besetzten Polen Beihilfe zum Mord an mindestens 29.000 Menschen vorwirft, könnte demnächst von den USA nach Deutschland ausgeliefert werden. Unter seinen ursprünglichen Vornamen Iwan Nikolajewitsch - die Gefangenen nannten in “Iwan der Schreckliche“ - war er seit Jahrzehnten einer der meistgesuchten NS-Verbrecher. „Viele Kriegsverbrecher entkommen ihrer Strafe durch Krankheit oder Tod“, ist eine Untersuchung überschrieben, die vor kurzem im Amsterdamer Handelsblad erschien.
Altersheim statt Gefängniszelle
 
Der Journalist Bart Funnekotter geht aufgrund seiner Recherchen von mehr als 600 möglichen Kriegsverbrechern aus, die heute, siebzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, eigentlich noch vor Gericht gestellt werden müssten. Ein Beispiel aus seinem Handelsblad-Bericht: „Heinrich Boere ist mit heiler Haut entkommen. Der frühere niederländische SSler (85) dürfte seine letzten Tage in einem Altersheim in der Eifel fristen, statt in einer Zelle in einem Gefängnis. Das Gericht in Aachen, wo er sich für drei Morde, die er während des Zweiten Weltkrieges in den Niederlanden begangen hat, verantworten sollte, beschloss am 7. Januar, dass er zu krank sei, um sich einem Prozess zu unterziehen.“
 
Sechs Jahrzehnte Rückstellung
 
In den siebziger und achtziger Jahren waren weltweit noch hunderte Ermittler und Juristen auf der Suche nach flüchtigen NS-verbrechern. Heute seien es nur noch einzelne und ca. zehn Verfahren, die zum Abschluss kommen könnten, so Bart Funnekotter. Im September 2008 hatte Ulrich Maaß, Oberstaatsanwalt in Dortmund, beschlossen, den SSler Boere in Deutschland vor Gericht zu bringen. Maaß ist Leiter der Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft für NS-Verbrechen in Nordrhein-Westfalen und hier hauptverantwortlich für die Verfolgung von verdächtigen Naziverbrechern. Wegen beschränkter Mittel dauerte es lange, bis er an die Strafsache Boere kam. Funnekotter: „Zu lange, wie sich nun herausstellt. Sechs Jahrzehnte Rückstellung haben zum Aufschub geführt.“
 
60 ungarische Juden ermordet?
 
Da ihm der Niederländer dank der Entscheidung der Aachener Richter durch die Finger gerutscht ist, richtet Oberstaatsanwalt Maaß seine Aufmerksamkeit nun auf andere Fälle. Seit Dezember untersucht er den Fall Adolf S. (89) aus Duisburg, einst Unterscharführer der Waffen-SS-Division Wicking. Adolf S. soll im März 1945 in Österreich sechzig ungarische Juden ermordet haben. Er wurde durch einen Studenten der Universität Wien aufgespürt, der seinen Namen im Telefonbuch fand. Maaß: „Die Österreicher wussten schon in den fünfziger Jahren, dass er nach Deutschland geflüchtet war, aber sie haben uns das nicht mitgeteilt. Nun haben wir es mit einem ernsthaft erkrankten Mann zu tun, bei dem es sehr zweifelhaft ist, ob wir ihn vor den Richter bringen können.“ Aber: „Das deutsche Volk hat eine Schuld auf sich geladen. Wir sind vor uns selbst und vor den Opfern verpflichtet, jeden anzuklagen, den wir verdächtigen, Verbrechen während des Naziregimes begangen zu haben.“
 
Nazijäger Ulrich Sander
 
Ulrich Sander - das Handelsblad nennt ihn „Nazijäger“ - ist Sohn eines deutschen Widerstandskämpfers, Journalist, Autor und Landessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA in NRW, kann Ulrich Maaß da nur zustimmen: „Wir sind in Deutschland recht gut im Gedenken an die Opfer der Nazis, aber nicht im Verfolgen der Täter. Nur Bedauern bezeugen, ist aber nicht genug.“ Sander spürt als Amateur und gemeinsam mit jungen Historikern schon Jahrzehnte nur mit Hilfe öffentlicher Quellen Naziverbrechern nach und lässt sich davon auch nicht abhalten, wenn - wie im Dezember 2003 - in diesem Zusammenhang aufgrund einer Anzeige von deren Verehrern im “Kameradenkreis der Gebirgstruppe“ seine Wohnung in Dortmund und das Landesbüro VVN/BdA in Wuppertal von Beamten des Polizeilichen Staatsschutzes durchsucht und sein PC und persönliche Briefe beschlagnahmt werden (siehe NRhZ 154). Sein 2008 im Kölner PapyRossa-Verlag veröffentlichtes Buch “Mörderisches Finale: NS-Verbrechen bei Kriegsende“ schrieb er, weil er davon überzeugt ist, dass zu wenig Aufmerksamkeit für die Tatsache besteht, dass die Nazis bis zum allerletzten Tag des Krieges weitermachten mit ihren Verbrechen: „Diese Täter müssen auch verurteilt werden. Der Holocaust bestand aus mehr als den Massenmorden in den Konzentrationslagern.“

Mörderisches Finale – NS-Verbrechen bei Kriegsende  
 
Sein Durchhaltevermögen scheint 2009 Früchte zu tragen. Im Herbst vorigen Jahres begann in München der Prozess gegen Josef Scheungraber, einer der Täter, die auch durch Sander aufgespürt wurden. Scheungraber war im Juni 1944 im Norden Italiens als Befehlshaber einer Kompanie verantwortlich für den Mord an vierzehn Bürgern als Vergeltung für einen Überfall von Partisanen. Er wurde 2006 in Italien in Abwesenheit zu lebenslänglich verurteilt.
 

Nazijäger und Buchautor  
Ulrich Sander
NRhZ-Archiv
„In Deutschland ist die Beweislast jedoch schwerer“, erklärt Sander. „Vor dem italienischen   Gesetz reicht es zu beweisen, dass einer bei dem Massaker dabei war. Der deutsche Richter will jedoch ganz genau und sicher wissen, dass der Täter den Abzug der Waffe selbst gespannt hat oder den Befehl dazu gegeben hat. Versuche mal, zuverlässige Zeugen dafür zu finden, sechzig Jahre danach.“
 
John Demjanjuk demnächst in München?
 
Neben der Strafsache Scheungraber könnte demnächst in München auch das oben erwähnte Verfahren gegen John Demjanjuk anlaufen, wenn “Iwan der Schreckliche“, von den  USA nach Deutschland ausgeliefert wird, wo er seit 1951 lebt, nachdem er seine ursprünglichen Vornamen Iwan Nikolajewitsch gegen John ausgeatuscht hatte. Demjanjuk war bereits 1988 in Israel für KZ-Verbrechen zum Tode verurteilt worden. 1993 wurde dieses Urteil in höherer Instanz wegen Zweifeln an den Beweisen aufgehoben und Demjanjuk durfte in die USA zurückkehren. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, Direktor der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen in Ludwigsburg, wollte sich mit dem Freispruch nicht abfinden und startete 2007 eine neue Ermittlung gegen Demjanjuk. Nach einem halben Jahr wurden Ergebnisse geliefert. Schrimm zum Handelsblad: „Wir haben nun überzeugende Beweise gefunden, dass er während des Krieges Verbrechen im KZ Sobibór begangen hat. Weil es sich hier um neue Fakten handelt, gibt uns das die Chance, ihn erneut vor Gericht zu bringen.“ Beweisen kann man offenbar, dass der gebürtige Ukrainer zu den “Trawnikis“ gehörte, eine Unterstützungstruppe der SS, die aus "fremdvölkischen Hilfswilligen" gebildet und nach einem Zwangsarbeiterlager in Polen benannt wurden. Unter deutschem Kommando ermordeten sie in den Ghettos Juden und dienten als KZ-Wächter.


Der SS-Ausweis von John Demjanjuk gilt als wichtiger Beweis der Anklage
Quelle: U.S. Department of Justice
 
In den achtziger Jahren leitete Schrimm noch 150 Mitarbeiter, mittlerweile sind es nur noch sieben. Doch er ist noch immer äußerst motiviert für seine Arbeit. Für die erste Hälfte 2009 stehen Ermittlungsreisen in die USA, nach Chile und Brasilien auf seinem Programm: „Wir lassen bei der Ergreifung nicht nach, auch wenn wir nicht täglich Erfolge verbuchen können. Wenn so eine Strafsache wie die von Demjanjuk endlich zu einer Verurteilung führt, macht das die Arbeit von Jahren gut.“ Die amerikanischen Behörden haben ihm bereits die US-Staatsbürgerschaft aberkannt, die amerikanische Justiz will ihn ausliefern, unklar ist aber, ob der Angeklagte als gesund genug für einen Flug angesehen wird oder am Ende - wie der SSler Heinrich Boere, dank der Entscheidung der Aachener Richter - auch vor einem Prozess bewahrt wird.
 

Jules Schelvis: Vernichtungslager Sobibór
– jahrelang vergriffenes Standardwerk
Über das KZ Sobibór, das wie Belzec und Treblinka eines der drei Vernichtungslager in Ostpolen war, wo im Rahmen der “Aktion Reinhardt“ in den Jahren 1942 und 1943 etwa 1,7 Millionen Juden getötet wurden, hat der holländische Jude Jules Schelvis das Buch “Vernichtungslager Sobibór“ geschrieben. Schelvis war im Mai 1943 mit weiteren 3.000 Menschen aus den Niederlanden über das Durchgangslager Westerbork mit der Deutschen Reichsbahn nach Sobibór deportiert worden. Bis auf 81 Männer wurden alle Menschen dieses Transports am Tag ihrer Ankunft in Sobibór ermordet. Jules Schelvis hat als Einziger von ihnen überlebt und berichtet in seinem Buch u.a. auch über den in Sobibór geglückten Aufstand der Häftlinge vom 14. Oktober 1943. Bei der Revolte wurden zwölf SS-Männer getötet, etwa 300 Häftlinge konnten fliehen. Das Lager selbst wurde gleich nach dem Aufstand liquidiert. Für Schelvis brach eine Zeit von zwei Jahren in der Hölle weiterer Konzentrationslager an, bevor er im April 1945, am Ende seiner Kräfte und vielfach dem Tod nur knapp entronnen, im Konzentrationslager Vaihingen/Enz befreit wurde.

Das Buch, in dem Jules Schelvis seine eigenen Erlebnisse, ergänzt durch Zeugenaussagen aus den Sobibór-Prozessen der Nachkriegszeit, umfangreiches Archivmaterial und Interviews mit Überlebenden verarbeitet hat, ist 1993 erstmals in den Niederlanden erschienen und gilt seitdem als Standardwerk. Nachdem es in Deutschland jahrelang vergriffen war, erschien anlässlich des 60. Jahrestages des Aufstandes von Sobibór in einer Neuauflage in der Reihe rat/antifaschistische texte hamburg im Unrast Verlag e.V. Münster. (PK)

 
Zu den erwähnten Büchern:

Jules Schelvis: Vernichtungslager Sobibór, ISBN-10: 3-89771-814-6, ISBN-13: 978-3897718142, Ausstattung: br., 360 Seiten, 20.00 Euro, Unrast Verlag Münster, www.unrast-verlag.de

Ulrich  Sander: Mörderisches Finale - NS-Verbrechen bei Kriegsende 
192 Seiten, 14,90 Euro, herausgegeben vom Internationalen Rombergparkkomitee, 2008 bei PapyRossa Verlag, Köln,
www.papyrossa.de

Online-Flyer Nr. 191  vom 01.04.2009



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