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Inland
Strategiebeschluss der CDU für das Superwahl- und Supergedenkjahr
DDR – Thema Nummer Eins
Von Hans Fricke

Im September 2008 berichteten verschiedene Medien, dass Union und SPD mit einer Kampagne zur DDR-Geschichte in die diesjährigen Wahlkämpfe ziehen wollen, und wenige Monate später beschloss der CDU-Parteivorstand ein sage und schreibe 21-Seiten-Papier, um die dritte "Rote-Socken"-Kampagne nach den Bundestagswahlkämpfen 1994 und 1999 zu starten. Diesmal soll mit Hilfe der einschlägigen Medien vor jedem der Urnengänge das Lied vom "DDR-Unrechtsstaat" gesungen werden. Vor allem ARD, ZDF, ARTE Bild bis Spiegel haben hier besondere Verpflichtungen als "Sturmgeschütze der Demokratie", wie Rudolf Augstein sein Magazin einst nannte. Am Sonntag ließ Anne Will schon mal Wolfgang Schäuble und Hubertus Knabe losballern. 

Tagesspiegel-Grafik zum Artikel „Was ist ein Unrechtsstaat?“ vom 25.3.2009
Grafik: Bartel/Tsp
 
Getreu dem Motto "Der Zweck heiligt die Mittel" ist es für die Wahlkämpfer der großen Koalition und ihre medialen Hilfstruppen ohne Interesse, was die CDU-geführte Bundesregierung auf eine Anfrage von Dr. Gesine Lötzsch (Die LINKE) vom 7. Oktober 2008 geantwortet hat: „Den Begriff ,Unrechtsstaat' gibt es im Völkerrecht nicht." Im Gutachten heißt es dazu: „Eine wissenschaftlich haltbare Definition des Begriffs ,Unrechtsstaat' gibt es weder in der Rechtswissenschaft noch in den Sozial- und Geisteswissenschaften." Und weiter: „... es (geht) zumeist darum, die politische Ordnung eines Staates, der als Unrechtsstaat gebrandmarkt wird, von einem rechtsstaatlich strukturiertem System abzugrenzen und moralisch zu diskreditieren". Eindeutige Worte.
 
Worauf, wenn nicht auf die DDR-Geschichte, sollten sich Union und SPD wohl sonst konzentrieren, um von ihren eigenen Versäumnissen und Misserfolgen abzulenken, zumal sie wissen, dass mit der Geschichte der Alt-BRD weiß Gott kein Staat zu machen ist. Dennoch fordert der Beschluss des 22. CDU-Parteitages vomDezember 2008 „Geteilt. Vereint. Gemeinsam. Perspektiven für den Osten Deutschlands", der Opfer der „Diktatur der SED" zu gedenken sowie die Geschichte der deutschen Teilung und der DDR zum „zentralen Inhalt des Schulunterrichts in ganz Deutschland" zu machen. Dem liegt offenbar die irrige Annahme zugrunde, dass sich heute kaum noch jemand an die Geschichte der deutschen Spaltung erinnert.
 
Die Schritte auf dem Weg zur Spaltung
 
Wenn es der CDU um wahrheitsgemäßen Schulunterricht und eine historisch seriöse Beschäftigung mit der deutschen Nachkriegsgeschichte gehen würde, dann müsste sie ihre Mitverantwortung für die folgenschweren Schritte auf dem Weg zur Spaltung Deutschlands eingestehen, die da waren:
> Separate Währungsreform im Juni 1948,
> Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung der elf Länder der „Trizone" auf Weisung der westlichen Militärgouverneure,
> das von dem auf Betreiben der Westmächte ab September 1948 tagenden Parlamentarischen Rat „im Namen des deutschen Volkes" beschlossene Grundgesetz, das ebenso wie nach 1990 bei der Entscheidung über eine „von dem deutschen Volk in freier Entscheidung" zu beschließende Verfassung niemand befragte,
> die Verhinderung einer Volksabstimmung über dieses Grundgesetz aus Angst vor der in der Bevölkerung weit verbreiteten Ablehnung des Weststaates,
> die Verkündigung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949
> und schließlich die Wahl zum ersten Deutschen Bundestag am 14. August 1949, womit - und daran muss es gestattet sein, 60 Jahre danach zu erinnern - auf Betreiben der Westmächte und mit aktiver Schützenhilfe von CDU und SPD die Spaltung Deutschlands vollzogen wurde.
 
Um wie viel einfacher ist es dagegen, die Spaltung Deutschlands und ihre schlimmen Folgen für die Bürger in Ost und West, wozu letztlich auch die Staatsgrenze zwischen der DDR und der BRD mit ihren tragischen Folgen gehören, dem "Unrechtsstaat" DDR und seinen Repräsentanten anzulasten.
 
Das dabei mitwirkende Personal
 
Auch die folgenden Ereignisse und Entwicklungen in der Geschichte der Alt-BRD dürften kaum geeignet sein, den Schulkindern nahe gebracht zu werden und bei ihnen Stolz auf 60 Jahre BRD zu wecken:

Die ab Sommer 1947 mit Beginn des kalten Krieges erfolgte bedenkenlose Restauration des Verwaltungs-, Justiz-, Polizei-, und sonstigen Behördenapparates unter nahezu restloser Einbeziehung des „bewährten Fachpersonals" der verbrecherischen Nazidiktatur, auch vieler aufs Schwerste Belasteter, die es zum Beispiel
> dem "Judenreferenten" im Reichsinnenministerium, Hans-Maria Globke, ermöglichte, höchster Beamter der BRD und engster Vertrauter von Bundeskanzler Konrad Adenauer,
> dem Verbindungsmann zwischen Ribbentrop- und Goebbelsministerium Kurt-Georg Kiesinger sogar Bundeskanzler


Altnazi Kiesinger – von Beate Klarsfeld geohrfeigt / NRhZ-Archiv
 
> und dem unerbittlichen Marinestabsrichter Hans Filbinger CDU-Ministerpräsident in Stuttgart zu werden, wobei Filbingers Aufstieg zum Kandidaten für die Wahl des Bundespräsidenten von 1979 nur durch die Enthüllungen der DDR gestoppt werden konnte.
> Auch der frühere Oberregierungsrat in Hitlers Reichsinnenministerium, Hans Ritter von Lex, um einen weiteren Repräsentanten der jungen Bundesrepublik Deutschland zu nennen, wurde reaktiviert und vertrat 1955 als bewährter Fachmann des in Nürnberg gehenkten Nazi-Innenministers die Bundesregierung im KPD-Verbotsprozess.
 
60.000 Menschen landeten in Gefängnissen
 
Zu dieser unrühmlichen Geschichte der BRD gehören auch siebzehn höchst abenteuerliche Jahre, in denen sich die von ehemaligen Nazis dominierte Justiz, darunter viele bis heute straflos gebliebene Blutrichter, in "Vorneverteidigung" gegen „Staatsfeinde" - vor allem Kommunisten, aber auch des Leninismus unverdächtige pazifistische Christen oder zur nationalen Einheit willige Gewerkschafter - übte.

Mit 1951 verabschiedeten Paragraphen und siebzehn damals gebildeten und übers Land verteilten speziellen „Staatsschutzkammern" wurde gegen rund 150.000 Bundesbürger wegen „Staatsgefährdung", „Geheimbündelei", „Rädelsführerschaft" und weiteren schwammigen Delikten ermittelt, wo statt der Tat die Gesinnungzählte. Rund 60.000 Menschen landeten in Gefängnissen - „Zahlen, die einem ausgewachsenen Polizeistaat alle Ehre machen", wie Staatsrechtsprofessor Werner Maihofer, später Bundesinnenminister, schon 1965 konstatierte.
 
Aber nicht nur die Zahlen taten dies, auch die Methoden und die Urteile. Die fielen manchmal allein dank „Zeugen vom Hörensagen": Beamte der politischen Polizeikommissariate gaben nämlich Aussagen ihrer V-Leute wieder, die weder benannt noch auf ihre Glaubwürdigkeit hinterfragt werden konnten.
 
Generäle und höhere Offiziere der Hitler-Wehrmacht…
 
Ebenso wenig würde es im Interesse von Union und SPD liegen, im Jubiläumsjahr der BRD an die Ablehnung einer Volksabstimmung über die von Adenauer vehement geforderte und forcierte deutsche Wiederbewaffnung zu erinnern, weil einer Emnid-Umfrage zufolge 75 (!) Prozent der Bundesbürger eine Wiederbewaffnung ablehnten. Und Stolz würde es bei den Schulkindern und ihren Eltern sicher ebenfalls nicht hervorrufen, wenn sie 60 Jahre nach Gründung der BRD mit der skandalösen Tatsache konfrontiert würden, dass alle hohen Posten in der neuen Bundeswehr mit Generälen und höheren Offizieren der Hitler-Wehrmacht besetzt,
> die Hitler-Generäle Speidel und Heusinger die ersten Befehlshaber der Bundeswehr, > der von den Alliierten zu 18 Jahren Gefängnis verurteilte Kriegsverbrecher Generalfeldmarschall von Mannstein Berater im Bonner Verteidigungsministerium,
> der ebenfalls wegen Kriegsverbrechen mit 25 Jahren Gefängnis bestrafte Hitler-General Foertsch Generalinspekteur der Bundeswehr,
> Dr. Eberhard Tauber, engster Mitarbeiter von Goebbels, Leiter der „Aktivpropaganda gegen die Juden" und ehrenamtlicher Richter am berüchtigten Volksgerichtshof, Aufbauleiter des Amtes für psychologische Kriegsführung der Bundeswehr wurden
> und dass zu den Gründern der „Organisation Gehlen", dem späteren Bundesnachrichtendienst (BND), nach amerikanischen Einschätzungen etwa 400 stark belastete Nazis, vor allem aus der SS, dem Sicherheitsdienst (SD) und der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), gehörten. Alles nachprüfbare historische Sachverhalte, die im Superjubiläumsjahr von Union und SPD nicht unter den Teppich gekehrt werden dürfen, an die erinnert werden muss, die man aber in Geschichtsbüchern und Jubiläumsschriften der Bundesrepublik vergeblich sucht.
 
…und "Staatsbürger in Uniform"
 
Nicht anders verhält es sich mit dem Traditionsverständnis und dem Interventionsauftrag der Bundeswehr. Kurz vor dem 50. Jahrestag der Gründung der NVA der DDR scheute sich das Bundesverteidigungsministerium nicht, in einem offiziellen Schreiben an die Standortältesten in den Wehrbereichen vom 13. Dezember 2005 zu erklären: „Die NVA war die Armee des Unrechtsregimes der DDR. Ihr Auftrag und ihre innere Ordnung sind unvereinbar mit dem Selbstverständnis der Bundeswehr als Streitkräfte in der Demokratie und ihrer Soldaten als Staatsbürger in Uniform" - obwohl unstrittig ist, dass sich diese Bundeswehr gemäß besagtem „Auftrag" als Mitglied der NATO zu einer Aggressionsarmee entwickelt hat, mittlerweile nahezu weltweit „deutsche Interessen" (sprich: Ressourcen der deutschen Industrie) verteidigt, maßgeblich am Überfall auf Jugoslawien teilgenommen hat und sich am Hindukusch aktiv am „unverhüllten Kolonialkrieg gegen das Selbstbestimmungsrecht der Paschtunen" beteiligt (Zitat aus einer Erklärung des Oberstleutnants der Bundeswehr Jürgen Rose vom 25. Mai 2007).
 
Keinen einzigen Krieg geführt
 
Dass der NVA vom Bundesverteidigungsministerium böswillig unterstellte Auftrag in Wahrheit darin bestand, die Grenzen der DDR zuverlässig zu schützen und gegen jeden Aggressor zu verteidigen, und dass sie die einzige deutsche Armee in der Geschichte war, die keinen Krieg , schon gar nicht einen Angriffskrieg, geführt hat, worauf ihre ehemaligen Angehörigen heute noch stolz sein dürfen, wird unterschlagen, weil diese unbestreitbare Tatsache das jahrzehntelang sorgsam gepflegte Bild von der NVA als einer Aggressionsarmee ad absurdum führen würde. Diese historische Wahrheit den Schulkindern im Super-Gedenkjahr zu vermitteln, dürfte weder dem von ihnen erwarteten Stolz auf die Bundeswehr förderlich sein, noch im Interesse der Wahlstrategen von Union und SPD liegen.
 
"Blühende Landschaften"
 
Aber auch die Geschichte der BRD in den vergangenen fast zwei Jahrzehnten nach Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands dürfte den Wahlkämpfern aus Union und SPD kaum geeignet erscheinen, in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes gestellt zu werden. Schließlich müssten sie dann ihre politische Verantwortung für den für die westdeutschen "Eliten" ebenso erfolg- wie ertragreich verlaufenen Anschluss der DDR an die BRD eingestehen, wozu neben
> Kohls Täuschung ostdeutscher Wähler mit den in Aussicht gestellten „blühenden Landschaften",
> die stabsmäßig organisierte Plünderung des ostdeutschen Volksvermögens mit Hilfe der "Treuhand" - kontrolliert von Kohls Finanzstaatsekretär, dem heutigen Bundespräsidenten Horst Köhler - in Höhe von 1,4 Billionen (!) DM, 
 

War mal Kohls Finanzstaatssekretär 
- Horst Köhler
NRhZ-Archiv
> die Zerstörung von 70 Prozent der Arbeitsplätze in Industrie und Landwirtschaft der DDR,
> eine Entvölkerung der verheißenen „blühenden Landschaften" durch massenhafte Arbeitsimmigration, von neuen in alte Bundesländer, besonders von Hochqualifizierten, was zu einer weiteren Vertiefung des Ost-West-Disparitäten fuhrt, > eine forcierte Deindustrialisierung Ostdeutschlands und eine gigantische Enteignung der früheren DDR-Bürger durch den für sie verhängnisvollen Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" gehören.
 
Diese Vorgänge veranlassten Egon Bahr (SPD) zu erklären, er kenne kein Volk auf Erden, das so enteignet worden ist, und ließen Günter Grass im Mai 1992 feststellen: „Es ist zu einer entsetzlichen Kolonialisierung gekommen. Mit großer Arroganz. Die Besitzenden werden die Westdeutschen sein. Und die führen in der ehemaligen DDR einen Morgenthau-Plan durch, der Gebiete verarmen lässt, die von der Geschichte her Industriegebiete waren(...)". Den früheren Ersten Bürgermeister Hamburgs, Henning Voscherau (SPD), brachten sie 1996 zu der Feststellung: „In Wahrheit waren fünf Jahre Aufbau Ost das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutschland, das es je gegeben hat." (Kölner Stadt-Anzeiger, 22.5. bzw. Die Welt, 4.12.1996)
 
Schäuble: „Nicht die Vereinigung zweier Staaten“
 
Den Auftakt zu dieser „Wiedervereinigung" nach Bonner Regie gab stellvertretend für die BRD-Regierung Wolfgang Schäuble mit den Worten: „Liebe Leute, es handelt sich um einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik - nicht um die umgekehrte Veranstaltung. Wir haben ein gutes Grundgesetz, das sich bewährt hat. Wir tun alles für Euch. Ihr seid herzlich willkommen. Wir wollen nicht kaltschnäuzig über eure Interessen hinweggehen. Aber hier findet nicht die Vereinigung zweier Staaten statt." In Siegermanier geäußerte Sätze, die im Osten nicht vergessen sind und wenig geeignet sein dürften, im Superwahljahr bei den ostdeutschen Wählerinnen und Wählern Zustimmung zum Verlauf und Ergebnis der vergangenen fast zwei Jahrzehnte hervorzurufen, zumal sie erleben mussten, wie kaltschnäuzig in der Praxis über ihre Interessen hinweggegangen wurde und wird.
 
Der Überfall auf Jugoslawien
 
Dass im kunterbunten Gedenkmarathon des Superjubiläumsjahres 2009 wenig Raum für ein Kriegsjubiläum blieb - den zehnten Jahrestag der ersten Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an einem Krieg -, dürfte kein Zeichen von Vergesslichkeit, sondern vielmehr Ausdruck von nachträglichem Unbehagen sein. Zu offensichtlich war die erpresserische Sanktionspolitik der NATO gegenüber Jugoslawien, zu augenscheinlich die Rechts- und Völkerrechtswidrigkeit des Überfalls auf einen souveränen Staat und UN-Mitglied am 24. März 1999, und zu durchsichtig die lügenhaften "Begründungen" für die deutsche Teilnahme an diesem Überfall durch die damaligen Minister Scharping und Fischer, den der Bundestag in einer Sonderdebatte als den „Sturz der letzten kommunistischen Bastion in Europa" feierte.
 
Der Siegesjubel nach den 78tägigen Terrorangriffen, denen viele Hundert Zivilisten zum Opfer fielen, war längst verklungen, als sich in einigen Medien Zweifel breit machten. Im NDR meinte ein Kommentator mit Blick auf den Bombenkrieg, es werde eine ganze Reihe von Fragen wohl immer umstritten bleiben. Etwa die, ob die Luftangriffe ohne UN-Mandat überhaupt zulässig waren. Im Deutschlandfunk wurde gar mehrfach daran erinnert, dass der NATO-Angriff auf Serbien ohne UN-Mandat erfolgte, und eingeschätzt, dass „auch zehn Jahre nach dem Kosovo-Krieg die Argumente und Gründe für das Eingreifen der NATO...umstritten (bleiben)".
 
Gründe für die Verleumdungskampagne
 
Würden also Union und SPD - anstatt mit einer generalstabsmäßig geplanten und organisierten aufwendigen Verleumdungskampagne gegen die seit 1990 nicht mehr existierenden DDR in die diesjährigen Wahlkämpfe zu ziehen - die Geschichte und Gegenwart der BRD in den Mittelpunkt stellen, dann müssten sie sich vor den Wählerinnen und Wählern rechtfertigen und verantworten
> für die ständig wachsende Zahl von Hartz-IV-Opfern, von den Betroffenen als „Armut per Gesetz" empfunden,
> für die vom Staat geduldeten bzw. geförderten Hungerlöhne,
> für die vieltausendfache Umwandlung von tariflich gebundenen Arbeitsplätzen in Leiharbeitsplätze und Ein-Euro-Jobs,
> für Massenarbeitslosigkeit, erzwungene Abschiebung älterer Arbeitnehmer auf das Abstellgleis, für Kinder- und Altersarmut, Obdachlosigkeit, Armenspeisungen, Pflegenotstand,
> für eine Gesundheitspolitik, die den Superprofiten des Pharma-Kartells dient und auf die der Slogan zutrifft: „Weil du arm bist, musst du früher sterben",
> für die Verweigerung gewerkschaftlicher Rechte für viele Beschäftigte und ihre Einschüchterung durch namentliche bekannte Unternehmen,
> für die nach wie vor nicht leistungsgerechte Entlohnung der Frauen,
> für die kategorische Ablehnung von Forderungen nach verfassungsrechtlich garantierten sozialen Grundrechten wie das Recht auf Arbeit, auf soziale Sicherheit und auf Wohnung,
> für die Verweigerung von Volksbefragungen, Volksentscheiden und des Rechtes auf Generalstreik,
> für eine bisher in Deutschland noch nie da gewesene und sich immer mehr vergrößernde Kluft zwischen Arm und Reich, Bildungschancen in Abhängigkeit vom Geldbeutel der Eltern,
> für das Recht junger Deutscher, sich weltweit für die Profitinteressen des Kapitals töten oder zum Krüppel schießen zu lassen,
> für eine Bundestagsmehrheit, die in Grundfragen (Abschaffung der D-Mark, aktive Teilnahme Deutschlands an völkerrechtswidrigen Kriegen, Rente ab 67, Verweigerung einer Volksabstimmung zur EU-Verfassung, die die Preisgabe staatlicher Souveränität beinhaltet) gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit entscheidet
> und dafür, dass Politiker beider Parteien die sogenannten Rahmenbedingungen gesetzt haben, mit denen erst die Schranken niedergerissen wurden, die Extraprofite und Expansion ohne Maß und Halte sowie Betrugshandlungen und persönliche Bereicherungen en gros ermöglichen, was zur gegenwärtigen Krise führte, deren Folgen in „bewährter " kapitalistischer Manier in erster Linie die Lohnabhängigen, sozial Schwachen und Kranken tragen sollen, wogegen die Schuldigen straffrei ausgehen und sowohl während als auch nach der Krise in ihrer unersättlichen Gier fortfahren werden.
 
Aus alledem ergibt sich, dass es für die Parteien der großen Koalition bedeutend einfacher ist, mit dem Kampfbegriff "Unrechtsstaat" DDR sowie mit Schlagworten wie „Diktatur des Proletariats", „Unfreiheit und sozialistische Planwirtschaft", „katastrophale Erblasten" usw. um sich zu werfen, Unkenntnis historischer Entwicklungen zu fordern, feindselige Stimmung gegen die DDR zu schüren und den Graben zwischen Ost und West zu vertiefen, als sich mit für beide Parteien unangenehmen und deshalb gern verdrängten historischen Wahrheiten, gegenwärtigen Fehlentwicklungen und Erfordernissen auseinander zu setzen und sich zu ihrer Verantwortung für die katastrophalen Folgen neoliberaler Regierungspolitik und der deutschen Teilnahme an völkerrechtswidrigen Kriegen zu bekennen.
 
Erschreckende Realitätsferne
 
Im übrigen offenbaren die Wahlkampfstrategen von Union und SPD eine erschreckende Realitätsferne, denn sie sollten wissen, dass die Menschen sich mehr für ihr Hier und Heute, für ihren immer härter werdenden Existenzkampf interessieren, als für scharfmacherische Parolen und Forderungen von um ihre Wahlchancen bangenden Parteien. Hätten sich die führenden Politiker der großen Koalition nicht schon längst von den Sorgen und Nöte der Menschen entfernt und würden sie "dem Volk aufs Maul schauen", dann wussten sie, dass die Zeit, als es schon fast zum guten Ton gehörte, auf die nicht mehr existierende DDR einzuschlagen und die Lebensleistungen ihrer Bürgerinnen und Bürger zu negieren, vorbei ist.
 
Die öffentliche Diskussion über die im März vom Ministerpräsidenten Mecklenburg-Vorpommerns, Erwin Seilering (SPD), zur DDR geäußerte Meinung, die noch immer anhält, zeigt, dass er damit sehr vielen Ostdeutschen aus dem Herzen gesprochen hat. Sie gehen mit ihm konform, wenn er sagt: „Es ist ja nicht so, dass ein idealer Staat auf einen verdammenswerten Unrechtsstaat stieß. Die alte Bundesrepublik hatte auch Schwächen, die DDR auch Stärken."
 
Jüngste Umfragergebnisse beweisen, dass die Zahl derjenigen", die sich trotz Springer-Presse und anderer Konzern-Medien eine sachliche und differenzierte Sicht auf die DDR bewahrt haben, von Jahr zu Jahr wächst, was nicht gleichbedeutend damit ist, dass alle diese Menschen die DDR, wie sie war, wiederhaben wollen.

Sie sind es aber leid, von Leuten, die das Leben in der DDR zumeist nur aus der Boulevardpresse oder vom Hörensagen kennen, seit 1990 Tag für Tag gesagt zu bekommen, dass sie vier Jahrzehnte lang in einem "totalen Unrechtsstaat" gelebt hätten, anstatt anerkannt zu bekommen, dass sie in sozialer Sicherheit, ohne Zukunftsangst gelebt, sich gebildet und gearbeitet, ihre Kinder zu anständigen, fleißigen und allseitig gebildeten Persönlichkeiten erzogen und sich selbst in vielerlei Hinsicht gesellschaftlich organisiert und auch ehrlichen Herzens engagiert haben.
 
Höchste Zeit also zu begreifen, dass die vom 22. CDU-Parteitag beschlossenen Strategie für das Superwahl- und Supergedenkjahr 2009 verfehlt ist, dass man mit der Verteufelung der DDR nicht auf Dauer von jahrelangen eigenen Versäumnissen und katastrophalen Fehlentwicklungen des neoliberalen Wirtschaftssystems ablenken und diesseits der Elbe Wahlen gewinnen kann.

Hans Fricke ist Autor des im August 2008 im Berliner Verlag am Park erschienenen Buches „Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn und Krieg", 383 Seiten, Preis 19,90 Euro, ISBN 978-3-89793-155-8.

 

Online-Flyer Nr. 195  vom 29.04.2009



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