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Am 18. März 1996 begann der Kampf der "Illegalen"
"Sans papiers"
Von Albrecht Kieser
Vor zehn Jahren - am 18. März 1996 - begannen sich in Frankreich Migranten gegen die EU-weit immer schärfer werdenden "Ausländergesetze" zu wehren. Daran erinnert der folgende Beitrag, mit dem wir eine an wichtige Daten erinnernde Serie beginnen. Die Redaktion.
Es gibt sie in jeder größeren Stadt in Deutschland. Zu Zehn- zu Hunderttausenden. Aber sie leben verborgen, unauffällig, in Angst vor Entdeckung. Es sind die modernen Vogelfreien, die Gesetzlosen. Aber nicht etwa deshalb, weil sie Desperados wären oder voll krimineller Energie steckten - ihnen fehlt zum geregelten Leben eines Durchschnittsbürgers nur eins: der gültige Pass. Es gibt sie in Deutschland, aber auch in allen anderen europäischen Ländern. "Clandestinos", Heimliche, heißen sie in Spanien, in Italien heißen sie "Illegali", in Deutschland Illegalisierte, in Frankreich nennen sie sich "Sans Papiers", die, die "ohne Papiere" sind.
Vor zehn Jahren haben sie in Frankreich ihr Leben im Verborgenen verlassen und sind an die Öffentlichkeit getreten. Am 18. März 1996 haben dreihundert "Sans Papiers" die Pariser Kirche St. Ambroise besetzt und gefordert, dass die französische Gesellschaft und der französische Staat ihre Existenz nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern ihnen als Menschen auch alle Rechte zubilligen, die den Menschen in einer Demokratie zukommen.
Frankreich hat, wie die meisten europäischen Länder, Anfang der 70er Jahre den legalen Zuzug von Arbeitsmigranten gestoppt. Außerdem wurden die Möglichkeiten von Migranten, ihren Aufenthalt im Wege der Familienzusammenführung oder durch Heirat zu legalisieren, ständig beschnitten. Zehntausende, die mit staatlicher Erlaubnis im Land lebten, wurden infolge immer schärferer Ausländergesetze um diese Erlaubnis gebracht und so zur Ausreise gezwungen oder in die Illegalität abgedrängt.
Von den dreihundert "Sans Papiers", die die Kirche St. Ambroise besetzten, hatten die meisten schon viele Jahre, mitunter länger als ein Jahrzehnt, in Frankreich gelebt, gearbeitet, Steuern gezahlt, Familien gegründet und Kinder bekommen. Jeder und jede hatte schlimme Erfahrungen gemacht, welche Folgen die fehlenden Aufenthaltspapiere im Alltag hatten. Es war nicht nur die dauernde Angst vor einer Polizeikontrolle, die zur Ausweisung führen konnte und damit den Verlust der Freunde, der Arbeit, der Wohnung, ja, der neuen Heimat bedeutete. Es war die Unmöglichkeit, sich gegen ausbeuterische Arbeitgeber zu wehren, gegen Mietwucher oder gegen Übergriffe auf der Straße - denn immer stand die drohende Ausweisung im Hintergrund. Die meisten "Sans Papiers" von St. Ambroise stammten aus Mali, einer ehemaligen französischen Kolonie. Sie hatten nicht nur in Frankreich eine neue Existenz aufgebaut, sie unterstützten auch mit regelmäßigen Zahlungen ihre Angehörigen. 75 Millionen Dollar schicken Migranten aus Mali pro Jahr dorthin zurück - eine für das Land lebensnotwendige Hilfe.
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Mit der Besetzung der Kirche St. Ambroise konfrontierten zum ersten Mal Menschen die französische Gesellschaft mit ihrer Existenz, die bislang im Dunkel geblieben war. In wöchentlichen Demonstrationen, Besetzungen symbolischer Orte wie Rathäuser oder Parteibüros, auf Veranstaltungen und in den Medien zeigten sie eine Präsenz, die Frankreich zur Stellungnahme zwang. Die Sprecherin der Gruppe, Madjiguène Cissé, sagte einmal: "Indem wir unsere Gettos verließen, haben wir die Grenze gesprengt, die uns im Innern Frankreichs aus dem realen Frankreich ausgegliedert hatte."
Und das reale Frankreich reagierte: Auf sehr gegensätzliche Weise. Die Rechtsregierung, die Polizei und Teile der Öffentlichkeit versuchten mit Verhaftungen, mit Abschiebungen und mit Denunziation das Problem wieder in die Dunkelheit zurückzudrängen. Nur 22 "Sans Papiers" wurde die Legalisierung versprochen, dem Rest verweigert. Doch weitere "Sans Papiers" traten an die Öffentlichkeit, große Teile der Gewerkschaften, der Intellektuellen, Schüler, Studenten schlossen sich den Unterstützern aus den Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen an. In wenigen Wochen wuchs die Zustimmung zu den Forderungen der "Sans Papiers" auf Legalisierung, auf Zuerkennung aller Menschenrechte. Drei Monate nach Beginn des Kampfes hatten sich mehr als ein Dutzend "Kollektive" weiterer "Sans Papiers" in Paris und im ganzen Land gebildet und ebenfalls mit Kirchenbesetzungen, mit Demonstrationen und Veranstaltungen ein Ende der Diskriminierung gefordert.
Ende Juni 1996 besetzen die "Sans Papiers" von St. Ambroise, die in dieser Kirche nur wenige Tage geduldet worden waren und danach in einem Theater und dann in Räumen verschiedener Gewerkschaften hatten unterkommen können, erneut eine Kirche. Die Kirche von St. Bernard. Der Pfarrer dieser Kirche nimmt sie mit großer Herzlichkeit auf, er duldet auch den wochenlangen Hungerstreik, der für große Aufmerksamkeit sorgt. Die Unterstützung kommt aus ganz Frankreich, zu den Besuchern in St. Bernard zählt eine Delegation der Freimaurerloge ebenso wie der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, die Schauspielerin Emanuelle Béart, der ehemalige Kultusminister Jack Lang, der Alt-68er Alain Krivine ist da, der Philosoph Jacques Derrida, der Arbeiterpriester Abbé Pierre.
Ende August 1996 beendet die Polizei mit einer gewaltsamen Räumung die Besetzung. Die Bilder gehen um die Welt: Äxte schwingende Polizisten, die die Kirchentür zerschlagen, erschüttern auch Frankreich. Aus dem von der Regierung erhofften Ende der Bewegung wird das Gegenteil. Jetzt ziehen nicht mehr einige hundert "Sans Papiers" und ihre Unterstützer durch Paris, es werden Tausende und Zehntausende. Im Februar 1997 demonstrieren 100.000 Franzosen und Migranten für eine andere Ausländerpolitik in der Hauptstadt.
Es gibt die "Sans Papiers" und ihren Kampf noch heute, einige Zehntausend haben zwar ihre Legalisierung erreichen können, mehr aber noch leben nach wie vor in unsicheren, unwürdigen Verhältnissen.
Albrecht Kieser arbeitet im Rheinischen JournalistInnenbüro Köln rjb-koeln@t-online.de
Sein Beitrag wurde in der Redaktion Zeitworte im SWR, Redaktion Christiane Rech, gesendet.
Online-Flyer Nr. 35 vom 14.03.2006
Am 18. März 1996 begann der Kampf der "Illegalen"
"Sans papiers"
Von Albrecht Kieser
Vor zehn Jahren - am 18. März 1996 - begannen sich in Frankreich Migranten gegen die EU-weit immer schärfer werdenden "Ausländergesetze" zu wehren. Daran erinnert der folgende Beitrag, mit dem wir eine an wichtige Daten erinnernde Serie beginnen. Die Redaktion.
Es gibt sie in jeder größeren Stadt in Deutschland. Zu Zehn- zu Hunderttausenden. Aber sie leben verborgen, unauffällig, in Angst vor Entdeckung. Es sind die modernen Vogelfreien, die Gesetzlosen. Aber nicht etwa deshalb, weil sie Desperados wären oder voll krimineller Energie steckten - ihnen fehlt zum geregelten Leben eines Durchschnittsbürgers nur eins: der gültige Pass. Es gibt sie in Deutschland, aber auch in allen anderen europäischen Ländern. "Clandestinos", Heimliche, heißen sie in Spanien, in Italien heißen sie "Illegali", in Deutschland Illegalisierte, in Frankreich nennen sie sich "Sans Papiers", die, die "ohne Papiere" sind.
Vor zehn Jahren haben sie in Frankreich ihr Leben im Verborgenen verlassen und sind an die Öffentlichkeit getreten. Am 18. März 1996 haben dreihundert "Sans Papiers" die Pariser Kirche St. Ambroise besetzt und gefordert, dass die französische Gesellschaft und der französische Staat ihre Existenz nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern ihnen als Menschen auch alle Rechte zubilligen, die den Menschen in einer Demokratie zukommen.
Frankreich hat, wie die meisten europäischen Länder, Anfang der 70er Jahre den legalen Zuzug von Arbeitsmigranten gestoppt. Außerdem wurden die Möglichkeiten von Migranten, ihren Aufenthalt im Wege der Familienzusammenführung oder durch Heirat zu legalisieren, ständig beschnitten. Zehntausende, die mit staatlicher Erlaubnis im Land lebten, wurden infolge immer schärferer Ausländergesetze um diese Erlaubnis gebracht und so zur Ausreise gezwungen oder in die Illegalität abgedrängt.
Von den dreihundert "Sans Papiers", die die Kirche St. Ambroise besetzten, hatten die meisten schon viele Jahre, mitunter länger als ein Jahrzehnt, in Frankreich gelebt, gearbeitet, Steuern gezahlt, Familien gegründet und Kinder bekommen. Jeder und jede hatte schlimme Erfahrungen gemacht, welche Folgen die fehlenden Aufenthaltspapiere im Alltag hatten. Es war nicht nur die dauernde Angst vor einer Polizeikontrolle, die zur Ausweisung führen konnte und damit den Verlust der Freunde, der Arbeit, der Wohnung, ja, der neuen Heimat bedeutete. Es war die Unmöglichkeit, sich gegen ausbeuterische Arbeitgeber zu wehren, gegen Mietwucher oder gegen Übergriffe auf der Straße - denn immer stand die drohende Ausweisung im Hintergrund. Die meisten "Sans Papiers" von St. Ambroise stammten aus Mali, einer ehemaligen französischen Kolonie. Sie hatten nicht nur in Frankreich eine neue Existenz aufgebaut, sie unterstützten auch mit regelmäßigen Zahlungen ihre Angehörigen. 75 Millionen Dollar schicken Migranten aus Mali pro Jahr dorthin zurück - eine für das Land lebensnotwendige Hilfe.
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Mit der Besetzung der Kirche St. Ambroise konfrontierten zum ersten Mal Menschen die französische Gesellschaft mit ihrer Existenz, die bislang im Dunkel geblieben war. In wöchentlichen Demonstrationen, Besetzungen symbolischer Orte wie Rathäuser oder Parteibüros, auf Veranstaltungen und in den Medien zeigten sie eine Präsenz, die Frankreich zur Stellungnahme zwang. Die Sprecherin der Gruppe, Madjiguène Cissé, sagte einmal: "Indem wir unsere Gettos verließen, haben wir die Grenze gesprengt, die uns im Innern Frankreichs aus dem realen Frankreich ausgegliedert hatte."
Und das reale Frankreich reagierte: Auf sehr gegensätzliche Weise. Die Rechtsregierung, die Polizei und Teile der Öffentlichkeit versuchten mit Verhaftungen, mit Abschiebungen und mit Denunziation das Problem wieder in die Dunkelheit zurückzudrängen. Nur 22 "Sans Papiers" wurde die Legalisierung versprochen, dem Rest verweigert. Doch weitere "Sans Papiers" traten an die Öffentlichkeit, große Teile der Gewerkschaften, der Intellektuellen, Schüler, Studenten schlossen sich den Unterstützern aus den Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen an. In wenigen Wochen wuchs die Zustimmung zu den Forderungen der "Sans Papiers" auf Legalisierung, auf Zuerkennung aller Menschenrechte. Drei Monate nach Beginn des Kampfes hatten sich mehr als ein Dutzend "Kollektive" weiterer "Sans Papiers" in Paris und im ganzen Land gebildet und ebenfalls mit Kirchenbesetzungen, mit Demonstrationen und Veranstaltungen ein Ende der Diskriminierung gefordert.
Ende Juni 1996 besetzen die "Sans Papiers" von St. Ambroise, die in dieser Kirche nur wenige Tage geduldet worden waren und danach in einem Theater und dann in Räumen verschiedener Gewerkschaften hatten unterkommen können, erneut eine Kirche. Die Kirche von St. Bernard. Der Pfarrer dieser Kirche nimmt sie mit großer Herzlichkeit auf, er duldet auch den wochenlangen Hungerstreik, der für große Aufmerksamkeit sorgt. Die Unterstützung kommt aus ganz Frankreich, zu den Besuchern in St. Bernard zählt eine Delegation der Freimaurerloge ebenso wie der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, die Schauspielerin Emanuelle Béart, der ehemalige Kultusminister Jack Lang, der Alt-68er Alain Krivine ist da, der Philosoph Jacques Derrida, der Arbeiterpriester Abbé Pierre.
Ende August 1996 beendet die Polizei mit einer gewaltsamen Räumung die Besetzung. Die Bilder gehen um die Welt: Äxte schwingende Polizisten, die die Kirchentür zerschlagen, erschüttern auch Frankreich. Aus dem von der Regierung erhofften Ende der Bewegung wird das Gegenteil. Jetzt ziehen nicht mehr einige hundert "Sans Papiers" und ihre Unterstützer durch Paris, es werden Tausende und Zehntausende. Im Februar 1997 demonstrieren 100.000 Franzosen und Migranten für eine andere Ausländerpolitik in der Hauptstadt.
Es gibt die "Sans Papiers" und ihren Kampf noch heute, einige Zehntausend haben zwar ihre Legalisierung erreichen können, mehr aber noch leben nach wie vor in unsicheren, unwürdigen Verhältnissen.
Albrecht Kieser arbeitet im Rheinischen JournalistInnenbüro Köln rjb-koeln@t-online.de
Sein Beitrag wurde in der Redaktion Zeitworte im SWR, Redaktion Christiane Rech, gesendet.
Online-Flyer Nr. 35 vom 14.03.2006