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Kommentar
Aspekte des multimedialen Verwirrspiels um Iran
Iran: Die Medienrevolution
Von Gerrit Wustmann
Der Veteran des deutschen Nahost-Krisenjournalismus Peter Scholl-Latour scheint sich endgültig unglaubwürdig zu machen, wenn er im ZDF von „einigen hundert“ Demonstranten spricht. Die Bilder, die vor der von den iranischen Behörden verhängten Ausgangssperre für ausländische Journalisten noch von den Redaktionen und Agenturen verbreitet wurden, sprechen eine andere Sprache: Zumindest bis vor einigen Tagen waren in den großen Städten, Teheran, Shiraz, Isfahan, Tabriz, Hunderttausende, einigen Schätzungen zufolge gar mehrere Millionen Menschen auf den Straßen. Eine solch massive Protestbewegung hat das Land seit der Islamischen Revolution 1979 nicht erlebt.
Proteste in Teheran | Quelle: faramarz
Eine andere Frage ist die des Wahlergebnisses. Iranische Quellen behaupten, Mahmoud Ahmadinejad sei sogar nur auf dem dritten Platz hinter seinen Konkurrenten Moussavi und Charroubi gelandet, und Moussavi hätte sich nur deshalb bereits am Wahltag zum Sieger erklärt, weil ihm eben jenes Ergebnis vom Innenministerium mitgeteilt worden sei, bevor der Wächterrat auf Betreiben Ajatollah Ali Chameneis die Zahlen manipuliert habe. Ob das stimmt oder nicht, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt faktisch nicht nachprüfen. Der Vorwurf der Wahlmanipulation ist zumindest glaubwürdig in Anbetracht der Unregelmäßigkeiten vergangener Wahlen und der konstitutiven Struktur der Islamischen Republik.
„Where is my vote?“
Dazu kommt die Frage nach den Beweggründen der Demonstranten und derer Interpretierung durch unterschiedliche Medien. Zu beobachten ist, dass die Mainstreammedien in erster Linie am Ereignis an sich interessiert zu sein scheinen: Einer möglicherweise manipulierten Wahl, massiven Demonstrationen, undurchsichtigen Verhältnissen, gewalttätigen Zusammenstößen und, nicht zuletzt, immer wieder der Behauptung, die Demonstranten wollten eine Öffnung Irans hin zu westlichen Verhältnissen – was auch Peter Scholl-Latour, sogar noch radikaler, untermauert, indem er aus der Tatsache, dass die Demonstrierenden englischsprachige Plakate zeigen („Where is my vote?“) schließt, dass es sich bei ihnen nicht um Repräsentanten der iranischen Mehrheit handeln könne. Auf die Idee, dass die Demonstranten möglicherweise gezielt ihre Botschaft an ein globales Publikum, das mehrheitlich nicht Farsi spricht, richten wollen, kommt er nicht.
Zahlreiche links ausgerichtete Medien, vorwiegend im Internet, scheinen derweil die Bewegung als eine homogene Masse sehen zu wollen, die das ideologisch geprägte Bild einer kommenden Revolution transportiert – wobei vergessen wird, dass auch die demonstrierenden Massen der Revolution von 1979 keineswegs homogen waren und sich aus Demokraten, Kommunisten, Islamisten, unterdrückten Minderheiten und vielgestaltigen Widerstandsgruppierungen zusammensetzten, die letztlich nur eines einte: das gemeinsame Feindbild der Militärdiktatur des Shahs. Und dass eine vom Volk vorangetriebene Revolution nicht immer zu besseren Verhältnissen führt, auch dafür ist die Theokratie, die 1979 entstand ein nicht zu unterschätzendes Beispiel.
Gefüllte Straßen am 18. Juni | Quelle: faramarz
Hinzu kommen Organe wie das Online-Magazin Muslim Markt des deutsch-türkischen Ingenieurs und Journalisten Yavuz Özuguz, die auf der einen Seite zwar Medienmanipulation anprangern und in ihrer Berichterstattung bemüht sind, Menschenrechtsverletzungen und, im konkreten Beispiel, die populistische Haltung zahlreicher Medien gegenüber dem Islam, zu dokumentieren. Auf der anderen Seite genügt, gerade in der jetzigen Situation, schon ein flüchtiger Blick, um zu sehen, dass auch solche Medien keineswegs „unabhängig“ sind: Özuguz beispielsweise blendet seit Jahren nicht nur jegliche Kritik an den Menschenrechtsverletzungen der iranischen Regierung, sowie die autoritäre Struktur des Staatsgebildes aus, sondern stellt sich sogar aktiv hinter repressive Politiker wie Chamenei und Ahmadinejad. Die Protestbewegung eines für jeden sichtbar immensen Teils der iranischen Bürger wird zur Propaganda westlicher Medien umgedeutet, schlicht weil sie nicht ins eigene Weltbild passt.
Medialer Selbstzweck
Und genau hier kommt sie ins Bild, die Protestbewegung, die seit dem 12. Juni die Straßen Irans füllt, und die teilweise schreckliche, teilweise aber auch Hoffnung spendende Bilder produziert – eben nicht über Medien, die allesamt mehr an der Bestätigung der eigenen Vorstellungen und Hintergründe interessiert sind und über das ganze politische Spektrum hinweg gefühlte Probleme mit Objektivität und Ausgewogenheit haben, sondern ganz unbearbeitet und roh über Onlinedienste und Social Networks wie Twitter, Facebook und Youtube.
Da gibt es zum einen Bilder von Polizisten, die vorsichtig und in spürbarer Sympathie die Demonstranten aller Alters- und Bevölkerungsschichten gewähren lassen, es gibt aber auch Bilder wie das der am gestrigen Samstag vor laufender Kamera erschossenen jungen Frau namens Neda, die bereits zur Ikone der Protestbewegung stilisiert wird. Das sind furchtbare und verstörende Bilder. Eine junge Frau wird auf offener Straße erschossen, laut Berichten ist einer der beiden Männer, die sie auffangen, ihr Vater. Ein Schuss ins Herz, Onlinequellen zufolge abgefeuert von einem Mitglied der Basidji-Milizen, die bereits Mitte der 90er Jahre brutal Studentenproteste niedergeschlagen haben.
Noch erschütternder aber als das Bild an sich ist die Reaktion der Medien darauf: Während der Muslim Markt die Szene gänzlich ignoriert, weil sie offenbar nicht genehm ist, ebenso wie alle weiteren Dokumentierungen der Proteste, schlachtet der Spiegel das Ereignis mit der schieren Lust am medienwirksamen Event aus, das Auflage und Klickzahlen in die Höhe treibt. In den Social Networks wird Neda zum Fanal der Brutalität des Regimes und zur weiteren Bestätigung der Aktionen für … ja, für wen eigentlich?
Massenprotest in Isfahan | Quelle: faramarz
Moussavi kann es nicht sein, für den sie protestieren. Man darf annehmen, dass den Iranern, die dieser Tage mutig auf die Straße gehen, bewusst ist, dass sich selbst mit einer von Moussavi gewonnenen, sehr unwahrscheinlichen Neuwahl nur wenig an der Gesamtsituation in Iran ändern würde. Zum einen, weil Moussavi absolut nicht der Hoffnungsschimmer ist, zu dem er medial gemacht wird. Der Mann war Ministerpräsident und Außenminister der Islamischen Republik und gehört zu den Architekten des existierenden repressiven Staatsgebildes. Eine wirkliche Öffnung hin zu Demokratie und mehr Menschenrechten ist von ihm nicht zu erwarten.
Der frühere Präsident Mohammed Chatami, der im letzten Moment seine Kandidatur zurückgezogen hatte, und der bisher einen Kommentar zu den Ereignissen schuldig bleibt, hat zumindest versucht, die Reformer voranzubringen, aber auch er ist letztlich an den autoritären Strukturen gescheitert. Es gibt Gerüchte, er und auch der ehemalige Ministerpräsident Hashemi Rafsandjani stünden maßgeblich hinter den Protesten. Rafsandjani wolle nichts weiter als seinem Konkurrenten Ahmadinejad Steine in den Weg legen und würde dafür die von langer Hand geplanten Aktionen instrumentalisieren. Diese Vermutung ist keineswegs abwegig. Bestätigen lässt sie sich aber zur Zeit ebenso wenig wie die Wahlmanipulation.
Grenzen der Interpretation
Eines aber ist sicherlich auch den Menschen bewusst, die dieser Tage so zahlreich, mutig und unermüdlich auf die Straßen gehen und sich bisher weder von Demonstrationsverboten noch von Gewaltandrohungen beirren lassen: Alle vier Kandidaten, die zur Wahl standen, wären Chamenei und dem Wächterrat genehm gewesen, ansonsten wären sie, wie über tausend andere Kandidaten auch, gar nicht erst zur Wahl zugelassen worden.
Moussavi ist also nicht der große Retter, an den sich alle Hoffnungen hängen. Moussavi ist eher eine schwache Gallionsfigur, und dass seine Unterstützung der Demonstranten ihn in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könnte, dass scheint auch ihm selbst bewusst zu sein – wie sonst ist es zu erklären, dass er seit Tagen jegliche Öffentlichkeit vermeidet? Und dass die Demonstranten, die scheinbar auf ihn gesetzt hatten, sich von seiner Abwesenheit offenbar nicht beirren lassen?
Verwundeter Demonstrant | Quelle: faramarz
Für Beobachter von Außerhalb ist es sehr schwer, alle Aspekte der Situation in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen, und das Ergebnis sind Vereinfachungen vor den unterschiedlichsten Hintergründen. Einem besonders elementaren Merkmal der Ereignisse wurde bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt: Die Demonstranten tragen grün. Grüne Armbänder, grüne Bandanas etc. Grün, die Farbe des Islam, damit transportieren sie eine sehr deutliche Botschaft, der sich im ganzen Land vereinzelt auch hochrangige Geistliche angeschlossen haben: Keiner hier ist gegen den Islam, sagen sie damit, im Gegenteil.
Aber eine Mehrheit scheint gegen das zu sein, was seit dreißig Jahren im islamischen Mäntelchen verpackt propagiert wird: Reine Machtpolitik und festgefahrene, autoritäre Verhältnisse. Worum es geht ist, die verschiedensten Interessen mit der Sehnsucht nach Freiheit zu vereinen. Wenn man dieser Tage mit Exiliranern spricht, trifft man auf hohe Anspannung. Viele sind erinnert an die verstörenden Bilder einer brutalen Staatsmacht, vor der sie größtenteils vor mehreren Jahrzehnten geflohen sind. Sie sind besorgt um die Menschen, die in Iran auf die Straße gehen, sie verbinden aber auch große Hoffnung mit ihnen, denn vor welchem Hintergrund auch immer: Zu sehen sind Menschen, die sich wehren; die genug haben von der obrigkeitsstaatlichen Gängelung.
Information und Wirkung
Während die iranische Regierung mit allen Mitteln versucht, die Kraft der Protestbewegung zu verheimlichen, versuchen die Medien anderer Länder aller möglichen politischen Ausrichtungen, ihre eigenen Sehnsüchte und Vorstellungen oder die Botschaften, die sie transportieren möchten, auf diese Protestbewegung zu projizieren. Eine Protestbewegung, die maßgeblich auch davon lebt, dass sie sich ihre Öffentlichkeit selbst erschaffen kann – mit den Mitteln die das Web 2.0 bereitstellt.
Der Versuch der iranischen Staatsmedien, die Ereignisse totzuschweigen, ist dadurch zum Scheitern verurteilt. Die Menschen nehmen das Heft selbst in die Hand, indem sie mit der Handykamera draufhalten, dokumentieren und auf vielschichtige Weise Geschichte schreiben. Die Medien als vierte Gewalt im Staat, sie erhalten in diesen Tagen neuen Auftrieb. Aber eben nicht durch die unzähligen etablierten und/oder neuen Redaktionen, sondern durch die direkte und unmittelbare Berichterstattung der Betroffenen.
Wo sämtliche Medien sich zu objektiver Berichterstattung unfähig oder unwillig zeigen, kann der Medienkonsument nur noch ausweichen, indem er direkt an die Quelle geht. Heute kann er das. Auch da erfährt er nicht alles. Auch da ist er nicht gänzlich vor Manipulation geschützt. Aber er kann sich informieren, ohne gezwungenermaßen durch die mannigfaltig gefärbte Brille eines Berichterstatters zu schauen, dem die eigene Meinung wichtiger ist als das reine und möglichst sachliche Informieren seines Rezipienten…
(GW)
Online-Flyer Nr. 202 vom 21.06.2009
Aspekte des multimedialen Verwirrspiels um Iran
Iran: Die Medienrevolution
Von Gerrit Wustmann
Der Veteran des deutschen Nahost-Krisenjournalismus Peter Scholl-Latour scheint sich endgültig unglaubwürdig zu machen, wenn er im ZDF von „einigen hundert“ Demonstranten spricht. Die Bilder, die vor der von den iranischen Behörden verhängten Ausgangssperre für ausländische Journalisten noch von den Redaktionen und Agenturen verbreitet wurden, sprechen eine andere Sprache: Zumindest bis vor einigen Tagen waren in den großen Städten, Teheran, Shiraz, Isfahan, Tabriz, Hunderttausende, einigen Schätzungen zufolge gar mehrere Millionen Menschen auf den Straßen. Eine solch massive Protestbewegung hat das Land seit der Islamischen Revolution 1979 nicht erlebt.
Proteste in Teheran | Quelle: faramarz
Eine andere Frage ist die des Wahlergebnisses. Iranische Quellen behaupten, Mahmoud Ahmadinejad sei sogar nur auf dem dritten Platz hinter seinen Konkurrenten Moussavi und Charroubi gelandet, und Moussavi hätte sich nur deshalb bereits am Wahltag zum Sieger erklärt, weil ihm eben jenes Ergebnis vom Innenministerium mitgeteilt worden sei, bevor der Wächterrat auf Betreiben Ajatollah Ali Chameneis die Zahlen manipuliert habe. Ob das stimmt oder nicht, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt faktisch nicht nachprüfen. Der Vorwurf der Wahlmanipulation ist zumindest glaubwürdig in Anbetracht der Unregelmäßigkeiten vergangener Wahlen und der konstitutiven Struktur der Islamischen Republik.
„Where is my vote?“
Dazu kommt die Frage nach den Beweggründen der Demonstranten und derer Interpretierung durch unterschiedliche Medien. Zu beobachten ist, dass die Mainstreammedien in erster Linie am Ereignis an sich interessiert zu sein scheinen: Einer möglicherweise manipulierten Wahl, massiven Demonstrationen, undurchsichtigen Verhältnissen, gewalttätigen Zusammenstößen und, nicht zuletzt, immer wieder der Behauptung, die Demonstranten wollten eine Öffnung Irans hin zu westlichen Verhältnissen – was auch Peter Scholl-Latour, sogar noch radikaler, untermauert, indem er aus der Tatsache, dass die Demonstrierenden englischsprachige Plakate zeigen („Where is my vote?“) schließt, dass es sich bei ihnen nicht um Repräsentanten der iranischen Mehrheit handeln könne. Auf die Idee, dass die Demonstranten möglicherweise gezielt ihre Botschaft an ein globales Publikum, das mehrheitlich nicht Farsi spricht, richten wollen, kommt er nicht.
Zahlreiche links ausgerichtete Medien, vorwiegend im Internet, scheinen derweil die Bewegung als eine homogene Masse sehen zu wollen, die das ideologisch geprägte Bild einer kommenden Revolution transportiert – wobei vergessen wird, dass auch die demonstrierenden Massen der Revolution von 1979 keineswegs homogen waren und sich aus Demokraten, Kommunisten, Islamisten, unterdrückten Minderheiten und vielgestaltigen Widerstandsgruppierungen zusammensetzten, die letztlich nur eines einte: das gemeinsame Feindbild der Militärdiktatur des Shahs. Und dass eine vom Volk vorangetriebene Revolution nicht immer zu besseren Verhältnissen führt, auch dafür ist die Theokratie, die 1979 entstand ein nicht zu unterschätzendes Beispiel.
Gefüllte Straßen am 18. Juni | Quelle: faramarz
Hinzu kommen Organe wie das Online-Magazin Muslim Markt des deutsch-türkischen Ingenieurs und Journalisten Yavuz Özuguz, die auf der einen Seite zwar Medienmanipulation anprangern und in ihrer Berichterstattung bemüht sind, Menschenrechtsverletzungen und, im konkreten Beispiel, die populistische Haltung zahlreicher Medien gegenüber dem Islam, zu dokumentieren. Auf der anderen Seite genügt, gerade in der jetzigen Situation, schon ein flüchtiger Blick, um zu sehen, dass auch solche Medien keineswegs „unabhängig“ sind: Özuguz beispielsweise blendet seit Jahren nicht nur jegliche Kritik an den Menschenrechtsverletzungen der iranischen Regierung, sowie die autoritäre Struktur des Staatsgebildes aus, sondern stellt sich sogar aktiv hinter repressive Politiker wie Chamenei und Ahmadinejad. Die Protestbewegung eines für jeden sichtbar immensen Teils der iranischen Bürger wird zur Propaganda westlicher Medien umgedeutet, schlicht weil sie nicht ins eigene Weltbild passt.
Medialer Selbstzweck
Und genau hier kommt sie ins Bild, die Protestbewegung, die seit dem 12. Juni die Straßen Irans füllt, und die teilweise schreckliche, teilweise aber auch Hoffnung spendende Bilder produziert – eben nicht über Medien, die allesamt mehr an der Bestätigung der eigenen Vorstellungen und Hintergründe interessiert sind und über das ganze politische Spektrum hinweg gefühlte Probleme mit Objektivität und Ausgewogenheit haben, sondern ganz unbearbeitet und roh über Onlinedienste und Social Networks wie Twitter, Facebook und Youtube.
Da gibt es zum einen Bilder von Polizisten, die vorsichtig und in spürbarer Sympathie die Demonstranten aller Alters- und Bevölkerungsschichten gewähren lassen, es gibt aber auch Bilder wie das der am gestrigen Samstag vor laufender Kamera erschossenen jungen Frau namens Neda, die bereits zur Ikone der Protestbewegung stilisiert wird. Das sind furchtbare und verstörende Bilder. Eine junge Frau wird auf offener Straße erschossen, laut Berichten ist einer der beiden Männer, die sie auffangen, ihr Vater. Ein Schuss ins Herz, Onlinequellen zufolge abgefeuert von einem Mitglied der Basidji-Milizen, die bereits Mitte der 90er Jahre brutal Studentenproteste niedergeschlagen haben.
Noch erschütternder aber als das Bild an sich ist die Reaktion der Medien darauf: Während der Muslim Markt die Szene gänzlich ignoriert, weil sie offenbar nicht genehm ist, ebenso wie alle weiteren Dokumentierungen der Proteste, schlachtet der Spiegel das Ereignis mit der schieren Lust am medienwirksamen Event aus, das Auflage und Klickzahlen in die Höhe treibt. In den Social Networks wird Neda zum Fanal der Brutalität des Regimes und zur weiteren Bestätigung der Aktionen für … ja, für wen eigentlich?
Massenprotest in Isfahan | Quelle: faramarz
Moussavi kann es nicht sein, für den sie protestieren. Man darf annehmen, dass den Iranern, die dieser Tage mutig auf die Straße gehen, bewusst ist, dass sich selbst mit einer von Moussavi gewonnenen, sehr unwahrscheinlichen Neuwahl nur wenig an der Gesamtsituation in Iran ändern würde. Zum einen, weil Moussavi absolut nicht der Hoffnungsschimmer ist, zu dem er medial gemacht wird. Der Mann war Ministerpräsident und Außenminister der Islamischen Republik und gehört zu den Architekten des existierenden repressiven Staatsgebildes. Eine wirkliche Öffnung hin zu Demokratie und mehr Menschenrechten ist von ihm nicht zu erwarten.
Der frühere Präsident Mohammed Chatami, der im letzten Moment seine Kandidatur zurückgezogen hatte, und der bisher einen Kommentar zu den Ereignissen schuldig bleibt, hat zumindest versucht, die Reformer voranzubringen, aber auch er ist letztlich an den autoritären Strukturen gescheitert. Es gibt Gerüchte, er und auch der ehemalige Ministerpräsident Hashemi Rafsandjani stünden maßgeblich hinter den Protesten. Rafsandjani wolle nichts weiter als seinem Konkurrenten Ahmadinejad Steine in den Weg legen und würde dafür die von langer Hand geplanten Aktionen instrumentalisieren. Diese Vermutung ist keineswegs abwegig. Bestätigen lässt sie sich aber zur Zeit ebenso wenig wie die Wahlmanipulation.
Grenzen der Interpretation
Eines aber ist sicherlich auch den Menschen bewusst, die dieser Tage so zahlreich, mutig und unermüdlich auf die Straßen gehen und sich bisher weder von Demonstrationsverboten noch von Gewaltandrohungen beirren lassen: Alle vier Kandidaten, die zur Wahl standen, wären Chamenei und dem Wächterrat genehm gewesen, ansonsten wären sie, wie über tausend andere Kandidaten auch, gar nicht erst zur Wahl zugelassen worden.
Moussavi ist also nicht der große Retter, an den sich alle Hoffnungen hängen. Moussavi ist eher eine schwache Gallionsfigur, und dass seine Unterstützung der Demonstranten ihn in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könnte, dass scheint auch ihm selbst bewusst zu sein – wie sonst ist es zu erklären, dass er seit Tagen jegliche Öffentlichkeit vermeidet? Und dass die Demonstranten, die scheinbar auf ihn gesetzt hatten, sich von seiner Abwesenheit offenbar nicht beirren lassen?
Verwundeter Demonstrant | Quelle: faramarz
Für Beobachter von Außerhalb ist es sehr schwer, alle Aspekte der Situation in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen, und das Ergebnis sind Vereinfachungen vor den unterschiedlichsten Hintergründen. Einem besonders elementaren Merkmal der Ereignisse wurde bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt: Die Demonstranten tragen grün. Grüne Armbänder, grüne Bandanas etc. Grün, die Farbe des Islam, damit transportieren sie eine sehr deutliche Botschaft, der sich im ganzen Land vereinzelt auch hochrangige Geistliche angeschlossen haben: Keiner hier ist gegen den Islam, sagen sie damit, im Gegenteil.
Aber eine Mehrheit scheint gegen das zu sein, was seit dreißig Jahren im islamischen Mäntelchen verpackt propagiert wird: Reine Machtpolitik und festgefahrene, autoritäre Verhältnisse. Worum es geht ist, die verschiedensten Interessen mit der Sehnsucht nach Freiheit zu vereinen. Wenn man dieser Tage mit Exiliranern spricht, trifft man auf hohe Anspannung. Viele sind erinnert an die verstörenden Bilder einer brutalen Staatsmacht, vor der sie größtenteils vor mehreren Jahrzehnten geflohen sind. Sie sind besorgt um die Menschen, die in Iran auf die Straße gehen, sie verbinden aber auch große Hoffnung mit ihnen, denn vor welchem Hintergrund auch immer: Zu sehen sind Menschen, die sich wehren; die genug haben von der obrigkeitsstaatlichen Gängelung.
Information und Wirkung
Während die iranische Regierung mit allen Mitteln versucht, die Kraft der Protestbewegung zu verheimlichen, versuchen die Medien anderer Länder aller möglichen politischen Ausrichtungen, ihre eigenen Sehnsüchte und Vorstellungen oder die Botschaften, die sie transportieren möchten, auf diese Protestbewegung zu projizieren. Eine Protestbewegung, die maßgeblich auch davon lebt, dass sie sich ihre Öffentlichkeit selbst erschaffen kann – mit den Mitteln die das Web 2.0 bereitstellt.
Der Versuch der iranischen Staatsmedien, die Ereignisse totzuschweigen, ist dadurch zum Scheitern verurteilt. Die Menschen nehmen das Heft selbst in die Hand, indem sie mit der Handykamera draufhalten, dokumentieren und auf vielschichtige Weise Geschichte schreiben. Die Medien als vierte Gewalt im Staat, sie erhalten in diesen Tagen neuen Auftrieb. Aber eben nicht durch die unzähligen etablierten und/oder neuen Redaktionen, sondern durch die direkte und unmittelbare Berichterstattung der Betroffenen.
Wo sämtliche Medien sich zu objektiver Berichterstattung unfähig oder unwillig zeigen, kann der Medienkonsument nur noch ausweichen, indem er direkt an die Quelle geht. Heute kann er das. Auch da erfährt er nicht alles. Auch da ist er nicht gänzlich vor Manipulation geschützt. Aber er kann sich informieren, ohne gezwungenermaßen durch die mannigfaltig gefärbte Brille eines Berichterstatters zu schauen, dem die eigene Meinung wichtiger ist als das reine und möglichst sachliche Informieren seines Rezipienten…
(GW)
Online-Flyer Nr. 202 vom 21.06.2009