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Arbeit und Soziales
Wir werden alles selber machen müssen (4)
„Zeit des Zorns“
Von Jutta Ditfurth

„Der Kapitalismus ist schon im Normalzustand eine Katastrophe für Mensch und Natur. Es gibt ihn nicht ohne Profit und nicht ohne Ausbeutung“, hieß es - gestützt auf Karl Marx - in unserer Rezension von Jutta Ditfurths Streitschrift “Zeit des Zorns“ (s. NRhZ Nr.199). Inzwischen sind wir weit über den Normalzustand hinaus. Jammern hilft da aber nicht. Es gibt viel zu tun. Was und wie? Einige Antworten gibt Jutta Ditfurth im letzten Kapitel mit der Überschrift “Wir werden alles selber machen müssen“, mit dessen Veröffentlichung wir hier beginnen. Sie will den Zorn, den die Krise auslöst, zu neuen Bündnissen nützen. - Die Redaktion

NRhZ-Archiv 
Das Gift des Nationalismus ist in Deutschland immer virulent. Es wird gern gespritzt, wenn dem Kapitalismus Gefahr droht. Dann entwickelt sich die Ideologie der »nationalen Schicksalsgemeinschaft«, und auf einmal – hast du nicht gesehen? – gibt es keine sozialen Klassen mehr und keine internationale Solidarität. Es wird unterstellt, dass ausgerechnet der kapitalistische deutsche Staat eine fürsorgliche, auf das Wohl aller Deutschen – vor allem der schwächsten – ausgerichtete Institution ist. Der Arbeitslose in England, der Wanderarbeiter in China, die Gewerkschafterin in Venezuela, der revoltierende Jugendliche in Griechenland – alle rücken plötzlich weit weg. Dem national berauschten Deutschen ist sein deutscher Kapitalist näher als ein Mensch ähnlicher sozialer Lage, der wie der Zufall der Geburt es so will, in einem anderen Teil Welt aufgewachsen ist.
 
Einmal mit Pomp und Fahnen Mitglied der nationalen Schicksalsgemeinschaft geworden, wird die Opfer- und Verzichtsbereitschaft des deutschen Untertanen größer. Dafür verspricht – zurzeit auch seine gläubigsten Anhänger nur schwer überzeugend – der Staat dann ja auch scheinbaren Schutz: vor größeren Schicksalsschlägen, vor Fremden, vor Veränderungen und anderen »Sicherheits«-Problemen. Wirklich wertvolle Grundwerte wie soziale Gleichheit aller Menschen, Freiheit von Ausbeutung, Erniedrigung, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus, Solidarität über alle nationalen Grenzen hinweg und eine umfassende gesellschaftliche Emanzipation hat die Nation niemals im Angebot. Ganz besonders nicht die deutsche, die nicht mal ein Recht auf »résistance« kennt.
 
Was ist »deutsch« außer einem Zufall der Geburt? Wie absurd und armselig ist die Identifikation mit einer Nation? Und dann mit dieser. Das Deutsche Reich wurde auf dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 gegründet, den Bismarck angezettelt hatte, um unter preußischer Führung die Großmacht zu errichten. Im Krieg brannten deutsche Truppen französische Städte nieder und töteten mit Vorliebe Zivilisten, die es wagten, sich gegen die Eindringlinge zu wehren. Sie belagerten Paris, die Menschen hungerten und aßen Ratten. Zur Demütigung Frankreichs ließ sich Kaiser Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles krönen. Vier Jahre vorher, auf der Weltausstellung in Paris, hatten sich die Pariser über die preußischen Exponate lustig gemacht: eine Kruppsche Kanone und ein überlebensgroßes Reiterstandbild des preußischen Königs. Die siegreichen deutschen Armeen lagen noch vor der Stadt, als im März 1871 in Paris eine Revolution ausbrach: die Kommune.
 
Die »sozialen Maßregeln« dieser ersten proletarischen Revolution sind bis heute nicht verwirklicht. Die soziale Gleichheit der Menschen, die Emanzipation der Frau, direkte Demokratie und jederzeitige Rechenschaftspflicht und Abwählbarkeit der Räte, die aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse zu bestehen hatten. Die Kommune schaffte die Guillotine ab und die politische Polizei. Beamte hatten kein höheres Einkommen als Arbeiter. Betriebe wurden von kooperativen Arbeiterassoziationen geführt. Das Bildungswesen war offen für alle. Staat und Kirche waren endlich getrennt und Religion Privatsache. Die Kunst war frei und die Todesstrafe verboten. Die katastrophale Gutmütigkeit der Kommune bestand erstens darin, die Bank von Frankreich nicht zu enteignen, so dass die geflohene Regierung sich finanzieren konnte, und zweitens darin, nicht nach Versailles marschiert zu sein, um die Revolution auch militärisch abzusichern. Auch als die Niederlage absehbar war, kämpften so viele Männer, Frauen und Kinder an den Barrikaden, dass an einer Stelle zwanzigtausend Regierungssoldaten volle drei Stunden benötigten, um eine Straße zu erobern.
 
Die deutschen Generäle beobachteten vom Stadtrand den Bürgerkrieg und das brennende Paris mit Vergnügen, einer schrieb nach Berlin: »Es (ist) himmlisch, daß sie nun selbst das heilige Paris zu bombardieren anfangen.«(311) Auf den Straßen und den Treppen von Montmartre stapelten sich die Leichen von Kindern, Frauen und Männern. Das neue Deutsche Reich half der französischen Regierung, die Revolution niederzuschlagen. Der Funke sollte nicht nach Deutschland fliegen. »Daß nach dem gewaltigsten Krieg der neuern Zeit die siegreiche und die besiegte Armee sich verbünden zum gemeinsamen Abschlachten des Proletariats – ein so unerhörtes Ereignis« beweise, schreibt Marx, »die nationalen Regierungen sind eins gegenüber dem Proletariat!«(312) Wir können das als frühen Kommentar zur EU lesen.
 
Die Lehren aus der »Gutmütigkeit« der Pariser Kommune wurden gezogen – mit wenig Erfolg 1918/19 in Deutschland, mit umso größerem 1917 in Russland und während des Faschismus in der französischen Résistance. Die fünf Milliarden Goldfrancs Kriegsbeute von 1871 finanzierten die reichsdeutschen Gründerjahre, das war gleichsam der erste Versailler Vertrag. Auf den Krieg von 1870/71 folgten zwei von Deutschland angezettelte Weltkriege, dazwischen Kolonialkriege in Afrika und China, Sozialistenverfolgung, Freikorps und Putsch, Judenvernichtung und NS-Faschismus.313 Worauf also stolz sein?
 
Von der Kommune bis zur Novemberrevolution von 1918/19, deren Scheitern den NS-Faschismus vorbereiten half, dauerte es 47 Jahre, seit der Befreiung vom Faschismus haben wir 64 Jahre hinter uns, seit der Revolte von »68« vierzig. Niemand von uns weiß, was genau auch nur die nächsten zehn Jahre bringen, an Krieg, Elend oder auch Hoffnung.
 
Um das große Ziel zu erreichen, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, wie Karl Marx es formuliert, haben wir, angesichts der Weltlage, künftig etwas mehr zu tun als bisher. Einerseits. Andererseits werden die herrschende Ordnung und ihre Ideologie soeben auf unberechenbare Weise erschüttert. Die ersten Risse in der Gesellschaft sehen wir. Nur keine Angst, was haben wir zu verlieren, wir können die Instabilität nutzen. Organisieren wir Proteste und Aktionen, bevor der Beton die Risse wieder verschließt. In die irritierten Köpfe hinein werfen wir die Widerhaken unserer rebellischen Gedanken, bevor die mörderische alte Ordnung sie erneut zuschmiert.
 
Ein paar Lektionen sollten nach ein paar hundert Jahren endlich klar sein: Der Kapitalismus ist durch Reformen nicht in eine humane Gesellschaft zu überführen. Die sozialen Interessen der Menschen können niemals in einer Gesellschaft entfaltet werden, in der gleichzeitig das Kapital seinen Verwertungsinteressen nachgehen kann, wie Gregor Gysi uns glauben machen möchte, um seiner Partei eine Existenzberechtigung zu geben.(314) Denn diese Kapitalinteressen sind unzähmbar, sie sind eine mörderische Maschine, die den Menschen und die Natur verschlingt. Sie dulden neben sich nicht den freien und gleichen Menschen!

Eine gerechte Gesellschaft ist keine, in der die Gerechtigkeit bloß darin besteht, dass ein Hartz-IV-Empfänger bei Wahlen genauso viele Stimmen hat wie ein Konzernchef, denn der kann anders auf den Staat Einfluss nehmen und brauchte die Wahlstimme eigentlich nicht. Eine gerechte Gesellschaft ist auch keine, in der für beide vor Gericht die gleichen Paragraphen gelten. Ihre ungleiche soziale Lage macht sie natürlich auch vor der bürgerlichen Justiz ungleich. Gesellschaftliche Reputation und einen erstklassigen Anwalt besitzen Stützeempfänger eher selten.
 
Also keine Gerechtigkeit bei ungleicher sozialer Lage und auch keine Freiheit. Eine Gesellschaft von Freien und Gleichen anzustreben ist keine moralische Frage. Es macht sehr viel glücklicher, in einer Welt zu leben, die nicht von Hass, sozialer Gewalt und Not durchsetzt ist. Eine Gesellschaft, in der Kinder nicht früh gebrochen und zu ängstlichen, selbstwertlosen, unfreien Menschen gemacht werden. Es ist die schönste vorstellbare Utopie, in einer Welt zu leben, in der alle Menschen, die geboren werden, die Chance haben, ihr ganzes soziales, intellektuelles und kreatives Potenzial frei zu entfalten.
 
In 500 Jahren kapitalistischer Entwicklung ist einiges an Fortschritt für den Menschen abgefallen. Oft aber ambivalente Fortschritte, weil sie ja nicht angestrebt und finanziert wurden, um dem Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Der Schiffsbau für Krieg und Handel hat die Wälder Südeuropas vernichtet. Die Forschung für die militärische Eroberung des Weltraums wirft ein paar Konsumgüter ab wie Brosamen vom Tisch der Reichen. Wäre all der Reichtum an Ressourcen, Wissenschaft und Technologie mit dem Ziel eingesetzt worden, das Leben der Menschen zu verbessern, wie viel anders würde die Welt heute aussehen.
 
500 Jahre Kapitalismus bedeuten 500 Jahre Fortschritt und zugleich Ruin des möglichen Fortschritts. Unbestritten sei der Fortschritt, den die Medizin uns gebracht hat, aber die Lage aller Menschen betrachtet, wäre sauberes Wasser in ausreichender Menge ein größerer gesundheitlicher Fortschritt als Hochtechnologie für wenige und Verdursten für so viele. Wie wäre es, wenn alle Menschen Zugang zu beidem hätten? Nur mit dem Kapitalismus und seiner internationalen Arbeitsteilung geht auch das nicht, weil der einer Minderheit die Vorteile verschafft, während er zugleich die Mehrheit der anderen schädigt.
 
So ist ein menschenwürdiges Leben für alle nur in einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit und Kapital vorstellbar, wenn die Banken überflüssig geworden sind und das Geld keine Rolle mehr spielt, wenn die innere Qualität der Ware entscheidet und das Design sekundär ist, wenngleich nicht belanglos. Also wenn in einer Gesellschaft Gebrauchsgüter gefertigt werden, die nicht von der Profitlogik deformiert sind und deren Herstellung nicht asketisch-zwanghaft von einer bürokratischen Kommandowirtschaft wie dem sogenannten Realsozialismus reguliert wird sowie ohne das grenzenlose Wachstum des kapitalistischen Wirtschaftens mit seinem Zwang zu Profit, Konsum, Konkurrenz und unsozialer Leistung.
 
Und wie kommen wir dahin? Es gilt der alte Dreiklang: Theorie, Aktion, Organisation. Nach geschlagenen Schlachten – wie nach der APO, nach den Massenstreiks, nach der Anti-AKW-Bewegung, nach der Frauenbewegung, nach der Friedensbewegung, nach der Hausbesetzerbewegung, nach den letzten wirklichen gewerkschaftlichen Kämpfen, nach dem Aufblühen der antifaschistischen Bewegung – kommt meist ein Wellental, eine große Erschöpfung. Soziale Kämpfe haben nun mal solche Verlaufsformen. Manche Menschen steigen dann aus und bilden sich ein, alles sei vorbei. Dabei ist es die Zeit zum Atemholen, zur Analyse, zur Vorbereitung des nächsten Angriffs.
 
Oder wie der Schriftsteller Dietmar Dath sagt: »Aber der Zerfall von Bewegungen tritt immer dann ein, wenn ein Anlauf genommen wurde und dieser an den herrschenden Verhältnissen abprallt. Die Lähmung ist das Resultat der jüngsten Niederlagen. Man kann dasselbe bei Marx sehen: Wann fängt er an, Das Kapital zu schreiben? Im Kommunistischen Manifest ist die Überzeugung, dass Europa alsbald umgestaltet werde, noch mit Händen zu greifen. Doch dann passiert das eben nicht. Also hat er sich noch einmal in die Bibliothek gesetzt und aufs Neue versucht, alles zu verstehen. Mal wird angegriffen, mal ausgewertet. So geht Denken.«(315)
 
Es gibt kein Ende der Geschichte. Die gewalttätigen kapitalistischen Verhältnisse, der Widerspruch von Kapital und Arbeit, werden Widerstand produzieren, solange es Menschen gibt. Die wirklich interessante Frage ist nur: Von welcher Qualität ist der Widerstand? Wie viel wissen die Widerstehenden von der Geschichte sozialer Kämpfe und von dem zerstörerischen Potenzial des Kapitalismus? Haben sie das Wellental der Bewegung, die Ruhe vor dem nächsten Sturm, die Zeit ohne täglichen Aktionismus genutzt, um klüger zu werden? Um die Entwicklung der Gesellschaft genau zu beobachten? Neues zu entwerfen? Sich im besten Sinne rücksichtslos und erkenntnisfördernd miteinander zu streiten?
 
Wer glaubte, nach der letzten Revolte käme nichts mehr, wer die eigene Biographie mit der Zeitgeschichte verwechselt hat und ausgestiegen ist und heute die Welt nicht mehr ganz versteht, der hat eben ein kleines Problem und muss nacharbeiten. Ungleich ist unser Stand ohnehin, nicht nur sozial. Denn da es kein klassisches »revolutionäres Subjekt« in Gestalt einer von gleichen Arbeits- und Lebensbedingungen geformten Arbeiterklasse mehr gibt, sondern viele verschiedene revolutionäre Subjekte in national wie weltweit höchst unterschiedlichen Lebenslagen und -phasen, haben wir alle ungleiche Ausgangsvoraussetzungen. Darin liegen auch viele Chancen: Weiter ausholende soziale Erfahrungen kommen zusammen und ein hoffentlich offenerer Blick auf die Welt. Aber es gibt auch ein paar Komplikationen, was die Frage der Organisierung angeht.
 
Theorie, Aktion, Organisation: Zunächst also die Anstrengung der Kopfarbeit. Die Selbstdisziplin und Geduld, den eigenen Verstand zu strukturieren. Theoretisch arbeiten, lesen, denken. Aber wer das auf Dauer tut, ohne die Füße in politischer Praxis zu haben, läuft Gefahr, Hofnarr oder Elfenbeinturmbewohner zu werden. Was ist schlimmer? Er oder sie wird ungefährlich und von Angehörigen der besitzenden Klasse vereinnahmbar. Und ist es nicht eine sehr anregende Vorstellung, dass der Mensch ein so vielseitig begabtes, auch sinnliches Wesen ist, dass er besser denkt und lernt, wenn er auch praktisch kämpft (und umgekehrt)?
 
Dann gibt es die, die politische Praxis und Aktionen lieben, die das Machen gut können, mit einigem technischen und sportlichen Geschick, ohne allzu viel Angst und mit taktischer Phantasie. Ihr Problem kann sein, dass sich, ganz ohne Theorie, ohne Kenntnis der Geschichte, ohne Kopfarbeit eben, die eingesetzte Kraft verflüchtigen und ziellos werden kann. Denn ihr Besitzer mag festen Boden unter sich spüren, kennt den historischen Grund aber nicht, auf dem er steht. Ganz abgesehen von der ärgerlichen Möglichkeit, bei theorieblindem oder sektiererischem Aktionismus allzu leicht kriminalisiert zu werden. Oder bei falscher politischer Praxis an Bürokratie zu ersticken.
 
Also Theorie und Praxis. Aber mit wem und in welchem organisatorischen Rahmen? Klar ist: An Bündnisse sind verbindliche inhaltliche Anforderungen zu stellen. Darunter geht gar nichts. Es gibt das alte reformistische Argument, dass man »auf die Menschen zugehen muss«, sie abholen muss an jeder Bushaltestelle. Das klingt nur nett. Aber eine interventionsfähige emanzipatorische politische Bewegung ist kein eingetragener Verein von Sozialarbeitern. In der Geschichte der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften hat der Spruch vom »Abholen« immer die Ausrede geliefert, sich opportunistisch dem Mainstream zu unterwerfen. War der Arbeiter rassistisch, hatte man Verständnis. War die Arbeiterin national gesinnt, galt das nicht als Streitfall, sondern als Anknüpfungspunkt.
 
Unter heutigen Bedingungen könnte das auch heißen, sich in end- und sinnlosen Gesprächen mit Bild-Zeitungs-Lesern, BWL-Studenten und neoliberalen Journalisten zu verzetteln. Auf »die Menschen« zugehen ist richtig, sofern es bedeutet, Erkenntnisse zu vermitteln, an ihre soziale Lage anzuknüpfen, ungewohnte und radikale Gedanken populär zu vermitteln und sich in emanzipatorischer Absicht auseinanderzusetzen. Mit Menschen anderer Herkunft zu reden, das müssen einige Linke noch lernen.
 
Für die kommenden Kämpfe nützt uns keine qualitätslose Masse, die sich mal einen Tag auf dem Marktplatz versammelt, mit Fähnchen winkt, Glühwein trinkt und sich zählen lässt. Aber nichts ist gegen eine politisierte Masse von Menschen einzuwenden, die sich lernend wehrt und vielerlei Aktionen kennt.
 
Es geht um die politische Qualität der kommenden sozialen Auseinandersetzung. Wir sollten nicht unterschlagen, dass wir das Ziel haben, den Kapitalismus abzuschaffen. Das muss Konsens sein. Die Bewegung, die dort hinführt, ist kein Selbstzweck und keine Party (Partys gibt es zusätzlich). Diese Ausein­andersetzung ist ein Prozess, dessen Verlauf wir noch nicht kennen. Manche Rahmenbedingungen ändern sich gerade. Unsere Schritte in diesem Prozess müssen wir miteinander aushandeln. Einige Bedingungen sind fest.
 
Wir haben das Recht, uns gegen die Demütigung, Ausbeutung und Vernichtung von Menschen und gegen die Zerstörung der Natur zu wehren. Das ist unverhandelbar. Für Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Nationalismus ist kein Platz. Gewalt ist, wo immer möglich, zu vermeiden. Aus prinzipiellen Gründen, denn die Methoden der politischen Ausein­andersetzung sollten von unseren Grundwerten getragen sein. In einer durch und durch gewalttätigen Gesellschaft aber wird »Gewaltlosigkeit« nicht immer möglich sein, sofern wir keine Opfer sein wollen. Allerdings ist unsere Definition von Gewalt eine andere als die derjenigen, die sich heute das Gewaltmonopol anmaßen und ihre Interessen weltweit überhaupt nur mit Gewalt durchsetzen – mit struktureller Gewalt, mit sozialer Gewalt, mit ökonomischer Gewalt, mit polizeilicher und militärischer Gewalt.
 
Auf einem Plakat an der Wand meines Zimmers, als ich in Glasgow lebte, stand: »Streik ist Gewalt. Ohne Streik kein Acht-Stunden-Tag.« Und nicht nur der. Alle sozialen Rechte, die wir heute verteidigen müssen, sind Resultate von oft blutigen Auseinandersetzungen. Auf das pharisäerhafte Gerede von der furchtbaren Gewalt, die zum Beispiel in Betriebsbesetzungen oder Blockaden gegen Militärmanöver liege, kann man den guten Bürgern, die nicht mal wissen, woher ihre Privilegien kommen, gut mit Dietmar Dath antworten: »Die bürgerliche Demokratie hat auch ein paar Anläufe gebraucht. Zunächst mal ist sie in Frankreich im Blut ersoffen, alle haben sich gegenseitig geköpft.«(316)
 
Wenn man sich überlegt, wie viel Schweiß und Blut, wie viel Verachtung, Prügel und Gefängnisfolter Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts auf sich nahmen, nicht, um sich soziale Gleichheit, sondern nur, um sich das Wahlrecht zu erkämpfen! Wie groß die Anstrengung, wie klein der Erfolg, misst man ihn am Grundanliegen der Gleichheit. »Humanismus auf Erden, jener schwere Versuch einer Vereinigung von Vernunft und lebendigem Herzschlag, Vereinigung von Freiheit und Gleichheit, fällt uns nicht in den Schoß. Widerstand und Ungehorsam im Kampf um eine humane Welt fordert Schweiß, Tränen und Blut«, sagte Fritz Bauer kurz vor seinem Tod.(317) Natürlich war der Kampf der Suffragetten richtig und bewundernswert. Aber über hundert Jahre später haben wir nicht einmal gleichen Lohn für gleiche Arbeit, sondern alte und neue Ungleichheiten und modernere Formen der Sklaverei. (PK)
 
(311)General von Pape schrieb am 26.4.1871 nach Berlin, in: Helmut Swoboda (Hrsg.): Die Pariser Kommune 1871, München: dtv dokumente 1972, S. 198/199
(312)Karl Marx: »Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation«, in: MEW, Band 17, Berlin (DDR): Dietz Verlag 1983, S. 360/361
(313)Sammelquelle zur Pariser Kommune (Auswahl): Karl Marx: »Der Bürgerkrieg in Frankreich«, a. a. O., S. 313–365; Prosper Lissagaray: Geschichte der Kommune von 1871, Frankfurt/Main: edition suhrkamp 1971; Helmut Swoboda (Hrsg.): Die Pariser Kommune 1871, München: dtv dokumente 1972; Steward Edwards (Hrsg.): The Communards of Paris – 1871, New York: Cornell University Press 1973; P. L. Lavrov: Die Pariser Kommune vom 18. März 1871, Berlin: Rotbuch Verlag 1971; Alistair Horne: The Fall of Paris. The Siege and the Kommune 1870–71, New York: St. Martin’s Press 1966; Sebastian Haffner: »Die Pariser Kommune. Ein Prolog zum 20. Jahrhundert«, in: ders./Stephan Hermlin/Kurt Tucholsky u. a.: Zwecklegenden. Die SPD und das Scheitern der Arbeiterbewegung, Berlin: Verlag 1900 1996
(314)»Es ist Aufgabe einer sozialistischen Partei, diese Elemente zu stabilisieren gegen neoliberale Angriffe, sie auszubauen, bis an die Stelle der Dominanz der Kapitalverwertungsinteressen die Dominanz der sozialen Interessen der Menschen tritt. Es darf also Kapitalverwertungsinteressen geben, sie dürfen nur nicht dominieren.« Gregor Gysi, interviewt von Andrea Dernbach und Matthias Meisner, in: Tagesspiegel v. 26.12.1999
(315)»Schreiben, wie die Welt sein sollte«, Interview mit Dietmar Dath, in: Der Spiegel 5/2009
(316)Ebd.
(317)Fritz Bauer, ebd.
 
Jutta Ditfurth "Zeit des Zorns - Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft". Droemer Verlag München 2009, 267 Seiten, 16,95 €, ISBN 978-3-426-27504-7.
 
Jutta Ditfurth, Jahrgang 1951, ist Soziologin, Publizistin und aktiv in der außerparlamentarischen Linken. Sie war Mitbegründerin der Grünen, von 1984 bis 1988 deren Bundesvorsitzende. 1991 trat sie aus wegen deren Marsch nach rechts aus der Partei aus. Dazu ihr Buch “Das waren die Grünen. Abschied von einer Hoffnung“, Econ, München 2000. Lesenswert auch ihr Interview in der Monatszeitschrift konkret 6/09.
 
Lesungstermine, soweit bekannt:
 
Mo. 7.9.2009, 19:30 Uhr FRANKFURT/M., Lesung & Diskussion über »Zeit des Zorns«, Club Voltaire, Kleine Hochstr. 5, Eintritt: 9 Euro/ ermässigt: 6 Euro/ Hartz IV: 1 Euro.
 
Mi. 7.10.2009, Uhrzeit?, STUTTGART. Anlässlich des 75. Geburtstags von Ulrike Meinhof: Lesung & Diskussion zu »Ulrike Meinhof. Die Biografie«,Theaterhaus Stuttgart, Siemensstr. 11, 70469 Stuttgart
 
Mo. 26.10.2009 GIESSEN, Lesung & Diskussion über »Zeit des Zorns«. Ort: Altes Schloss, Netanya-Saal. Veranstalterin: Die Frauenbeauftragte, Magistrat der Stadt Gießen. MitveranstalterInnen: ASTA und die Frauenbeauftragte der Justus-Liebig-niversität. Eintritt: 10 Euro/ 5 Euro
 
Do. 19.11.2009, 10:00-16:00 Uhr, Frankfurt/Main, GEW-Seminar zu »ZEIT DES ZORNS«. Veranstaltungsort vermutlich: GEW Landesverband Hessen, Zimmerweg 12, 60325 Frankfurt am Main, Telefon: 069 / 97 12 93 - 0, Fax: 069 / 97 12 93 93. Vorherige Anmeldung notwendig: anmeldung@lea-bildung.de. Weitere infos: www.lea-bildung.de.
 
Sa. 28.11.2009, 15:00 Uhr, NÜRNBERG, Lesung & Diskussion über »Zeit des Zorns, Linke Literaturmesse Nürnberg,
 
Di. 8.12.2009, BREMERHAVEN, Lesung und Diskussion über »ZEIT DES ZORNS. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft«
 
Mehr siehe: www.jutta-ditfurth.de

Online-Flyer Nr. 205  vom 08.07.2009



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