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Arbeit und Soziales
Zur staatspolitischen Dimension der Hartz-IV-Reform
Die Organisierung des sozialen Krieges (1/3)
Von Michael Wolf
„Wenn wir garantieren, daß jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen.“ (Friedrich A. Hayek)
...
„Der Sozialstaat wird nach und nach, ebenso unablässig wie konsequent, in einen ‚Besatzungsstaat’ umgewandelt […] – einen Staat, der zunehmend die Interessen globaler, transnational operierender Unternehmen schützt, während er zugleich den Grad der Repression und Militarisierung an der Heimatfront steigert. 1)“ (Zygmunt Bauman)
Epilog I: Arbeitslosenbilder im Wandel
Schon immer ist Arbeitslosigkeit Gegenstand politischer Kämpfe und öffentlicher Dispute gewesen – und dies hinsichtlich wenigstens zweier Momente. Das erste Moment ist bezogen auf die Frage nach der Existenz von Arbeitslosigkeit, thematisiert also deren Definition und Verursachung. Das heißt, es fragt danach, was unter Arbeitslosigkeit zu verstehen ist und von wem, den Käufern oder den Verkäufern von Arbeitskraft, Arbeitslosigkeit verursacht wird. Indem es die Frage nach der Bewertung von Arbeitslosigkeit aufwirft, ist das zweite Moment hingegen normativer Art. Von zentraler Bedeutung ist hier, ob Arbeitslosigkeit positiv oder negativ konnotiert und damit in der Konsequenz als ein Problem begriffen wird, das gesellschaftlich und politisch als inakzeptabel gilt und deswegen beseitigt oder doch zumindest entschärft werden soll. Dieser eigentlich recht triviale Sachverhalt, daß Arbeitslosigkeit nicht ‚an sich’ existiert, sondern sozial konstruiert und definiert wird, wenn auch mit Rückbezug auf ‚objektive’ soziale Phänomene 2) , führt dazu, daß erst im politischen Prozeß auf der Basis von Machtstrukturen und gegensätzlichen Interessenlagen in einem stets prekären und instabilen Interessenkompromiß entwickelt und selektiv festgelegt wird, ob überhaupt und in welcher Art und Weise Arbeitslosigkeit auf der politischen Agenda als Gegenstand erscheint. 3)
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß – je nach Zeitgeist – nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch die Arbeitslosen selbst unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden.4) Als Mitte der 1970er Jahre die Arbeitslosigkeit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Millionengrenze überschritt und sich deren Verstetigung auf hohem Niveau allmählich abzuzeichnen begann 5), galten die meisten Arbeitslosen als „echte Arbeitslose mit einem schweren Schicksal“ (Uske 1995: 216), denen die Politik durch Maßnahmen zur Wiederherstellung von Vollbeschäftigung zu helfen suchte. Gut 30 Jahre später hat sich der Blick auf Menschen ohne Arbeit gewandelt.
Waren vormals die ‚unechten’ Arbeitslosen, das heißt die Arbeitslosen, von denen angenommen wird, daß sie eigentlich arbeiten könnten, es aber nicht wollten 6) und statt dessen lieber Transfereinkommen beziehen, eine Minderheit, der die ‚echten’ Arbeitslosen gegenüberstanden, rückten nunmehr in Politik und Medien und zunehmend auch in der Wissenschaft die Arbeitslosen als Menschen in den Vordergrund, denen es nicht an Arbeit fehle, sondern die etwas erhielten, das ihnen an und für sich nicht zustünde: nämlich staatliche Unterstützungsleistungen. Die Folgen hiervon seien desaströs, weil sie bei den Betroffenen Passivität fördere und Eigenaktivität mindere 7) , so daß diese sich letztlich mit ihrer „nicht sehr komfortablen, aber erträglichen“ (Kocka 2006) materiellen Situation abfänden und eine Art und Weise der Lebensführung herausbildeten (mit der der ‚anständige’ Bürger partout nichts zu tun haben will) weil sie unzivilisiert sei und eine Bedrohung der bürgerlichen Werteordnung mit ihren Sekundärtugenden wie Fleiß, Ordentlichkeit, Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Beständigkeit darstelle.
Plakat: arbeiterfotografie.com
Daß die veränderte Wahrnehmung der Arbeitslosen in der seit etwa dem Jahr 2004 forciert geführten Debatte über die „neue Unterschicht“ 8) kulminierte, deren „einziger Ehrgeiz oft im professionellen Mißbrauch von Sozialleistungen“ bestehe, so Draxler (2006) in einem Bild-Kommentar Vorurteile produzierend und reproduzierend, verwundert daher nicht. Im Gegenteil. Liest man diese Debatte als ein diskursives Element des Projektes der neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft, so läßt sie sich mühelos als klassenpolitische Komplementärdebatte zur sozialpolitischen Mißbrauchsdebatte begreifen, die vom seinerzeitigen Bundeskanzler Gerhard Schröder mit den Worten „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!“ (Schröder 2001) im April 2001 angezettelt wurde und die ihren vorerst letzten traurigen Höhepunkt im Mai 2005 fand, als in einer unsäglichen, vom vormaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement gewissermaßen regierungsamtlich zu verantwortenden und bis heute andauernden Mißbrauchskampagne Arbeitslose in einem als „Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005“ bezeichneten Pamphlet pauschal der „Abzocke“ (BMWA 2005: passim) bezichtigt und expressis verbis als „Parasiten“ (ebd.: 10) bezeichnet wurden.
Unter Berufung auf den BMWA-Report hetzte sodann im Herbst des gleichen Jahres zunächst das Boulevardblatt Bild, Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung, unter der Überschrift „Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer! … und wir müssen zahlen“ gegen hilfebedürftige Arbeitslose, die auf den Bezug von Arbeitslosengeld II zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind. Eine Woche später griff der Spiegel mit der Titelgeschichte „Hartz IV: Das Spiel mit den Armen. Wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt“ das Thema auf in dem für ihn typischen ‚seriösen Stil’ für ‚gehobene Leserschichten’. Seither hat die Thematik auf der Tagesordnung der Medien einen prominenten Stellenwert eingenommen, wofür neben der TV-Serie „Sozialfahnder“ des kommerziellen Senders SAT.1 die im Frühjahr und Herbst des Jahres 2008 erneut von Bild inszenierte Hetze gegen Arbeitslose spricht, mit der diese nicht nur für ihr Schicksal, arbeitslos zu sein, selbst verantwortlich gemacht, sondern auch pauschal bezichtigt wurden, sich „vor der Arbeit zu drücken“, sprich ‚arbeitsscheu’ zu sein, und den „Staat zu bescheißen“.
Nun weiß, zumindest ahnungsweise, ein jeder, selbst der sogenannte ‚kleine Mann’ von der Straße, daß den Aussagen lügen- oder dummheitsträchtiger Sinnsysteme wie denen der Politik oder der Medien hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts nur bedingt Glauben zu schenken ist. Für die Wissenschaft als eines mit Nachdruck um Wahrheit bemühten Sinnsystems gilt diese Skepsis in besonderer Weise, so sie nicht zur Magd irgendwelcher Interessen verkommen ist. Das heißt, daß Wissenschaft, die man mit Elias als „Mythenjägerin“ bezeichnen kann (vgl. Elias 1981: 51ff.), aufgefordert ist, die in einer Gesellschaft vorherrschenden Kollektivvorstellungen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verwerfen, wie sehr sie sich auch auf irgendwelche vermeintlichen Autoritäten zu stützen vermögen. Wenn sie dies mit Blick auf den Sozialleistungsmißbrauch und diejenigen tut, die ihn begehen, dann ist sie zunächst mit dem Sachverhalt konfrontiert, daß zwischen der Realität des Sozialleistungsmißbrauchs und seiner öffentlichen Thematisierung eine erhebliche Diskrepanz existiert, der es im folgenden nachzuspüren gilt (III).
Ist die benannte Diskrepanz erst einmal als Ausdruck einer Inszenierung und Dramatisierung erkannt, wirft dies nahezu zwangsläufig die Frage nach dem Warum beziehungsweise dem Cui bono der Dramatisierung des Sozialleistungsmißbrauchs auf. Dieser wird gewöhnlich, so auch hier, auf der Ebene der ‚Oberflächenstruktur’ nachgegangen (IV). Allerdings sollte Wissenschaft bei der Analyse des in Rede stehenden Problems sich damit nicht begnügen, sondern versuchen, zu dessen ‚Tiefenstruktur’ vorzudringen (V). Bevor ein solcher Versuch im folgenden unternommen wird, scheint es angezeigt, den Ausführungen einige Bemerkungen zu der Vokabel ‚Schmarotzer’ vorwegzuschicken, da sie beziehungsweise deren mit ‚sozial’ gebildetes Kompositum sowohl in der Debatte über die „neue Unterschicht“ als auch in der über den Sozialleistungsmißbrauch mit besonderer Vorliebe als Schmähwort im politischen Machtkampf benutzt wird (II).
Sozialschmarotzer 2009: „Italienischer Abend"
Bild/Montage: H.-D. Hey, gesichter zei(ch/g)en
Epilog II: kleine Parasitologie
Wenn Sprache Denken zu dessen Schaden verführt, so liegt dies weniger an der Sprache, sondern mehr an dem Denken, das dumm genug ist, sich verführen zu lassen. Dieser Einsicht folgend, ist man stets gut beraten, einen kritisch reflektierten Umgang mit Sprache zu pflegen, das heißt, sich der Mühe des zweiten Blicks zu unterziehen. Dies steht mit Bezug auf die Vokabel ‚Schmarotzer’, bei der es sich bekanntlich um eine Verdeutschung von ‚Parasit’ handelt, auch hier an, um deutlich zu machen, daß a) ‚Parasit’ ursprünglich eine neutrale Bedeutung besaß, daß b) es kein Leben ohne Parasiten gibt und daß c) es eine Frage der Perspektive ist, wer eigentlich ein Parasit ist.
Ad a) Ursprünglich, das heißt zu Zeiten der attischen Demokratie, bezeichnete man mit ‚Parasit’ einen von der Gemeinde gewählten hochgeachteten Beamten, der an der Seite (pará) des Priesters am Opfermahl teilnahm und mit diesem gemeinsam Speisen (sĩtos) einnahm. Erst später erhielt die zunächst wertfreie Bedeutung ‚Tischgenosse’ (parasitus) einen abwertenden Beigeschmack: Aus dem wegen seiner Verdienste um das Gemeinwesen auf Staatskosten gespeisten Mann wurde die Figur des ungebetenen Gastes, der sich als Schmeichler auf Kosten seines Wirtes eine freie Mahlzeit zu verschaffen suchte. 9) Im Sinne des ‚auf Kosten anderer leben’ wird die Vokabel bis heute gebraucht, wobei allerdings die Formen, in denen Parasiten beziehungsweise Schmarotzer vorkommen, entsprechend der jeweiligen Kultur, Wirtschaftsweise und Herrschaftsordnung verschieden sind. Sie erstrecken sich vom ‚Energieparasitismus’, das heißt dem Aufbrauchen fossiler Energievorräte zu Lasten künftiger Generation, über den ‚Bevölkerungsparasitismus’, das heißt dem explosiven Wachstum der Weltbevölkerung auf Kosten anderer Lebewesen, bis hin zum ‚Sozialparasitismus’, der uns in der Figur des „Sozialschnorrers“ (Schmölders 1973) beziehungsweise des „Sozialschmarotzers“ entgegentritt, der im allgemeinen als eine Person begriffen wird, die sich Einkommensvorteile verschafft durch den Bezug von wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsleistungen, ohne daß diesen Leistungen eine entsprechende Gegenleistung gegenübersteht. 10)
Ad b) Spätestens mit dem Einzug des Begriffs des Parasiten in die Naturwissenschaften und der Entstehung einer eigenen Disziplin, der Parasitologie, zeigte sich, daß es kein Leben ohne Parasiten gibt. Im biologischen Sinne ist ein Parasit ein Lebewesen, das sich bei seinem Wirt aufhält, mit diesem allerdings nicht wie ein Symbiont in einer Symbiose, das heißt zum gegenseitigen Nutzen lebt, ihn aber auch nicht wie ein Raubtier tötet und verzehrt, sondern sich von ihm nur auf eine Art und Weise ernährt, die sicherstellt, daß dieser zumindest nicht kurzfristig zugrunde geht. Mit anderen Worten: Ein Parasit schädigt seinen Wirt, ohne ihn im allgemeinen zu töten. Es gibt Parasiten unter den Bakterien, den Pflanzen, den Tieren – und selbstredend auch unter den Menschen. In Anspielung auf Hobbes´ „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“ (Hobbes 1966: 59) 11) veranlaßte dies Serres zu dem Bonmot: „Der Mensch ist des Menschen Laus.“ (Serres 1987: 14) Bedauerlicherweise hat die Erkenntnis, daß es kein parasitenfreies Leben gibt, nicht wesentlich die Einsicht befördert, daß die Verwirklichung des Traums von absoluter Reinheit etwas Totalitäres an sich hat und letztlich den Tod allen Lebens nach sich zieht, obwohl dies jedem seit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Idee von der Reinheit der Rasse und deren barbarischen Folgen klar sein müßte. 12)
Ad c) Wenn menschliche Parasiten als Personen betrachtet werden, die von den Früchten anderer schmarotzen, dann ist unklar, wer eigentlich von dieser Charakterisierung betroffen ist. Zwar sind im massenmedial geprägten Bild der öffentlichen Meinung es zumeist diejenigen, die ein Einkommen beziehen, ohne hierfür arbeiten zu müssen, nämlich die ‚unechten’ Arbeitslosen: die „Arbeitsunwilligen“, „Drückeberger“, „Faulenzer“, „Müßiggänger“, die „Sozialschmarotzer“ eben. Für Saint-Simon, den Frühsozialisten, und viele andere in seiner Nachfolge 13) war indes klar, daß dieses Bild eine „verkehrte Welt“ darstelle, weil diejenigen, die damit betraut sind, die öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten, die eigentlichen, wirklichen Parasiten seien. Denn sie beraubten die am „wenigsten Begüterten eines Teiles des Notwendigsten“, um den Reichtum der Reichen zu vermehren, und sie seien beauftragt, die „kleinen Vergehen gegen die Gesellschaft unter Strafe zu stellen“. Mit einem Wort: Die „unmoralischsten Menschen sind berufen, die Bürger zur Tugend zu erziehen, und die großen Frevler sind bestimmt, die Vergehen der kleinen Sünder zu bestrafen.“ (Saint-Simon 1970: 162) So gesehen dienen projektive Parasitenvorwürfe, ganz nach dem Motto „Haltet den Dieb!“, auch dem Verschleiern der Frage, wer eigentlich wen ausnutzt und mißbraucht.
Wenn also, soviel sollte selbst bei den wenigen Hinweisen deutlich geworden sein, Vorsicht geboten und Nachdenken angezeigt ist beim Aufscheinen der Vokabel ‚Parasit’ im politischen Sprachgebrauch, dann gewinnt unter Umständen auch der „Sozialschmarotzer“ und das Ausmaß des ihm von Politik und Medien angelasteten Sozialleistungsmißbrauchs eine etwas andere Kontur. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, sich dem Phänomen des Sozialleistungsmißbrauchs detaillierter zuzuwenden. (HDH)
______________________________
1) Der Beitrag greift Gedanken auf und vertieft und verbreitert sie, die im Rahmen der von Business Crime Control durchgeführten Konferenz zum Thema „Arbeits-Unrecht in Deutschland. Arbeit und Arbeitslosigkeit in der Krise des Neoliberalismus“ am 14. März 2009 in Köln unter dem Titel „Der gewollte Feind. Die Geburt des ‚Sozialschmarotzers’ aus dem Geiste des Staatsrassismus“ vorgetragen und in der NRhZ – Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 189 vom 18. März 2009 veröffentlicht wurden. Eingeflossen sind darüber hinaus Überlegungen, die bereits im Vorgriff auf die Konferenz unter dem Titel „’Sozialschmarotzer’. Stichworte zur politischen Funktion eines Feindbilds“ in der NRhZ – Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 182 vom 28. Januar 2009 veröffentlicht worden sind.
2) Dahinter steht die Vorstellung, wie sie etwa von Berger/Luckmann (1980) vertreten wird, daß Gesellschaft sowohl als objektive Faktizität wie auch als subjektiv gemeinter Sinn existiert.
3) Vgl. hierzu auch Offes „Modell der Thematisierung politischer Probleme“ (Offe 1975: 158ff.).
4) Zur Rekonstruktion der öffentlichen Wahrnehmung und Thematisierung nicht mit Bezug auf Arbeitslosigkeit, sondern Armut in vier Jahrzehnten Bundesrepublik Deutschland vgl. Leisering (1993: 490ff.).
5) Zur Geschichte der Arbeitslosigkeit vgl. das Buch von Niess (1982) mit dem gleichnamigen Titel.
6) Mit Uske (1995: 41ff.) wäre zu ergänzen: Zu den ‚unechten’ Arbeitslosen gehören nicht nur diejenigen, die nicht arbeiten wollen (die „Arbeitsunwilligen“ und „Faulenzer“), sondern auch jene, die nicht arbeiten können (die vom Standpunkt ihrer Verwertbarkeit aus unbrauchbaren Arbeitskräfte), sowie jene, die vom Standpunkt der moralischen Berechtigung aus nicht arbeiten dürfen wie etwa die Frauen als „Zubrotverdierinnen“ oder Ausländer.
7) Hinsichtlich der Tafeln und Suppenküchen (vgl. hierzu namentlich Selke 2008; i.E.) kommt Ernste vom wirtschaftsnahen Institut der Deutschen Wirtschaft zu der Einschätzung, deren Kernproblem bestehe darin, „daß Menschen längerfristig die Fähigkeit verlieren, für sich selber zu sorgen. Das heißt, daß sie fast wie bei einer Fütterung in der freien Wildbahn, man falsch erzogen wird, man selber nicht mehr in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, also bildlich gesprochen jagen zu gehen und für sich selber zu sorgen, sondern immer stärker angewiesen wird auf diese Hilfe.“ (Ernste, D.; zit. nach: Svehla/Simon 2009)
8) Als Stichwortgeber der Debatte gilt gemeinhin Nolte (2004); zur Kritik an dessen „’kulturalistischen’ Klassentheorie“ vgl. vor allem die Beiträge in Kessl et al. (2007).
9) Die Argumentation folgt hier Enzensberger (2001), der den wundersamen, zwischen Natur und Kultur hin- und herpendelnden Zickzackweg der Vokabel ‚Parasit’ kenntnisreich nachzeichnet. Vgl. ferner die Beiträge in Kaltenbrunner (1981a) sowie Serres (1987), der die zweistellige Parasit-Wirt-Beziehung in eine dreistellige Wirt-Parasit-Störer-Beziehung überführt, wobei die Störung nicht eindeutig negativ ist, da sie sowohl schwächen, durch die Provokation von Abwehrkräften aber auch stärken kann.
10) Im soziologischen Sinne ist die Vokabel ‚Sozialschmarotzer’ insofern tautologisch, als menschliche Schmarotzer immer in einem sozialen Verhältnis wirken. Wenn hier aber von ‚Sozialschmarotzer’ die Rede ist, dann bezieht sich diese Vokabel nur auf den Bereich des Mißbrauchs sozialer Transferleistungen wie z.B. Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe.
11) Hobbes hat der Sentenz in der politischen Sprache der Neuzeit zwar ihren prominenten Rang verschafft, ihren Ursprung hat sie aber in der Antike bei Plautus.
12) Unverkennbar ist hier die Parallele zur Idee der Prävention, die in ihren Konsequenzen repressiv, totalitär und autoritär ist, sofern sie die von ihr gesetzten Ziele wirklich erreichen will, nämlich bestimmte, als negativ bewertete Zustände, seien sie verhältnis-, seien sie verhaltensbedingt, in der Zukunft nicht eintreten zu lassen.
13) Von etwa Lenin, der jene Personen anprangert, die „vom ‚Kouponschneiden’ leben, […] Personen derenBeruf der Müßiggang ist“ (Lenin 1960: 281), über Veblens (1986) „Theorie der feinen Leute“ bis hin zu Arnim, wobei gerade der Letztgenannte es sich gewissermaßen zur Aufgabe gemacht, das Problem des Zugriffs der herrschenden politischen Klasse auf den Staat als einer „Maschine der Ausplünderung“ (Pareto, V.; zit. nach: Hirschman 1995: 63) in konkurrenzdemokratisch verfaßten Gesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland öffentlich zu thematisieren, wovon die Titel seiner Bücher „Der Staat als Beute“ (1993), „Der Staat sind wir!’“ (1995) beredt Auskunft geben.
Online-Flyer Nr. 207 vom 22.07.2009
Zur staatspolitischen Dimension der Hartz-IV-Reform
Die Organisierung des sozialen Krieges (1/3)
Von Michael Wolf
„Wenn wir garantieren, daß jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen.“ (Friedrich A. Hayek)
...
„Der Sozialstaat wird nach und nach, ebenso unablässig wie konsequent, in einen ‚Besatzungsstaat’ umgewandelt […] – einen Staat, der zunehmend die Interessen globaler, transnational operierender Unternehmen schützt, während er zugleich den Grad der Repression und Militarisierung an der Heimatfront steigert. 1)“ (Zygmunt Bauman)
Epilog I: Arbeitslosenbilder im Wandel
Schon immer ist Arbeitslosigkeit Gegenstand politischer Kämpfe und öffentlicher Dispute gewesen – und dies hinsichtlich wenigstens zweier Momente. Das erste Moment ist bezogen auf die Frage nach der Existenz von Arbeitslosigkeit, thematisiert also deren Definition und Verursachung. Das heißt, es fragt danach, was unter Arbeitslosigkeit zu verstehen ist und von wem, den Käufern oder den Verkäufern von Arbeitskraft, Arbeitslosigkeit verursacht wird. Indem es die Frage nach der Bewertung von Arbeitslosigkeit aufwirft, ist das zweite Moment hingegen normativer Art. Von zentraler Bedeutung ist hier, ob Arbeitslosigkeit positiv oder negativ konnotiert und damit in der Konsequenz als ein Problem begriffen wird, das gesellschaftlich und politisch als inakzeptabel gilt und deswegen beseitigt oder doch zumindest entschärft werden soll. Dieser eigentlich recht triviale Sachverhalt, daß Arbeitslosigkeit nicht ‚an sich’ existiert, sondern sozial konstruiert und definiert wird, wenn auch mit Rückbezug auf ‚objektive’ soziale Phänomene 2) , führt dazu, daß erst im politischen Prozeß auf der Basis von Machtstrukturen und gegensätzlichen Interessenlagen in einem stets prekären und instabilen Interessenkompromiß entwickelt und selektiv festgelegt wird, ob überhaupt und in welcher Art und Weise Arbeitslosigkeit auf der politischen Agenda als Gegenstand erscheint. 3)
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß – je nach Zeitgeist – nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch die Arbeitslosen selbst unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden.4) Als Mitte der 1970er Jahre die Arbeitslosigkeit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Millionengrenze überschritt und sich deren Verstetigung auf hohem Niveau allmählich abzuzeichnen begann 5), galten die meisten Arbeitslosen als „echte Arbeitslose mit einem schweren Schicksal“ (Uske 1995: 216), denen die Politik durch Maßnahmen zur Wiederherstellung von Vollbeschäftigung zu helfen suchte. Gut 30 Jahre später hat sich der Blick auf Menschen ohne Arbeit gewandelt.
Waren vormals die ‚unechten’ Arbeitslosen, das heißt die Arbeitslosen, von denen angenommen wird, daß sie eigentlich arbeiten könnten, es aber nicht wollten 6) und statt dessen lieber Transfereinkommen beziehen, eine Minderheit, der die ‚echten’ Arbeitslosen gegenüberstanden, rückten nunmehr in Politik und Medien und zunehmend auch in der Wissenschaft die Arbeitslosen als Menschen in den Vordergrund, denen es nicht an Arbeit fehle, sondern die etwas erhielten, das ihnen an und für sich nicht zustünde: nämlich staatliche Unterstützungsleistungen. Die Folgen hiervon seien desaströs, weil sie bei den Betroffenen Passivität fördere und Eigenaktivität mindere 7) , so daß diese sich letztlich mit ihrer „nicht sehr komfortablen, aber erträglichen“ (Kocka 2006) materiellen Situation abfänden und eine Art und Weise der Lebensführung herausbildeten (mit der der ‚anständige’ Bürger partout nichts zu tun haben will) weil sie unzivilisiert sei und eine Bedrohung der bürgerlichen Werteordnung mit ihren Sekundärtugenden wie Fleiß, Ordentlichkeit, Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Beständigkeit darstelle.
Plakat: arbeiterfotografie.com
Daß die veränderte Wahrnehmung der Arbeitslosen in der seit etwa dem Jahr 2004 forciert geführten Debatte über die „neue Unterschicht“ 8) kulminierte, deren „einziger Ehrgeiz oft im professionellen Mißbrauch von Sozialleistungen“ bestehe, so Draxler (2006) in einem Bild-Kommentar Vorurteile produzierend und reproduzierend, verwundert daher nicht. Im Gegenteil. Liest man diese Debatte als ein diskursives Element des Projektes der neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft, so läßt sie sich mühelos als klassenpolitische Komplementärdebatte zur sozialpolitischen Mißbrauchsdebatte begreifen, die vom seinerzeitigen Bundeskanzler Gerhard Schröder mit den Worten „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!“ (Schröder 2001) im April 2001 angezettelt wurde und die ihren vorerst letzten traurigen Höhepunkt im Mai 2005 fand, als in einer unsäglichen, vom vormaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement gewissermaßen regierungsamtlich zu verantwortenden und bis heute andauernden Mißbrauchskampagne Arbeitslose in einem als „Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005“ bezeichneten Pamphlet pauschal der „Abzocke“ (BMWA 2005: passim) bezichtigt und expressis verbis als „Parasiten“ (ebd.: 10) bezeichnet wurden.
Unter Berufung auf den BMWA-Report hetzte sodann im Herbst des gleichen Jahres zunächst das Boulevardblatt Bild, Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung, unter der Überschrift „Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer! … und wir müssen zahlen“ gegen hilfebedürftige Arbeitslose, die auf den Bezug von Arbeitslosengeld II zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind. Eine Woche später griff der Spiegel mit der Titelgeschichte „Hartz IV: Das Spiel mit den Armen. Wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt“ das Thema auf in dem für ihn typischen ‚seriösen Stil’ für ‚gehobene Leserschichten’. Seither hat die Thematik auf der Tagesordnung der Medien einen prominenten Stellenwert eingenommen, wofür neben der TV-Serie „Sozialfahnder“ des kommerziellen Senders SAT.1 die im Frühjahr und Herbst des Jahres 2008 erneut von Bild inszenierte Hetze gegen Arbeitslose spricht, mit der diese nicht nur für ihr Schicksal, arbeitslos zu sein, selbst verantwortlich gemacht, sondern auch pauschal bezichtigt wurden, sich „vor der Arbeit zu drücken“, sprich ‚arbeitsscheu’ zu sein, und den „Staat zu bescheißen“.
Nun weiß, zumindest ahnungsweise, ein jeder, selbst der sogenannte ‚kleine Mann’ von der Straße, daß den Aussagen lügen- oder dummheitsträchtiger Sinnsysteme wie denen der Politik oder der Medien hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts nur bedingt Glauben zu schenken ist. Für die Wissenschaft als eines mit Nachdruck um Wahrheit bemühten Sinnsystems gilt diese Skepsis in besonderer Weise, so sie nicht zur Magd irgendwelcher Interessen verkommen ist. Das heißt, daß Wissenschaft, die man mit Elias als „Mythenjägerin“ bezeichnen kann (vgl. Elias 1981: 51ff.), aufgefordert ist, die in einer Gesellschaft vorherrschenden Kollektivvorstellungen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verwerfen, wie sehr sie sich auch auf irgendwelche vermeintlichen Autoritäten zu stützen vermögen. Wenn sie dies mit Blick auf den Sozialleistungsmißbrauch und diejenigen tut, die ihn begehen, dann ist sie zunächst mit dem Sachverhalt konfrontiert, daß zwischen der Realität des Sozialleistungsmißbrauchs und seiner öffentlichen Thematisierung eine erhebliche Diskrepanz existiert, der es im folgenden nachzuspüren gilt (III).
Ist die benannte Diskrepanz erst einmal als Ausdruck einer Inszenierung und Dramatisierung erkannt, wirft dies nahezu zwangsläufig die Frage nach dem Warum beziehungsweise dem Cui bono der Dramatisierung des Sozialleistungsmißbrauchs auf. Dieser wird gewöhnlich, so auch hier, auf der Ebene der ‚Oberflächenstruktur’ nachgegangen (IV). Allerdings sollte Wissenschaft bei der Analyse des in Rede stehenden Problems sich damit nicht begnügen, sondern versuchen, zu dessen ‚Tiefenstruktur’ vorzudringen (V). Bevor ein solcher Versuch im folgenden unternommen wird, scheint es angezeigt, den Ausführungen einige Bemerkungen zu der Vokabel ‚Schmarotzer’ vorwegzuschicken, da sie beziehungsweise deren mit ‚sozial’ gebildetes Kompositum sowohl in der Debatte über die „neue Unterschicht“ als auch in der über den Sozialleistungsmißbrauch mit besonderer Vorliebe als Schmähwort im politischen Machtkampf benutzt wird (II).
Sozialschmarotzer 2009: „Italienischer Abend"
Bild/Montage: H.-D. Hey, gesichter zei(ch/g)en
Epilog II: kleine Parasitologie
Wenn Sprache Denken zu dessen Schaden verführt, so liegt dies weniger an der Sprache, sondern mehr an dem Denken, das dumm genug ist, sich verführen zu lassen. Dieser Einsicht folgend, ist man stets gut beraten, einen kritisch reflektierten Umgang mit Sprache zu pflegen, das heißt, sich der Mühe des zweiten Blicks zu unterziehen. Dies steht mit Bezug auf die Vokabel ‚Schmarotzer’, bei der es sich bekanntlich um eine Verdeutschung von ‚Parasit’ handelt, auch hier an, um deutlich zu machen, daß a) ‚Parasit’ ursprünglich eine neutrale Bedeutung besaß, daß b) es kein Leben ohne Parasiten gibt und daß c) es eine Frage der Perspektive ist, wer eigentlich ein Parasit ist.
Ad a) Ursprünglich, das heißt zu Zeiten der attischen Demokratie, bezeichnete man mit ‚Parasit’ einen von der Gemeinde gewählten hochgeachteten Beamten, der an der Seite (pará) des Priesters am Opfermahl teilnahm und mit diesem gemeinsam Speisen (sĩtos) einnahm. Erst später erhielt die zunächst wertfreie Bedeutung ‚Tischgenosse’ (parasitus) einen abwertenden Beigeschmack: Aus dem wegen seiner Verdienste um das Gemeinwesen auf Staatskosten gespeisten Mann wurde die Figur des ungebetenen Gastes, der sich als Schmeichler auf Kosten seines Wirtes eine freie Mahlzeit zu verschaffen suchte. 9) Im Sinne des ‚auf Kosten anderer leben’ wird die Vokabel bis heute gebraucht, wobei allerdings die Formen, in denen Parasiten beziehungsweise Schmarotzer vorkommen, entsprechend der jeweiligen Kultur, Wirtschaftsweise und Herrschaftsordnung verschieden sind. Sie erstrecken sich vom ‚Energieparasitismus’, das heißt dem Aufbrauchen fossiler Energievorräte zu Lasten künftiger Generation, über den ‚Bevölkerungsparasitismus’, das heißt dem explosiven Wachstum der Weltbevölkerung auf Kosten anderer Lebewesen, bis hin zum ‚Sozialparasitismus’, der uns in der Figur des „Sozialschnorrers“ (Schmölders 1973) beziehungsweise des „Sozialschmarotzers“ entgegentritt, der im allgemeinen als eine Person begriffen wird, die sich Einkommensvorteile verschafft durch den Bezug von wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsleistungen, ohne daß diesen Leistungen eine entsprechende Gegenleistung gegenübersteht. 10)
Ad b) Spätestens mit dem Einzug des Begriffs des Parasiten in die Naturwissenschaften und der Entstehung einer eigenen Disziplin, der Parasitologie, zeigte sich, daß es kein Leben ohne Parasiten gibt. Im biologischen Sinne ist ein Parasit ein Lebewesen, das sich bei seinem Wirt aufhält, mit diesem allerdings nicht wie ein Symbiont in einer Symbiose, das heißt zum gegenseitigen Nutzen lebt, ihn aber auch nicht wie ein Raubtier tötet und verzehrt, sondern sich von ihm nur auf eine Art und Weise ernährt, die sicherstellt, daß dieser zumindest nicht kurzfristig zugrunde geht. Mit anderen Worten: Ein Parasit schädigt seinen Wirt, ohne ihn im allgemeinen zu töten. Es gibt Parasiten unter den Bakterien, den Pflanzen, den Tieren – und selbstredend auch unter den Menschen. In Anspielung auf Hobbes´ „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“ (Hobbes 1966: 59) 11) veranlaßte dies Serres zu dem Bonmot: „Der Mensch ist des Menschen Laus.“ (Serres 1987: 14) Bedauerlicherweise hat die Erkenntnis, daß es kein parasitenfreies Leben gibt, nicht wesentlich die Einsicht befördert, daß die Verwirklichung des Traums von absoluter Reinheit etwas Totalitäres an sich hat und letztlich den Tod allen Lebens nach sich zieht, obwohl dies jedem seit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Idee von der Reinheit der Rasse und deren barbarischen Folgen klar sein müßte. 12)
Ad c) Wenn menschliche Parasiten als Personen betrachtet werden, die von den Früchten anderer schmarotzen, dann ist unklar, wer eigentlich von dieser Charakterisierung betroffen ist. Zwar sind im massenmedial geprägten Bild der öffentlichen Meinung es zumeist diejenigen, die ein Einkommen beziehen, ohne hierfür arbeiten zu müssen, nämlich die ‚unechten’ Arbeitslosen: die „Arbeitsunwilligen“, „Drückeberger“, „Faulenzer“, „Müßiggänger“, die „Sozialschmarotzer“ eben. Für Saint-Simon, den Frühsozialisten, und viele andere in seiner Nachfolge 13) war indes klar, daß dieses Bild eine „verkehrte Welt“ darstelle, weil diejenigen, die damit betraut sind, die öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten, die eigentlichen, wirklichen Parasiten seien. Denn sie beraubten die am „wenigsten Begüterten eines Teiles des Notwendigsten“, um den Reichtum der Reichen zu vermehren, und sie seien beauftragt, die „kleinen Vergehen gegen die Gesellschaft unter Strafe zu stellen“. Mit einem Wort: Die „unmoralischsten Menschen sind berufen, die Bürger zur Tugend zu erziehen, und die großen Frevler sind bestimmt, die Vergehen der kleinen Sünder zu bestrafen.“ (Saint-Simon 1970: 162) So gesehen dienen projektive Parasitenvorwürfe, ganz nach dem Motto „Haltet den Dieb!“, auch dem Verschleiern der Frage, wer eigentlich wen ausnutzt und mißbraucht.
Wenn also, soviel sollte selbst bei den wenigen Hinweisen deutlich geworden sein, Vorsicht geboten und Nachdenken angezeigt ist beim Aufscheinen der Vokabel ‚Parasit’ im politischen Sprachgebrauch, dann gewinnt unter Umständen auch der „Sozialschmarotzer“ und das Ausmaß des ihm von Politik und Medien angelasteten Sozialleistungsmißbrauchs eine etwas andere Kontur. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, sich dem Phänomen des Sozialleistungsmißbrauchs detaillierter zuzuwenden. (HDH)
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1) Der Beitrag greift Gedanken auf und vertieft und verbreitert sie, die im Rahmen der von Business Crime Control durchgeführten Konferenz zum Thema „Arbeits-Unrecht in Deutschland. Arbeit und Arbeitslosigkeit in der Krise des Neoliberalismus“ am 14. März 2009 in Köln unter dem Titel „Der gewollte Feind. Die Geburt des ‚Sozialschmarotzers’ aus dem Geiste des Staatsrassismus“ vorgetragen und in der NRhZ – Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 189 vom 18. März 2009 veröffentlicht wurden. Eingeflossen sind darüber hinaus Überlegungen, die bereits im Vorgriff auf die Konferenz unter dem Titel „’Sozialschmarotzer’. Stichworte zur politischen Funktion eines Feindbilds“ in der NRhZ – Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 182 vom 28. Januar 2009 veröffentlicht worden sind.
2) Dahinter steht die Vorstellung, wie sie etwa von Berger/Luckmann (1980) vertreten wird, daß Gesellschaft sowohl als objektive Faktizität wie auch als subjektiv gemeinter Sinn existiert.
3) Vgl. hierzu auch Offes „Modell der Thematisierung politischer Probleme“ (Offe 1975: 158ff.).
4) Zur Rekonstruktion der öffentlichen Wahrnehmung und Thematisierung nicht mit Bezug auf Arbeitslosigkeit, sondern Armut in vier Jahrzehnten Bundesrepublik Deutschland vgl. Leisering (1993: 490ff.).
5) Zur Geschichte der Arbeitslosigkeit vgl. das Buch von Niess (1982) mit dem gleichnamigen Titel.
6) Mit Uske (1995: 41ff.) wäre zu ergänzen: Zu den ‚unechten’ Arbeitslosen gehören nicht nur diejenigen, die nicht arbeiten wollen (die „Arbeitsunwilligen“ und „Faulenzer“), sondern auch jene, die nicht arbeiten können (die vom Standpunkt ihrer Verwertbarkeit aus unbrauchbaren Arbeitskräfte), sowie jene, die vom Standpunkt der moralischen Berechtigung aus nicht arbeiten dürfen wie etwa die Frauen als „Zubrotverdierinnen“ oder Ausländer.
7) Hinsichtlich der Tafeln und Suppenküchen (vgl. hierzu namentlich Selke 2008; i.E.) kommt Ernste vom wirtschaftsnahen Institut der Deutschen Wirtschaft zu der Einschätzung, deren Kernproblem bestehe darin, „daß Menschen längerfristig die Fähigkeit verlieren, für sich selber zu sorgen. Das heißt, daß sie fast wie bei einer Fütterung in der freien Wildbahn, man falsch erzogen wird, man selber nicht mehr in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, also bildlich gesprochen jagen zu gehen und für sich selber zu sorgen, sondern immer stärker angewiesen wird auf diese Hilfe.“ (Ernste, D.; zit. nach: Svehla/Simon 2009)
8) Als Stichwortgeber der Debatte gilt gemeinhin Nolte (2004); zur Kritik an dessen „’kulturalistischen’ Klassentheorie“ vgl. vor allem die Beiträge in Kessl et al. (2007).
9) Die Argumentation folgt hier Enzensberger (2001), der den wundersamen, zwischen Natur und Kultur hin- und herpendelnden Zickzackweg der Vokabel ‚Parasit’ kenntnisreich nachzeichnet. Vgl. ferner die Beiträge in Kaltenbrunner (1981a) sowie Serres (1987), der die zweistellige Parasit-Wirt-Beziehung in eine dreistellige Wirt-Parasit-Störer-Beziehung überführt, wobei die Störung nicht eindeutig negativ ist, da sie sowohl schwächen, durch die Provokation von Abwehrkräften aber auch stärken kann.
10) Im soziologischen Sinne ist die Vokabel ‚Sozialschmarotzer’ insofern tautologisch, als menschliche Schmarotzer immer in einem sozialen Verhältnis wirken. Wenn hier aber von ‚Sozialschmarotzer’ die Rede ist, dann bezieht sich diese Vokabel nur auf den Bereich des Mißbrauchs sozialer Transferleistungen wie z.B. Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe.
11) Hobbes hat der Sentenz in der politischen Sprache der Neuzeit zwar ihren prominenten Rang verschafft, ihren Ursprung hat sie aber in der Antike bei Plautus.
12) Unverkennbar ist hier die Parallele zur Idee der Prävention, die in ihren Konsequenzen repressiv, totalitär und autoritär ist, sofern sie die von ihr gesetzten Ziele wirklich erreichen will, nämlich bestimmte, als negativ bewertete Zustände, seien sie verhältnis-, seien sie verhaltensbedingt, in der Zukunft nicht eintreten zu lassen.
13) Von etwa Lenin, der jene Personen anprangert, die „vom ‚Kouponschneiden’ leben, […] Personen derenBeruf der Müßiggang ist“ (Lenin 1960: 281), über Veblens (1986) „Theorie der feinen Leute“ bis hin zu Arnim, wobei gerade der Letztgenannte es sich gewissermaßen zur Aufgabe gemacht, das Problem des Zugriffs der herrschenden politischen Klasse auf den Staat als einer „Maschine der Ausplünderung“ (Pareto, V.; zit. nach: Hirschman 1995: 63) in konkurrenzdemokratisch verfaßten Gesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland öffentlich zu thematisieren, wovon die Titel seiner Bücher „Der Staat als Beute“ (1993), „Der Staat sind wir!’“ (1995) beredt Auskunft geben.
Online-Flyer Nr. 207 vom 22.07.2009